C. Aichner u.a. (Hrsg.): Die Thun-Hohenstein'schen Universitätsreformen

Cover
Titel
Die Thun-Hohenstein'schen Universitätsreformen 1849–1860. Konzeption – Umsetzung – Nachwirkungen


Herausgeber
Mazohl, Brigitte; Aichner, Christof
Reihe
Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs 115
Erschienen
Anzahl Seiten
424 S.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rainer Leitner, Universität Graz

Mit dem Zusammenbruch des Metternich'schen Systems im März 1848 sieht das Kaisertum Österreich sich außen- wie innenpolitisch in einer mehr als kritischen Lage, zumal eine gesellschaftliche Weiterentwicklung über ein Menschenalter lang durch die Machtmittel eines wenig zimperlichen Polizeistaates unterdrückt worden war. Zudem rekrutiert sich ein beträchtlicher Teil der Aufständischen aus dem studentischen Milieu; die im universitären Alltag des Vormärz erlebte Unterdrückung und Bevormundung der wissenschaftlichen Lehre hatte sich als nicht zu unterschätzendes Antriebsmoment der Revolution erwiesen. So taucht in den Petitionen des März die Forderung nach Freiheit in wissenschaftlicher Lehre und Forschung auf, eine Reform des Universitätssystems erscheint unumgänglich. Umgesetzt wird dieses Vorhaben von drei Persönlichkeiten: Dem Juristen Leo Thun-Hohenstein als Unterrichtsminister, dem Philosophen Franz Seraphin Exner und dem Juristen, Altphilologen und Schulreformer Hermann Bonitz. Diese drei Persönlichkeiten sollen bis heute das Bild der österreichischen Schul- und Universitätsreform prägen und sind, allen voran Leo Thun-Hohenstein, Teil einer allgemeinen Erinnerung geworden.

Der Sammelband, der die bearbeiteten Vorträge einer im Juni 2013 an der Universität Innsbruck abgehaltenen Tagung zu den Thun-Hohenstein'schen Universitätsreformen zum Inhalt hat, gliedert sich in mehrfache Ebenen. Dem Untertitel "Konzeption-Umsetzung-Nachwirkungen" folgend erschließt sich der Inhalt der Untersuchungen folgendermaßen:

In der Einleitung weisen die Herausgeber Christof Aichner und Brigitte Mazohl auf die Bedeutung der weit über die Grenzen des heutigen Österreich wirkenden Universitätsreform 1849 bis 1860 hin sowie auf deren Stellenwert, der im Blickwinkel der Geschichtswissenschaft höchst unterschiedliche, ja konträre Bedeutung erlangt hat. Um die Reform zu realisieren, ernennt der Kaiser Leo Thun-Hohenstein, einer hocharistokratischen böhmischen Familie entstammend, 1849 zum Minister für Kultus und Unterricht. Um die Universitäten zu erneuern, ist auch eine Neustrukturierung der Gymnasien notwendig, denn diese übernehmen nun die vormalige, an den Universitäten vermittelte Propädeutik. Das vorher sechs Jahre dauernde Gymnasium umfasst nunmehr acht Jahre und endet mit der neu eingeführten Maturitätsprüfung. Die Universitäten werden mit der Reform von 1848/49 als wissenschaftliche Einrichtungen definiert; die Philosophischen Fakultäten werden erneuert, der Ausbildungscharakter der Universitäten bleibt jedoch bestehen.

Der zweite Beitrag der Einleitung stammt von Walter Höflechner. Er liefert einen Überblick über die Geschichte der österreichischen Universitäten seit dem Ende der Aufklärung bis in das fortgeschrittene 20. Jahrhundert und steckt somit den Rahmen ab, in dem sich die Thun'schen Reformen vollzogen haben.

Der nächste Teil des Buches trägt den Titel "Konzeption der Reformen". Eine Interpretation der verschiedenen Darstellungen, die Historiker über Thun verfasst haben, gibt Franz Leander Fillafer. Vor allem hebt er die unterschiedlichen Formen der Aufklärung samt ihren Auswirkungen in der Habsburgermonarchie hervor und stößt auf deren wichtige Eigenleistungen, die später in der Fokussierung auf die Reform Thuns in Verlust geraten sind. Mitchell Ash geht in seinem Beitrag der Frage nach, ob Thun in seinen Reformen auf das deutsche bzw. "Humboldt'sche" Universitätsmodell, wie es ein überwiegender Teil der herkömmlichen Forschung meint, zugegriffen hat oder ob doch spezifisch eigenständige österreichische Prämissen zum Tragen gekommen sind. Hinsichtlich der Möglichkeit einer Verbindung mit dem Humboldt'schen Modell entwickelt Ash mehrere Szenarien, die bisher kaum oder gar nicht beachtete Ansätze inkludieren. Er verweist auf die politischen Implikationen der Übernahme des deutschen Vorbildes, die keine geringe Rolle in der Frage nach dem ‚nationalen Charakter‘ einer Universität überhaupt spielt und geht in diesem Kontext auch auf die Rolle einer spezifischen österreichischen katholischen Tradition der Bildung ein.

Die revolutionären Ausgangspunkte der Universitätsreform stehen im Fokus der Analyse von Thomas Maisel. Er unterstreicht den Umstand, dass es bereits im Vormärz Diskussionen um die Notwendigkeit einer universitären Reform gegeben habe. Das Revolutionsjahr 1848 stellt nicht allein in Österreich die Notwendigkeit universitärer Reform in den Raum, diese war Teil einer allgemeinen Diskussion in vielen Universitäten Europas und somit ist auch die Thun'sche Reform in ihrer Bedeutung und Auswirkung eine über Österreich hinausgreifende.

„Die Umsetzung der Reformen” bezeichnet den nächsten Abschnitt. Alois Kernbauer stellt zunächst die quantitative Situation sowie die Beschaffenheit des österreichischen Bildungssystems dar und analysiert daraufhin die Umsetzung der Reformen an der Grazer Universität sowie den Funktionswandel, der auf gesamtuniversitärer wie fakultätsmäßiger Ebene stattfindet. Im Beitrag von Milada Sekyrková wird deutlich, dass auch an der Prager Karls-Universität viele Punkte der Thun'schen Reform ihre Anfänge im Vormärz gehabt haben. Dies ist in der tschechischen Forschung bis jetzt deshalb unberücksichtigt geblieben, weil man sich primär mit der Teilung der Universität 1882, welche mit nationalen Konflikten Hand in Hand gegangen ist, gewidmet hat. Alessandra Ferraresi analysiert in ihrer Studie zur Universität Padua auch die Personalpolitik Thuns und kommt zum Ergebnis, dass die starken Autonomiebestrebungen in Lombardo-Venetien wesentliche Entscheidungen des Ministers beeinflusst haben. Eine ähnlich gelagerte Problemstellung konstatiert auch Maria Stinia in ihrer Untersuchung der Auswirkungen der Universitätsreform an der Krakauer Universität. Anlass zur Kritik der Professoren gibt in Innsbruck der Verlust der allgemeinbildenden Aufgaben der Philosophischen Fakultät. Diesem Thema widmet sich Christof Aichner; er gelangt zum Resultat, dass hier nicht sprachpolitische Fragen dominieren, sondern pädagogische.

Wie sich die Thun'schen Reformen in Ungarn auf die Rechtsakademien auswirken, bildet den Inhalt des Beitrages von Attila Tar. Nicht zuletzt bietet er einen Überblick zur ungarischen Historiographie zu Thun. Laszlo Szögi konzentriert sich auf die traditionell starke Wanderbewegung ungarischer Studierender ins Ausland und stellt fest, dass nach 1850 für ein Jahrzehnt die Migration ungarischer Studenten stark zurückgeht. Simonetta Polenghi und Valentina Chierichetti widmen sich der Reform der Gymnasien in Lombardo-Venetien. Hier zeigt sich die bildungspolitische Situation als von nationalen und politischen Intentionen überformt und bietet ein markantes Beispiel dafür.

Das letzte Kapitel des vorliegenden Bandes trägt den Titel „Nachwirkungen und Rezeption der Reformen.” Jan Surman untersucht an den Fallbeispielen der Universitäten Lemberg und Krakau die oft an Thun geäußerte Kritik, seine Politik sei nicht frei von ,germanisierenden’ Tendenzen gewesen. Während das österreichische Thun-Narrativ den 1849 erfolgten Aufbruch in erster Linie als Beginn einer liberalen Ära sieht, sehen die polnischen Historiker in ebendiesem das Ende ihrer liberalen Hoffnungen. Johannes Feichtinger und Franz Leander Fillafer analysieren in ihrem Beitrag das Bild der österreichischen Geschichts- und Kulturpolitik von Leo Thun im Verlauf des 19. und 20. Jahrhunderts. Feichtinger und Fillafer rücken viele tradierte Vorurteile zurecht, so etwa die Tatsache, dass das Reformwerk keineswegs Thuns alleiniger Verdienst sei, sondern auf Exners liberale Ausarbeitung zurückgehe. In weiterer Folge widmen sie sich den Stimmen, die sich dem Reformwerk gegenüber kritisch positionieren wie auch denen, die jenes glorifizieren. Letztere sollen in Österreich bis in die jüngste Zeit die größte Verbreitung finden, nicht zuletzt unterstützt durch konservative Grundhaltungen in Politik und Wissenschaft.

Der Inhalt des vorliegenden Bandes spannt einen breiten Bogen, von der Konzeption des Reformwerkes bis hin zu dessen wissenschaftlichen Interpretationen in der Gegenwart. So findet man Detailstudien, etwa über die Auswirkung der Reformen an diversen Universitäten, aber auch höchst innovative Ansätze. Diese finden sich besonders bei Mitchell Ash, der viele innovative, bis jetzt unbeachtete Fragestellungen zur Diskussion stellt. Besonders hervorzuheben ist auch der Beitrag von Johannes Feichtinger und Franz Leander Fillafer, der mit dem Bild Thuns in der österreichischen Geschichts- und Kulturpolitik im 19. und 20. Jahrhundert überaus interessante neue Erkenntnisse liefert – und das in einer bemerkenswert gepflegten Sprache! Bekanntlich war Thun nicht der alleinige Schöpfer des Reformwerkes – im Gegenteil. Große Teile sind, wie erwähnt, auf Franz Exner zurückzuführen, Hermann Bonitz spielt in der mit den Universitätsreformen nicht zu trennenden Gymnasialreform eine wichtige Rolle – die Reduktion auf Thun ist somit schwer nachvollziehbar. Die Frage, warum dies nicht thematisiert worden ist, bleibt offen. Ebenso wäre ein Beitrag des Grazer Historikers Herbert Hans Egglmaier, auf den häufig in Fußnoten verwiesen wird, wünschenswert wie aufschlussreich gewesen.