K. Meyer: Theorien der Intersektionalität zur Einführung

Cover
Titel
Theorien der Intersektionalität zur Einführung.


Autor(en)
Meyer, Katrin
Erschienen
Hamburg 2017: Junius Verlag
Anzahl Seiten
189 S.
Preis
€ 13,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cécile Stehrenberger, Max-Weber-Kolleg, Universität Erfurt

Ziel von Katrin Meyers Einführung in die „Theorien der Intersektionalität“ ist es, diejenigen Ansätze bekannter zu machen, mit denen sich die Verflochtenheit verschiedener Unterdrückungs- und Ausbeutungsbeziehungen erfassen lässt. Gut verständlich und präzise skizziert die Autorin Entwicklungslinien, zentrale Anliegen und wichtige Debatten innerhalb eines heterogenen Forschungsfeldes. Das Feld „untersucht, wie unterschiedliche Herrschaftsstrukturen nach Geschlecht, ‚Rasse’, Klasse, Sexualität und vielem mehr in einer Gesellschaft zusammenwirken, wie sie das Leben von Individuen und Gruppen unterschiedlich prägen, wie sie unterschiedlich sichtbar sind und wie emanzipatorische Theorien und Praktiken daran mitwirken, intersektionale Erfahrungen und Machtformationen unsichtbar zu halten“ (S. 10). Eine der Stärken von Meyers Einführung liegt dabei gerade in ihrem weiten Verständnis von „Intersektionalitätstheorie“. Sie macht Intersektionalitätsdenken nicht nur in Ansätzen aus, die unter dem entsprechenden label gehandelt werden. Einen solchen Zugang erkennt sie grundsätzlich in all jenen Projekten, die in kritisch-transformativer Absicht darauf zielen, das Ineinandergreifen verschiedener Machtdynamiken zu analysieren.

Die Metapher der intersection wurde Ende der 1980er-Jahre von der US-amerikanischen Juristin Kimberlé Crenshaw eingeführt. Crenshaw beschrieb damit den Umstand, dass der juristische Schutz gegen Rassismus und Sexismus von der Perspektive schwarzer Männer und weißer Frauen her gedacht war und daher die Anliegen schwarzer Frauen systematisch ausblendete. Intersektionalitätstheorien lassen sich allerdings schon in einer Vielzahl früherer Ansätze finden, von denen Meyer im ersten Teil ihres Buches einige vorstellt. Dazu gehört die politische und theoretische Bewegung des Black Feminism, die sich in den 1970er-Jahren in den USA im Zuge der Bürgerrechts- und zweiten Frauenbewegung herausbildete.

Meyer verfolgt aber auch einige Herkunftslinien der deutschsprachigen Intersektionalitätstheorie. So entstanden ab den 1980er-Jahren immer mehr Texte und Initiativen, welche die – auch im marxistischen Feminismus der zweiten Frauenbewegung nicht berücksichtigte – spezifische Situationen von „Migrantinnen“, von jüdischen und später auch schwarzen Frauen ins Zentrum ihres Schaffens rückten. Meyer erwähnt etwa das 1984 entstandene Netzwerk Adefra, in dem sich schwarze Frauen zusammenschlossen, die durch das Werk und den Aufenthalt der afroamerikanischen Denkerin Audre Lorde in Berlin zusammengebracht worden waren.

Zu den von Meyer vorgestellten Wegen, die Intersektionalität als „traveling concept“ innerhalb und über Sprachgrenzen hinweg zurückgelegt hat, gehört auch derjenige vom basisaktivistischen Kontext hin zur Etablierung in der Antidiskriminierungspolitik internationaler Organisationen und der akademischen Forschung. Nicht wenige Kritiker/innen konstatieren dabei, dass in diesem Zuge die kritische Perspektive verloren gegangen sei.

Im zweiten Teil des Buches skizziert die Autorin eine Reihe von Aspekten und Anliegen, die einen gemeinsamen Nenner der teils sehr unterschiedlichen kritisch-transformativen Intersektionalitätsansätze bilden. Dazu zählt ein Engagement für soziale Gerechtigkeit, das insbesondere in einer „Kritik von Machteffekten“ besteht. Darüber hinaus zielen Intersektionalitätsansätze darauf ab, „blinde Flecken“ auch bei emanzipatorischen Theorien und Praktiken zu Tage zu fördern. Dazu untersuchen sie, wie bestimmte Menschen(gruppen) auch in kritischen Theorien unsichtbar bleiben oder – komplementär dazu – besonders markiert und Gegenstand eines otherings werden. Sowohl Ausschlüsse als auch das othering basieren dabei auf einer Generalisierung und Homogenisierung, durch die gruppeninterne Unterschiede negiert werden.

Weit schwieriger als für die allgemeinen Forschungsziele verschiedener Intersektionalitätsansätze ist es, Gemeinsamkeiten in den jeweils verwendeten analytischen Instrumenten zu bestimmen. So impliziert deren methodische Vielfalt, dass je nach Ausrichtung auf der Mikro-, Makro-, Meso- oder Repräsentationsebene sehr Unterschiedliches untersucht wird: Subjekte, Praktiken und Erfahrungen, soziale Strukturen, Organisationen und policies oder auch Normen und Diskurse. Operiert wird dabei auch mit verschiedenen Konzepten und Modellen von Macht, die von der „hegemonialen Matrix“ bis hin zum „Assemblage“ reichen.

Teil drei des Buches behandelt eine Reihe besonders intensiv diskutierter Streitpunkte. Dazu gehört die Frage, welche Differenzkategorien in Intersektionalitätsanalysen berücksichtigt werden sollen. So sprechen sich einige Autor/innen dafür aus, sich auf die „Masterkategorien“ Geschlecht, Klasse und „Rasse“ zu konzentrieren. Meyer hält dagegen, dass eine solche Reduktion die Historizität und die kontextuellen Unterschiede von Machtformationen negiere. Entscheidend erscheint ihr, dass sich Intersektionalitätsansätze mit jenen Differenzen befassen, aus denen sich soziale Ungleichheiten, Ein- und Ausschlussmechanismen sowie Normalitätsstrukturen ergeben. Dazu zählen auch Kategorien wie Befähigung, Alter oder die Zuschreibungen „zivilisiert“ und „unzivilisiert“. Meyer spricht sich dafür aus, die relevanten Kategorien von Intersektionalitätsanalysen nicht ex ante festzulegen, sondern sie jeweils in und für die Analyse empirisch gegebener Machtformationen neu zu entwickeln.

Die Differenzkategorien, die die Intersektionalitätsansätze benutzen, sind auch Identitätskategorien. Vielen Kritiker/innen erscheint der Bezug darauf an sich schon als Schwäche: Der kritische Impetus reduziere sich dadurch auf identitätspolitische Anliegen, die zusammen mit den entsprechenden Kategorien letztlich auch die damit einhergehenden sozialen Ungleichheiten affirmieren. Meyer verteidigt die Identitätskategorien. Angesichts ihrer Verbreitung und Wirkmächtigkeit wäre es „aus epistemologischer Perspektive unsinnig“ (S. 150), auf sie zu verzichten. Meyer verweist aber auch auf die Bedeutung, die diesen Kategorien in Auseinandersetzungen um epistemologische Standpunkte und politische Strategien zukommt. Nach Crenshaw etwa kann Diskriminierung auch bekämpft werden, indem Menschen Zuschreibungen produktiv nutzen, das heißt sie als Form von intersektionaler Identität mobilisieren, um sich der eigenen Marginalisierung entgegenzustellen.

Im allerletzten Abschnitt der Einführung wird dann die Frage aufgeworfen, wie es möglich ist, „das Intersektionalitätskonzept auf weitere geographisch-kulturelle, internationale und auch transnationale Kontexte zu übertragen, ohne damit der Globalisierung westlicher Theorien und dem ihr immanenten Eurozentrismus sowie einem kategorien- und identitätsfixierten Ordnungsdenken Vorschub zu leisten“ (S. 152f.).

Dass Meyer immer wieder problematische Aspekte von Intersektionalitätstheorien anspricht und gleichzeitig klar für ihre weitere wissenschaftliche und politische Etablierung argumentiert, trägt dazu bei, dass ihr Buch als Einführungsband funktioniert. Es lassen sich jedoch auch Einwände formulieren. So bleibt Meyers Umgang mit dem Eurozentrismus der verschiedenen Intersektionalitätsansätze problematisch. Der erste Schritt hin zu deren Provinzialisierung sollte nämlich meines Erachtens genau nicht in der Frage bestehen, wie das „Intersektionalitätskonzept auf weitere geographische-kulturelle, internationale und auch transnationale Kontexte zu übertragen“ (S. 152) sei. Zum einen gilt es, noch sehr viel gründlicher herauszuarbeiten, wie sich die „europäischen“ Analysekategorien, auf die sich auch die Intersektionalitätsforschung bezieht, im Zuge kolonialer und imperialistischer Politiken herausgebildet haben.1 Vor allem aber würde es darum gehen, sich eingehender mit den Intersektionalitätsansätzen zu beschäftigen, die Wissenschaftler/innen und Aktivist/innen aus dem globalen Süden seit Dekaden hervorbringen. Dass es sich bei diesen Ansätzen meist um „Intersektionalitätstheorien der Sache nach“ handelt, dürfte dem nicht im Weg stehen. Darüberhinaus ist es zwar nachvollziehbar, dass die US-amerikanischen und die deutschsprachigen Ansätze, die besprochen werden, größtenteils schon einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt haben und häufig zitiert werden. Es hätte sich jedoch angeboten, darauf einzugehen, warum und wie genau diese Ansätze eine solche Bedeutung erlangen konnten. Zumindest kursorische Hinweise auf weniger etablierte Theorien wären hier angebracht gewesen.

Wohlgemerkt, es geht mir nicht um die Vollständigkeit des Überblicks. Vielmehr ermöglicht ein Blick auf die Arbeiten von Vetreter/innen des „African feminism“2 oder des „feminismo decolonial“3, die sich an afrikanischen und lateinamerikanischen Universitäten etabliert haben, aber auch auf die Geschichte von Chicana- und Native American Feminist-Bewegungen4 andere Perspektiven auf die Verschränkung verschiedener Machtbeziehungen als diejenigen Ansätze, die Meyer präsentiert. Ein Beispiel ist hier das Verhältnis Mensch-Nicht-Mensch, das von Aktivist/innen und Denker/innen aus dem globalen Süden unter anderem in Kämpfen um den Zugang zu natürlichen Ressourcen thematisiert wird. Zu verstehen, wie in „indigenen Feminismen“ auch die belebte und unbelebte Natur als (Rechts-)Subjekt im Vordergrund der Analyse steht, könnte westlichen Theoretiker/innen dabei helfen, mit der geographischen Dezentrierung auch den Fokus auf den Menschen zu dezentrieren.

Eine Schwierigkeit ganz anderer Art ergibt sich daraus, dass Meyer sich auf die Darstellung von Ansätzen mit einem „emanzipatorisch motivierten“ (S. 12), kritisch-transformativem Anspruch konzentriert, um zu diskutieren, inwiefern diese ihren eigenen Anspruch auch einlösen. Bezeichnenderweise läuft die Kritik, die an solchen Ansätzen geübt wird, darauf hinaus, dass diese sich kaum (mehr) von Ansätzen unterscheiden, die einen solchen Anspruch gar nicht erst haben. Gemeint sind Konzepte wie „Vielfalt“ und „Diversität“, die auch im Hochschulmanagement immer mehr Anklang finden. Detaillierter auf sie einzugehen, wäre im Sinn einer klärenden Abgrenzung hilfreich gewesen. Gleichzeitig stellt sich die Frage, welche theoretischen Implikationen und wissenschaftspolitischen Folgen der Erfolg dieser Konzepte für die „kritische“ Intersektionalitätsforschung haben könnte.

Schließlich ließe sich Meyers Plädoyer, Intersektionalitätsansätze danach zu beurteilen, inwiefern sich mit ihnen die Verzahnung von Machtbeziehungen in einem spezifischen Kontext theoretisieren lässt, dahingehend ergänzen, dass sich deren Gebrauchswert auch in ihrer Anwendbarkeit in der empirischen Forschung zeigt. Es wäre, mit anderen Worten, hilfreich gewesen, darauf einzugehen, welche Chancen und Schwierigkeiten entstehen, wenn in Disziplinen wie der Ethnologie, der Psychologie oder der Geschichtswissenschaft versucht wird, Intersektionalitätstheorien bei der Quellen- und Dateninterpretation einzusetzen.

Fazit: Meyer gelingt es in ihrer Einführung, das kritische Potential, das Intersektionalitätsansätze sowohl für die Forschung als auch den Aktivismus besitzen, herauszustellen – selbst wenn das kritische Potential der äußerst vielversprechenden Herangehensweise, die sie dafür gewählt hat, noch nicht ausgeschöpft ist.

Anmerkungen:
1 Diesbezüglich richtungsweisend ist zum Beispiel: Jana Tschurenev, Intersectionality, Feminist Theory, and Global History, in: Vera Kallenberg / Jennifer Meyer / Johanna M. Müller (Hrsg.), Intersectionality und Kritik: neue Perspektiven für alte Fragen, Wiesenbaden 2013, S. 265–282.
2 Vgl. zum Beispiel Oyeronke Oyewumi (Hrsg.), African Gender Studies. A Reader, New York 2005.
3 Vgl. zum Beispiel Rocío Medina, Feminismos periféricos, feminismos-otros. una genealogía feminista decolonial por reivindicar, in: Revista internacional de pensamiento político 8.1 (2013), S. 53–79.
4 Vgl. Alma M. García (Hrsg.), Chicana feminist thought. The basic historical writings, New York 1997. Und: Donna Hightower Langston, American Indian Women's Activism in the 1960s and 1970s, in: Hypatia 18.2 (2003), S. 114–132.