S. Rampe: Telemann und seine Zeit

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Titel
Georg Philipp Telemann und seine Zeit.


Autor(en)
Rampe, Siegbert
Reihe
Große Komponisten und ihre Zeit
Erschienen
Laaber 2017: Laaber-Verlag
Anzahl Seiten
569 S.
Preis
€ 44,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Margret Scharrer, Universität des Saarlandes, Saarbrücken

Unbestritten ist, dass Georg Philipp Telemann neben Georg Friedrich Händel und Johann Sebastian Bach zu den herausragenden deutschsprachigen Komponisten des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts gehört. Während etwa Bach und Händel bereits seit dem 19. Jahrhundert mit umfangreichen Biographien bedacht wurden, ließ eine detaillierte Beschreibung des Lebens und Schaffens über Telemann lange auf sich warten. Siegbert Rampes Darstellung ist die erste große Monographie, die das Leben und Werk des Komponisten ausführlich in den Blick nimmt und zusätzlich ein Werkverzeichnis sowie die Texte der vier Autobiographien des Komponisten mitliefert.

Wer eine wissenschaftliche Biographie verfasst, sieht sich nicht erst in der heutigen Zeit mit einigen Problemen konfrontiert, da diese Art der Darstellung innerhalb der Geisteswissenschaften immer wieder hinterfragt wurde, so auch in der Musikwissenschaft. Guido Adler – einer der Gründerväter der Musikwissenschaft – gestand ihr sogar nur den Rang einer ‚Hilfswissenschaft‘ zu.1 Hinzu kommt, dass die historische Musikwissenschaft das traditionelle Verständnis einer Musikgeschichte, die sich als eine Folge von Werken herausragender Komponisten schreiben lässt, inzwischen sehr stark hinterfragt. In den letzten Jahren hat die Biographik jedoch eine gewisse Rehabilitation erfahren; begünstigt durch ein neues Interesse an einer ‚anderen‘ Musikgeschichte jenseits der großen Meister. Vor allem für die Erforschung des 17. und 18. Jahrhunderts rücken Musikerbiographien wieder verstärkt ins Zentrum, wobei unterschiedliche methodische Zugangsweisen geprobt werden.2 Auch die Telemannforschung hat dazu ihren Beitrag geleistet.3

Die Serie „Große Komponisten und ihre Zeit", in deren Rahmen Rampes Monographie veröffentlicht wurde, will eigentlich ebenfalls nicht als eine bloße Fortsetzung der Leben- und Werkbeschreibung im Stil des 19. Jahrhunderts verstanden werden. Alle Bände dieser Reihe werden von einer Chronik eröffnet, die die Lebensstationen des Komponisten sowie zeit- und musikhistorische Entwicklungen nach einzelnen Jahren getrennt wiedergibt.

Die Telemann-Chronik umfasst in der vorliegenden Publikation rund 90 Seiten und ist nicht nur hinsichtlich ihres Formats leserunfreundlich, sondern auch inhaltlich überbordend. Denn obwohl es sich um ein schlaglichtartiges Wiedergabeverfahren handelt, wird in der Auflistung in ganzen Sätzen und nicht in Stichpunkten verfahren. Leserunfreundlich ist zudem, dass sämtliche Angaben ohne Hervorhebungen fortlaufend notiert sind. Auch birgt die Chronik teils die Gefahr einer bloßen ‚Ereigniszusammenstellung‘, in die sich schnell Fehler einschleichen.4 Deutliches Gewicht wird hinsichtlich der musikgeschichtlichen Daten auf das musikdramatische Repertoire gelegt. Zuweilen fragt man sich ferner, warum verschiedene historische Ereignisse überhaupt ausgewählt wurden, da sie mit Telemanns Leben nicht in direkter Verbindung stehen.5 Eine Zuspitzung auf die Lebensumstände des Komponisten wäre wünschenswert gewesen, da es tatsächlich aufwändig ist, diverse Darstellungen zur Stadt- oder Residenzgeschichte der unterschiedlichen Aufenthaltsorte des Komponisten für Überblickszwecke einzusehen.

Während im Rahmen der „Komponisten-Serie“ im zweiten Teil sonst ausgewählte Aspekte des Werkes und Lebens gesondert in den Blick genommen werden, weicht Rampes Telemann-Biographie von diesem Modell ab. Der Chronik schließt sich eine das Leben und Werk betrachtende Biographie im traditionellen Sinne an. Eröffnet wird dieser Teil von einem Kapitel, das sich speziell den vier Autobiographien des Komponisten widmet. Die unterschiedlichen autobiographischen Texte und ihre Entstehungshintergründe werden – soweit erfassbar – vorgestellt. Rampe weist darauf hin, dass sich Telemann hier stellenweise immer wieder korrigiert und ihm Fehler bei der Angabe einzelner Jahreszahlen unterlaufen, die in den sich anschließenden Kapiteln diskutiert werden. Wünschenswert wäre hier eine allgemeine Reflektion der Quellengattung gewesen. Dass autobiographisches Schreiben unter besonderen Umständen geschieht und dieses wiederum die Darstellung erheblich prägt, ist von der historischen wie literaturwissenschaftlichen Forschung hinlänglich diskutiert worden. Zudem präsentierte sich Telemann mit diesen Schriftstücken in der Öffentlichkeit, was Rampe kaum problematisiert. Die Wertung etwa, dass „insbesondere die Autobiographie von 1718 mit ihren zahlreichen fremdsprachigen Zitaten ein außerordentliches Zeugnis für Telemanns Bildung und Sprachbegabung“ (S. 107) ist, greift vor diesem Hintergrund zu kurz.

Nach diesem einleitenden Kapitel werden dann die verschiedenen Lebensstationen des Komponisten im Einzelnen fortlaufend beschrieben und auf das kompositorische Œuvre eingegangen. Angesichts des wahrlich riesigen kompositorischen Schaffens ist dies eine Herausforderung, die Rampe gut strukturiert angeht. Er gewährt einen umfangreichen Überblick und Einblick in das Schaffen des Komponisten auf unterschiedlichsten Ebenen und weist auf Forschungs- und Editionsdesiderate hin. Dies betrifft auch die sozialgeschichtlichen Hintergründe und Zusammenhänge, die für Telemanns Wirken in professioneller und privater Hinsicht entscheidend waren. Immer wieder kommt der Komponist selbst zu Wort. Auch Zeitzeugen werden ausführlich zitiert. Da die Autobiographien im Anhang nochmals komplett abgedruckt werden, hätten manche der langen Zitate entweder verkürzt zitiert oder vom Autor zusammengefasst wiedergegeben werden können. Dies belangt ebenso die umfangreichen Auflistungen der Kompositionsreihen, da der Anhang das Werkverzeichnis enthält. Einzelne werkanalytische Aspekte treten in dieser Darstellung zugunsten der Präsentation des Gesamtwerks in den Hintergrund.

Der Teil „Leben und Werk“ schließt mit einem kurzen Kapitel zu „Nachlass und Nachwelt“, das sich u.a. mit der Überlieferung der Werke, dem Telemann-Bild rezeptionsgeschichtlich zwischen dem 18. und dem 21. Jahrhundert auseinandersetzt und die neueren bis neusten Arbeiten der Telemannforschung nennt. Die Ausführungen zu den unterschiedlichen bildlichen Darstellungen des Komponisten greifen viel zu kurz und hätten eine ausführlichere ikonographische Betrachtung vor dem Hintergrund der Porträtmalerei des 18. Jahrhunderts erfordert.

Grundsätzlich problematisch ist, dass der Autor das Schreiben von Biographien nicht reflektiert. Er weist im Vorwort darauf hin, dass die Sichtweise auf die Musikgeschichte des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts nach wie vor durch die zu starke Fokussierung auf Bach geprägt ist und somit in der Tradition des 19. Jahrhunderts steht (S. 8f.). Seine Darstellung soll dem Komponisten Telemann, der in seiner Zeit doch viel erfolgreicher und berühmter als der Leipziger Thomaskantor gewesen sei, endlich zu seinem Recht verhelfen, seinen Platz in der Musikgeschichte einzunehmen, und zu einer Neubewertung führen. Aufhorchen lassen dabei Feststellung wie: „Man spricht generell von der Bach-Zeit, wo doch eigentlich Telemann gemeint sein müsste […]“ (S. 8) oder: „Das bedeutet freilich nicht, dass man Telemann nicht mit Bach vergleichen könne, sondern dass es in Wirklichkeit Bach ist, der den Vergleich mit Telemanns Maximen nicht aushält.“ (S. 9) Vor allem die Aufwertung gegenüber Bach zieht sich wie ein Kontinuum durch das ganze Buch (siehe z.B. S. 126 oder S. 229). Aber auch mit weiteren berühmten Komponistenkollegen wird Telemann verglichen, um seine herausragenden Fähigkeiten zu unterstreichen. Alles in Allem entspricht diese Darstellungsweise dem Stil einer wenig reflektierten ‚Heroenmusikgeschichte‘. Rampe präsentiert Telemann seinen Lesern als einen Komponisten der Superlative, ein „Selfmademan“, ein „Macher und Manager“ (S. 291), bzw. eine „sympathische Künstlerpersönlichkeit“ (S. 292), die aus sich selbst heraus ein riesiges Œuvre schuf und die alle mochten. Seine Glorifizierung gipfelt in der Vermutung: „Wahrscheinlich besaß kein anderer Barockkomponist nördlich der Alpen ebenso viel künstlerische Fantasie und Potenz wie gerade Telemann.“ (S. 290)

Dass Telemann als Künstlerpersönlichkeit auf ganz unterschiedlichen Ebenen äußerst erfolgreich, ja in seiner Zeit sicherlich herausragend war, ist evident, man hätte sich jedoch einen kritischeren Zugriff gewünscht, der den Komponisten nicht in dieser Weise exponiert, sondern unter Berücksichtigung neuer Ansätze und Forschungen ‚in seiner Zeit‘ betrachtet. Trotz der angesprochenen Probleme ist es Rampe gelungen, Telemanns Leben, Schaffen und Wirken detailliert darzustellen sowie die wichtigste forschungsrelevante Literatur aufzuarbeiten.

Anmerkungen:
1 Guido Adler, Umfang, Methode und Ziel der Musikwissenschaft, in: Vierteljahresschrift für Musikwissenschaft 1 (1885), S. 5–20.
2 Siehe dazu in letzter Zeit u.a.: Anne-Madeleine Goulet / Gesa zur Nieden (Hrsg.), Europäische Musiker in Venedig, Rom und Neapel 1650–1750, Kassel 2015.
3 Joachim Kremer (Hrsg.), Biographie und Kunst als historiographisches Problem: Bericht über die internationale wissenschaftliche Konferenz anläßlich der 16. Magdeburger Telemann-Festtage, Magdeburg, 13. bis 15. März 2002, Hildesheim 2004.
4 Dies betrifft in der vorliegenden Publikation etwa einzelne Werktitel, verschiedene Gattungszuweisungen und Aufführungsorte. So wird Henry Purcells „Fairy Queen“ unter der Gattung Oper subsumiert (S. 20). Als Komponist der „Tragédie en musique Achille et Polyxène“ wird lediglich Jean-Baptiste Lully verzeichnet (S. 17); dieser schuf jedoch nur den ersten Akt, während Pascal Colasse nach dessen Tod die noch ausstehenden vier Akte in Musik setzte. Ferner ist nicht davon auszugehen, dass Marc-Antoine Charpentier lediglich eine „Oper“ komponiert hat (S. 21).
5 Z.B. die Schlacht bei Saragossa und der Sieg über den spanischen König Philipp V. oder die Entdeckung von Herculaneum im Jahr 1710 (S. 34).

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