Geschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager

Osterloh, Jörg; Wünschmann, Kim (Hrsg.): "... der schrankenlosen Willkür ausgeliefert". Häftlinge der frühen Konzentrationslager 1933–1936/37. Frankfurt am Main 2017 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-50702-6 459 S. € 39,95

Bonnesoeur, Frédéric; Dinkelaker, Philipp; Kleinmann, Sarah; Kolata, Jens; Reuss, Anja (Hrsg.): Besatzung – Vernichtung – Zwangsarbeit. Beiträge des 20. Workshops zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Berlin 2017 : Metropol Verlag, ISBN 978-3-86331-332-6 272 S. € 22,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ulrich Fritz, Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe, München

Der „Workshop zur Geschichte der Konzentrationslager“ wird seit 1994 (fast) jährlich abgehalten und expandiert auf allen Ebenen: Thematisch wurde er um die Gedächtnisgeschichte erweitert, institutionell – als Ergebnis der Tagung in Minsk – auf die „nationalsozialistischen Lager und Vernichtungsorte“ ausgedehnt. Die letzten Workshops fanden im europäischen Ausland statt, nun nicht mehr in unmittelbarer Nähe zu KZ-Gedenkstätten. Gleich geblieben ist hingegen der basisdemokratische Anspruch des selbstorganisierten Workshops. Das führt dazu, dass Institutsleiter/innen den Workshop fördern dürfen, nicht aber daran teilnehmen. Stefanie Schüler-Springorum äußert dafür im Vorwort Verständnis, wenngleich mit verbalem Stirnrunzeln. In der ausführlichen Einleitung geht das Herausgeber-Team auf die besonderen Umstände des Workshops ein. Mit dem Tagungsort Minsk war eine Öffnung in Richtung Osteuropa beabsichtigt. Die Internationalisierung der Teilnehmer/innen drückt sich auch im begrüßenswerten erstmaligen Erscheinen des Tagungsbandes auf Englisch aus. Die elf Beiträge des Bandes, von denen hier nur einige besprochen werden können, divergieren in Länge und Qualität. Eine inhaltliche Klammer stellt das Besatzungsregime in Weißrussland dar. Die Beiträge sind im Vergleich zur Tagung anders gruppiert und rubriziert.1

Unter der Überschrift „Deutsche Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Osteuropa“ liefert Anja Reuss einen konzisen Überblick über „die Organisation des deutschen Massenmordes in Belarus 1941–1944“. Die weißrussische Sowjetrepublik hatte die höchste Zahl an Toten zu verzeichnen, neben 700.000 Kriegsgefangenen über eine halbe Million Jüdinnen und Juden sowie 340.000 Opfer der Partisanenbekämpfung. Reuss beschreibt die zunächst willkürliche, bald aber systematisierte Ghettoisierung der jüdischen Bevölkerung und die Praxis des Massenmordes. Fanatische Antisemiten wie Erich von dem Bach-Zelewski organisierten umgehend Massenerschießungen. Während SS und Polizei den „Holocaust by bullet“ in den Städten vor aller Augen durchführten, leistete die Wehrmacht im Rahmen der Partisanenbekämpfung auf dem Land aktive Beihilfe – ebenso wie weißrussische Hilfswillige. Eine zweite Welle der Massenmorde ab Frühjahr 1942 erfasste auch Jüdinnen und Juden aus dem Reichsgebiet sowie Partisaninnen und Partisanen. Die wenigen Überlebenden wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt und ab September 1943 in die Vernichtungslager deportiert. Reuss konstatiert das Zusammenwirken von SS- und Polizeieinheiten mit den Besatzungsinstanzen, die etwa angesichts prekärer Ernährungslage die Ermordung „unnützer Esser“ aktiv unterstützten.

Robert Parzer analysiert die NS-Krankenmorde im besetzten Polen, insbesondere die Täter, und arbeitet dabei die Unterschiede zur Aktion „T 4“ im ‚Altreich‘ heraus. Im Reichsgau Wartheland und anderen besetzten Gebieten wurden die Krankenmorde lokal organisiert. Die Kranken wurden zunächst erschossen, später – unter anderem zur Schonung der Mörder – mit Gas getötet. Ausführlich geht Parzer auf das polnische medizinische Personal ein, das sich bei seiner Beteiligung an den Morden in einer paradoxen Lage befand: Wie vielerorts in Europa gab es auch in Polen nach 1918 eine starke eugenische Bewegung, deren bewunderte deutsche Vorbilder ihre polnischen Adepten fraglos als slawische „Untermenschen“ eingestuft hätten (S. 97). Der Mangel an (Fach-)Personal führte dazu, dass polnische Mediziner/innen stärker in die Morde involviert waren, als dies ihrem Status nach zu erwarten ist. Dass die ohnehin schmale Forschung in Deutschland und Polen sich gegenseitig nur wenig wahrnimmt, erklärt den vergleichsweise geringen Kenntnisstand zu diesem Thema.

Das zweite Kapitel des Bandes widmet sich dem „nationalsozialistischen Umgang mit sowjetischen Kriegsgefangenen“. Mareike Otters untersucht im längsten – und einzigen illustrierten – Beitrag des Bandes Fotografien sowjetischer Kriegsgefangener als „Propagandabilder“. Viele dieser ikonisch gewordenen Bilder wurden und werden ausgestellt, in diesem Fall im Museum und der Gedenkstätte Sachsenhausen. Otters fragt nach der Bildinszenierung der Motive, die der im Mai/Juni 1942 in Berlin gezeigten Propagandaausstellung „Das Sowjetparadies“ entstammen. Bereits eine genaue Datierung scheitert: Es bleibt offen, ob die sowjetischen Kriegsgefangenen im Rahmen des systematischen Massenmordes im Herbst 1941 fotografiert wurden. Drei der insgesamt 67 Motive wurden nachweislich für eine Collage in der Ausstellung sowie in der SS-Broschüre „Der Untermensch“ verwendet. Mareike Otters zeichnet überzeugend nach, wie unter Rückgriff auf Mittel der Dokumentarphotographie ein Antagonismus zwischen (westeuropäischen) „Menschen“ und sowjetischen „Untermenschen“ konstruiert wird. Dies führte angesichts des beabsichtigten Einsatzes sowjetischer Bürger für die deutsche Rüstungsindustrie zu letztlich wohl erfolgreichen Protesten der Wehrmacht.

Einige Beiträge beschränken sich darauf, unter ausführlichem Verweis auf die Forschung fakten- und zahlengesättigte Dokumentation ohne theoretische Fragestellung zu liefern. Wohltuend heben sich davon die beiden Artikel des folgenden Abschnitts zu „Erinnerungskultur, Gedenken und Aufarbeitung nach 1945“ ab. Paula A. Oppermann widmet sich der Entstehung des Rumbula-Denkmals im sowjetischen Lettland, das an die Erschießung von über 25.000 jüdischen Männern, Frauen und Kindern südöstlich von Riga im Dezember 1941 erinnert. Sie arbeitet dabei klar die Interessen, Zwangslagen und Optionen der beteiligten Akteure heraus. Während die überlebenden lettischen Juden die jüdische Kultur wiederbeleben wollten, zeigten die aus anderen Sowjetrepubliken zuziehenden, russisch sprechenden Juden daran wenig Interesse. In der späten Stalin-Zeit wurden Opfer, zumal jüdische, verschwiegen. Auch die ersten Versuche von Denkmalserrichtungen Anfang der 1960er-Jahre scheiterten, sofern sie ausschließlich an jüdische Opfer erinnerten. Das ab 1965 mit öffentlichen Mitteln geschaffene Monument benennt ebenfalls nicht, dass hier Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Dennoch wurde es auch für die jüdische Gemeinschaft zu einem wichtigen Bezugspunkt, wie Oppermann anhand dreier Biographien verdeutlicht.

Christian Ganzer liefert eine spannende Fallstudie zu sowjetischen Kriegsgefangenen in der sowjetischen und post-sowjetischen Erinnerungskultur. Die Brester Festung, nur wenige Tage nach dem Überfall der Wehrmacht auf die Sowjetunion eingenommen, wurde – so die bis heute gepflegte sowjetische Erzählung – heroisch und unter größten Opfern verteidigt. Minutiös geht Ganzer den Umständen der Belagerung durch deutsche Einheiten bis zur Aufgabe nach. Aufgrund seiner kritischen Recherchen und Darstellungen hat er mittlerweile Hausverbot im Festungsmuseum. Das entwertet seine berechtigten Überlegungen zu den Nachwirkungen sowjetischer Tabus in der Historiographie freilich keineswegs.

Das zeitlich und thematisch begrenzte Thema verschafft dem zweiten hier zu besprechenden Buch naturgemäß größere inhaltliche Stringenz. Neben der inhaltlichen Fokussierung ist dies aber auch ein Verdienst der beiden Herausgeber: Jörg Osterloh und Kim Wünschmann liefern in ihrer hervorragenden Einleitung einen geschichtlichen Abriss der frühen Konzentrationslager, welche der Band für den Zeitraum vom März 1933 bis etwa 1936/37 untersucht. Die 15 Beiträge des Bandes können hier nur summarisch gewürdigt werden. Zunächst widmen sich vier einander gut ergänzende Artikel verschiedenen frühen Verfolgungsstätten. Irene von Götz erläutert für Berlin, Dirk Riedel für Dachau, Habbo Knoch für die Emslandlager und Nicola Wenge für die württembergischen Konzentrationslager Heuberg und Oberer Kuhberg die äußerst heterogenen Strukturen: In Berlin betrieb die SA zehn von elf Konzentrationslagern, in Dachau übernahm die SS bereits nach einem Monat das Regime. Im Emsland bestanden das letztlich von der SS übernommene KZ Esterwegen und die Strafgefangenenlager der Justiz konkurrierend nebeneinander. Die württembergische Staatspolizei wurde erst im Oktober 1936 der Berliner Gestapo-Zentrale zugeordnet. Andererseits stechen Gemeinsamkeiten ins Auge, so die mit enormer Brutalität verbundene Wucht der ersten Verhaftungswellen. Allgemein nachweisbar sind auch die frühen Bemühungen um eine dauerhafte Institutionalisierung der Lager sowie ein breites Spektrum von Verfolgten– neben der politischen Opposition insbesondere „Berufsverbrecher“, Zeugen Jehovas, Homosexuelle, Jüdinnen und Juden.

Einzelne Verfolgtengruppen werden in sieben weiteren Artikeln untersucht. Deren Verdienst besteht angesichts oft prekärer Quellenlage nicht zuletzt darin, Angaben zu Zahl und örtlicher Verteilung von Gefangenen und gegebenenfalls Todesopfern zu machen, sowie die (juristischen) Grundlagen oder Verfolgungs-Vorwände darzustellen. Kim Wünschmann stellt mit Blick auf die jüdischen Häftlinge fest, dass deren „Sonderbehandlung“ in den Konzentrationslagern zunächst nicht zentral, sondern vor Ort bestimmt wurde. Dabei reichte die Spanne je nach Lagerkommandant von einigermaßen erträglichen Verhältnissen in Osthofen bis zu schikanöser Behandlung mit häufigen Todesfällen in Dachau oder Oranienburg. An den letztgenannten Orten wurden Juden räumlich separiert und mit Vorliebe zu schweren körperlichen Arbeiten herangezogen. Bei manchen Häftlingsgruppen dauerten Ausgrenzung und Bekämpfung von der Weimarer Republik bis teils in die Nachkriegszeit an. Albert Knoll belegt dies am Beispiel homosexueller Häftlinge, Oliver Gaida anhand der als „asozial“ Stigmatisierten. Der Vorwurf, einer dieser Gruppen (oder beiden) anzugehören, diente häufig als Vorwand für Verhaftungen. Beide Male hatten staatliche Institutionen, nämlich Polizei und Wohlfahrtsbehörden, durch entsprechende Datenerhebungen der Verfolgung durch SA und SS den Weg bereitet. Gaida weist in seinem instruktiven Beitrag auf die absichtlich schwammig gehaltene Definition der Begriffe „arbeitsscheu“ und „asozial“ von Karl Spiewok, Leiter des Berliner Landeswohlfahrts- und Jugendamtes hin und konstatiert, dass die „biologisierenden Vorstellungen […] die Verantwortung für die prekäre Situation […] ausschließlich den Betroffenen selbst zuschrieben und sie pathologisierten“ (S. 253f.).

Stefan Hördler analysiert die bislang wenig erforschten „Nationalsozialisten als KZ-Häftlinge“. SA-Angehörige wurden vielfach im Gefolge des angeblichen „Röhm-Putsches“ verhaftet. SS-Angehörige, die teils selbst im Wachdienst tätig gewesen waren, wurden wegen „Häftlingsbegünstigung“ eingewiesen – eine „erzieherische und zeitlich befristete Maßnahme“ (S. 305). Hördler skizziert in seiner aufwändigen akteurszentrierten Analyse die Nationalsozialisten als Häftlinge über die enger gefasste frühe Phase hinaus. Dabei profiliert er deren Doppelrolle: Überdurchschnittlich oft wurden sie als Funktionshäftlinge eingesetzt, in Einzelfällen sogar wieder in Führungspositionen. Mit Kriegsbeginn wurde das Bestrafungsregime systematisiert. Infolge wachsenden Bedarfs stieg die Neigung, inhaftierte SS-Männer wieder in Bewährungseinheiten einzusetzen. Viele der Betroffenen wurden nach dem Krieg von juristischer Verfolgung kaum behelligt.

In drei weiteren Beiträgen werden zeitgenössische Reaktionen und Rezeptionen der frühen Konzentrationslager beschrieben. Paul Moore analysiert in seinem interessanten Beitrag die „Reaktionen auf die Konzentrationslager im Arbeitermilieu“. Zunächst konstatiert er das Verschwinden der Analysekategorie „Klasse“ in der Forschung zugunsten von „Rasse“, Gewalt und Generation. Mit genauen Beobachtungen und einer großen Bandbreite von Ersatzquellen gleicht er den eklatanten Mangel an Ego-Dokumenten im Arbeitermilieu aus. So kann er nachweisen, dass sich die Inhaftierten oft erst durch ihre KZ-Haft ihrer politischen Rolle bewusst wurden. Die anhaltende Rivalität zwischen KPD, SPD und christlichen Gewerkschaften ließ Angehörige der jeweiligen Gruppen die KZ-Haft der anderen als verdiente Strafe für frühere Misshandlungen betrachten. Durchgängig ist ein Schwanken zwischen Apathie und Selbstbehauptung zu beobachten – letztere zeigte sich etwa in demonstrativen (und deshalb bald verbotenen) Bestattungen von KZ-Opfern. Das Konzentrationslager wurde schon früh auch zur ostentativen Bestrafung von Arbeitgebern und Spekulanten genutzt, die in der Öffentlichkeit als „fair“ empfunden wurde. Moore konstatiert: „Die Lager dienten dem NS-Regime als ein Mittel sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Veränderung und wurden im deutschen Arbeitermilieu auch als solches erlebt und wahrgenommen.“ (S. 374) Carina Baganz beschreibt mit dem Prozess gegen das Wachpersonal des Konzentrationslagers Hohnstein, der 1935 in Dresden stattfand, einen der wenigen Versuche juristischer Strafverfolgung der in den frühen Lagern begangenen Verbrechen. In das Verfahren, das im Konkurrenzkampf zwischen SA und SS vom Dresdener Geheimen Staatspolizeiamt initiiert wurde, schalteten sich auch Gauleiter Mutschmann als Fürsprecher der Angeklagten und Reichsjustizminister Gürtner zugunsten der richterlichen Unabhängigkeit ein. Letztlich kamen die angeklagten SA-Männer glimpflich davon und wurden bis Jahresende 1935 begnadigt.

Die abschließend eingefügten und klug ausgewählten Fotos (einschließlich des Titelbildes) werden in den Beiträgen analysiert. Eine Auswahlbibliographie und ein Personenregister runden den Band ab. Das Buch ist uneingeschränkt zu empfehlen. Zwar werden die Täter, von denen einige im KZ-System Karriere machten, kaum beleuchtet, da die Häftlinge bewusst im Fokus stehen. Auch findet sich angesichts der prekären Überlieferungslage erstaunlich wenig Quellenkritik. Wer sich mit den frühen Konzentrationslagern befasst, wird dennoch künftig nicht ohne diesen hervorragenden Sammelband auskommen.

Anmerkung:
1 Vgl. Verena Meier, Paula A. Oppermann: Tagungsbericht: Besatzung, Zwangsarbeit, Vernichtung. 20. Workshop zur Geschichte und Gedächtnisgeschichte der Nationalsozialistischen Konzentrationslager, 07.04.2015 – 12.04.2015 Minsk, in: H-Soz-Kult, 08.09.2015, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6149>.

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