F. Schürmann: Der graue Unterstrom

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Titel
Der graue Unterstrom. Walfänger und Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas (1770–1920)


Autor(en)
Schürmann, Felix
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Campus Verlag
Anzahl Seiten
682 S.
Preis
€ 59,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tanja Hammel, Department Geschichte, Universität Basel

Alles andere als grau ist das Bild, das Felix Schürmann vom Walfang und den Küstengesellschaften an den tiefen Stränden Afrikas vom Ende des 18. bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts zeichnet. Dem heute als wissenschaftlicher Mitarbeiter am LOEWE-Schwerpunkt “Tier – Mensch – Gesellschaft” der Universität Kassel beschäftigten Historiker gelingt ein Narrativ, das in deutschsprachigen Dissertationen nur selten zu finden ist. Die fesselnde Einleitung führt die Straßen Londons entlang und das Bedürfnis nach Waltran für deren Beleuchtung vor Augen. Der Autor entwirft im ganzen Buch Collagen von Zitaten und meteorologischen, klimatischen, geografischen, biologischen und ereignisgeschichtlichen Beschreibungen, die den/die Leser/in in vergangene Welten eintauchen lassen.

Der Walfang in Afrika ist bisher nur selten und dann hauptsächlich im Zusammenhang mit der Geschichte des Kolonialismus und des Sklavenhandels untersucht worden. Demgegenüber liegt der Fokus von Schürmanns Studie stärker auf den wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten des Walfangs. Diese bisher vernachlässigte Thematik bezeichnet der Autor als bedeutenden Unterstrom zur üblichen Geschichte des Walfangs. Diesen Unterstrom charakterisiert er als grau: eine kalte Farbe, die die leidvolle, gewaltsame Geschichte des Walfangs mit skrupellosem ökonomischen Kalkül, den trostlosen Alltag der Jäger sowie die hier untersuchten Nebenfolgen des Walfangs widerspiegelt –„abseits des dichotomischen Schwarz und Weiß, der Täter- und Opfergeschichten, wie sie die Narrative über Geschichte in Afrika paradigmatisch prägen“ (S. 618). Konkret geht er den Fragen nach, wie der Unterstrom afrikanische Küstengesellschaften verändert hat und wie das Bedingungsgefüge vor Ort entscheidend dafür war, wie gravierend er sich auf das Leben an der Küste auswirkte.

Schürmann gelingt es in acht regionalgeschichtlichen Fallstudien, das komplexe, vielfältige Beziehungsgeflecht zwischen Walfängern und der jeweiligen afrikanischen Küstengesellschaft herauszuarbeiten. Die gut strukturierte Studie beginnt mit „outward bound“ (Einleitung) und schließt mit „homeward bound“ (Schlusswort). Die Kapitel dazwischen folgen „den Schiffen entsprechend der Hauptphasen des Walfangs in den Afrika umgebenden Meeren an die Strände“ (S. 45) und können in beliebiger Reihenfolge gelesen werden. Die ersten beiden Kapitel (Walvis Bay, Delagoa Bay) beschreiben die Jagd auf Südkaper in den Buchten des südlichen Afrikas ab den 1780er-Jahren. Darauf folgen Orte auf Inseln des westlichen Indischen Ozeans, die ab den 1820er-Jahren für die Pottwal-Jagd von großer Bedeutung waren (madagassische Saint Augustin, Mutsamudu auf der Komoreninsel Anjouan und Port Louis auf Mauritius). Danach untersucht der Autor das Geschehen an den Stränden Westafrikas, wo Buckelwale während der Ausweitung des Walfangs ab der Mitte des 19. Jahrhunderts gejagt wurden (Cambinda in Angola und Annobón, eine Insel im Golf von Guinea). Schürmann beschränkt sich auf die, seines Erachtens, wichtigsten Orte der Topographie des Walfangs im afrikanischen Kontext. Dabei scheint es ihm gelungen zu sein, sich den jeweiligen regionalgeschichtlichen „state of the art“ angeeignet zu haben, was bei acht Gebieten keine Selbstverständlichkeit ist.

Die Untersuchung von nichtintendierten Phänomenen des Walfangs und deren Auswirkungen auf die Entwicklung von unterschiedlichen Regionen überzeugt. Ebenso überzeugend ist die Vielfalt der verwendeten Literatur und Quellen, die von literarischen Texten, Zeitungen über Tagebücher (z.B. von Missionaren), Logbücher, geographische Karten, archäologische und ethnologische Forschung bis zu zeitgenössischen Illustrationen reicht, wovon die über fünfzig Seiten lange Bibliographie zeugt. Divers sind auch die Akteure, beispielsweise afrikanische Übersetzer, Lotsen, Strandläufer und Zwischenhändler. Neben der Analyse der jeweiligen konkreten Handelssituation vor Ort gelingt es Schürmann immer wieder, Schlaglichter auf alltagsgeschichtliche Themen zu werfen.

Der Einfluss der Walfänger war dort am stärksten, wo diese über einen längeren Zeitraum die einzigen externen Akteure waren, die einen Ort vom Meer her häufig und regelmäßig aufsuchten – z.B. in Walvis Bay, Annobón, Saint August und Furma. An diesen Orten entstanden maritime Handels- und Kommunikationsnetze, die die Regionen mit anderen verbanden. An jedem Ort arbeitet Schürmann spezifische Besonderheiten heraus, wie beispielsweise, dass in Saint Augustin durch den Unterstrom ein Zufluss an Feuerwaffen und Munition entstand, der dem Sakalava-Tributstaat half, seine Eigenständigkeit zu behaupten. Furma verließen viele junge Männer wegen Hungersnöten und dem gefürchteten Zwangsdienst in der kapverdischen Milizarmee und es entstand eine neuartige Seefahrts- und Migrationskultur. Die Aonin trieben ihr Vieh immer dann an den Strand von Walvis Bay – einem Handelshafen von überregionaler Bedeutung –, wenn Walfänger ankamen. An beiden Orten bewirkte der Unterstrom eine zunehmende Orientierung von Handlungsstrategien auf das Meer und an beiden Orten überdauerten die Nebenfolgen den Walfang.

Schwächeren Einfluss nahm der Unterstrom auf Orte, wo mehrere Akteursgruppen vom Meer her an den Strand kamen, wie in Delagoa Bay, Mutsamudu und Cabinda. Hier hatten sich Mittlerämter bereits vor dem Walfang herausgebildet und institutionalisiert, wie etwa auf Proviant spezialisierte Verhandlungsführer. Machthaber in Mutsamudu und in Cabinda zogen wirtschaftlichen und politischen Nutzen aus dem Handel mit Walfängern. An beiden Orten konnten sich Küstenherrscher durch den Unterstrom gegenüber Machtrivalen aus dem Hinterland behaupten, was zur Stabilisierung von deren Machtstellung führte. Port Louis erlebte eine hohe Schiffsverkehrsdichte und der Unterstrom entfaltete daher dort seine schwächste Wirkung. Desertionen waren auf Mauritius hingegen besonders häufig.

Männer aus Küstengesellschaften, die durch den Walfang in fremde Weltregionen gelangten, prägten als Rückkehrer oder mit Waren- und Geldsendungen sowie ihrem Wissen ihre Heimatregionen. Durch die Aneignung der amerikanischen Walfangpraxis avancierte Annobón zu einer von sehr wenigen Küstengesellschaften Afrikas, die selbst Wale jagten – auch nachdem der amerikanische Walfang längst nicht mehr praktiziert wurde. Schürmann zeigt ein breites Spektrum von Folgen und Nebenfolgen unterschiedlicher Art und Stärke auf. Er ist bemüht, stets viele Stimmen und mögliche alternative Sinngebungen zu berücksichtigen. Im Allgemeinen ist Schürmanns quantitativer Überblick sehr hilfreich und informativ.

Weniger überzeugend ist die (Druck-)Qualität der geografischen Karten und Illustrationen (z.B. S. 52, 70, 77) sowie Schürmanns Umgang mit Bildquellen, die oft nur illustrativ verwendet werden (z.B. S. 78, 101). Eine von den Methoden der Visual History inspirierte Analyse könnte hier sicher Aussagekräftiges zutage fördern. Zitate werden oft wenig quellenkritisch eingeführt oder kontextualisiert. Oft ist die Studie etwas gar ereignisgeschichtlich und deskriptiv.

Schürmanns sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Studie beinhaltet auch kulturelle Aspekte und trägt zur afrikanischen, Kolonial- und Globalgeschichtsschreibung bei. Damit sind Themenfelder angesprochen, die in den letzten Jahren im Mittelpunkt unzähliger Debatten standen. Diese mit souveräner Leichtigkeit zusammengefügt und gleichzeitig Neues zutage gefördert zu haben, ist das größte Verdienst dieser lesenswerten Studie.

Im Gegensatz zu Studien von nationalen Walfangkulturen erklärt Schürmann globale Verflechtungen durch indirekte Auswirkungen und nicht intendierte Folgen des Walfangs.1 Nicht wie in der afrikanischen Geschichte oft üblich, fokussiert Schürmann auf weit mehr als einen einzigen Ort. Mit seinen acht lokalgeschichtlichen Untersuchungen erweitert er den Blick auf die afrikanische Kolonial- und Globalgeschichte. Schürmanns Buch sowie insbesondere auch seine englischen Aufsätze werden richtungweisend für hoffentlich zahlreiche Forschungsergebnisse zur Geschichte des Walfangs im afrikanischen Kontext sein.2 Seine Arbeiten sind aber auch für Forschende, die zur Kolonialgeschichte, afrikanischen Geschichte, Wirtschafts-, Global-, Umweltgeschichte sowie Mensch-Tier-Beziehungen arbeiten von Interesse und durch das Narrativ nicht nur für eine akademische Leserschaft zu empfehlen.

Anmerkungen:
1 Fynn Holm arbeitet zurzeit beispielsweise an einem Promotionsprojekt an der Universität Zürich mit dem Arbeitstitel „Hunting the Gods of the Sea: Whaling Culture in Northeast Japan.“
2Zum Beispiel: Felix Schürmann, Africa (1750 to 1914), in: Stephen Stein (Hrsg.), The Sea in World History: Exploration, Travel, and Trade, Santa Barbara 2017, S. 462–467; Felix Schürmann, African Sailors on European and American Ships, in: Stephen Stein (Hrsg.), The Sea in World History: Exploration, Travel, and Trade, Santa Barbara 2017, S. 467–469; Felix Schürmann, Ships and Beaches as Arenas of Entanglements from Below: Whalemen in Coastal Africa, in: InterDisciplines. Journal of History and Sociology 3/1 (2012), S. 25–47.