Cover
Titel
A Life Beyond Boundaries. A Memoir


Autor(en)
Anderson, Benedict
Erschienen
London 2016: Verso
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
£ 14.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sven Trakulhun, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz

Wissenschaftler schreiben normalerweise keine Autobiographien, denn meistens ist ihr Alltag ziemlich langweilig. Manchmal hat ein Leben aber auch etwas Exemplarisches, das es wert erscheinen lässt, für die Nachwelt festgehalten zu werden. Benedict O’Gorman Anderson ist der Autor des Buches „Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalism“, einer inzwischen klassischen Studie zum Ursprung des Nationalismus aus dem Jahr 1983. In „A Life Beyond Boundaries“ blickt der anglo-irische Südostasienwissenschaftler auf sein Leben zurück. Zuerst 2009 in japanischer Übersetzung erschienen, hatte das Buch ursprünglich einen ganz bestimmten Zweck. Es sollte japanischen Studierenden nahebringen, wie angelsächsische Gelehrte aufwachsen, welche Ausbildung sie durchlaufen, welche intellektuellen, kulturellen und sozialen Einflüsse sie während ihrer geistigen Entwicklung prägen und nicht zuletzt auch, wie westliche Universitäten und der anglo-amerikanische akademische Diskurs funktionieren. Auf diese Fragen wollte Anderson seinem japanischen Publikum Antworten geben. Die englische Fassung ist nun posthum erschienen und mit einem Vorwort und einem Nachwort des Autors versehen, die den Text für westliche Leserinnen und Leser in seinen Kontext rücken sollen und dem Buch zugleich den Charakter einer Lebensbilanz verleihen.

Zunächst verrät Andersons akademische Karriere einiges über die Zeit, in der er lebte. Er war ein Kind des Zweiten Weltkrieges, geprägt von den ideologischen Verhärtungen des Kalten Krieges und der Epoche der Dekolonisation. Anderson wurde 1936 in Kunming geboren, als Sohn einer englischen Mutter und eines irischen Kolonialbeamten, dessen Abteilung damit beauftragt war, die enormen Reparationszahlungen einzutreiben, die China seit dem Zweiten Opiumkrieg (1860) noch immer an die Imperialmächte Frankreich und Großbritannien zu entrichten hatte. Die Familie remigrierte 1941 nach Irland, wo Anderson seine Liebe zu alten Sprachen entdeckte, die er später als Stipendiat so erlesener britischer Kaderschmieden wie Eton und Cambridge weiter kultivierte. Allerdings zeigte ihm die englische Klassengesellschaft schnell ihre Zähne. Anderson kam nicht aus einer britischen Upper-Class-Familie wie die meisten seiner Mitschüler oder Kommilitonen und fühlte sich daher als Außenseiter. Die Erfahrung sozialer Ungleichheit und der damals auch in Cambridge grassierende Rassismus ließen ihn politisch dauerhaft nach links rücken. Bestimmt spielte auch der Einfluss seines zwei Jahre jüngeren und heute kaum weniger berühmten Bruders Perry Anderson eine Rolle, der als Herausgeber der New Left Review von 1962 bis 1982 eines der damals wichtigsten publizistischen Organe der britischen Linken leitete.

Andersons Werdegang hat auch etwas mit Glück und Zufall zu tun. Er wechselte 1958 als teaching assistant für Politologie an die US-amerikanische Cornell University. Die Südostasienwissenschaften erlebten zu dieser Zeit einen enormen Aufschwung an amerikanischen Universitäten, vor allem aus geopolitischen Gründen. Cornell wurde (neben der Universität Yale) zum wichtigsten Ort für das Studium dieser Region in den USA. Die Gründungsfiguren des dortigen Studienganges, der Politologe George Kahin und der Sprachwissenschaftler John Echols, weckten Andersons Interesse vor allem an Indonesien, einem noch jungen Nationalstaat, der nach dem Zweiten Weltkrieg aus den Trümmern des niederländischen Kolonialreichs hervorgegangen war. Anderson profitierte von der Expansion der amerikanischen Area Studies in den 1950er- und 1960er-Jahren und erhielt bald eine Universitätsprofessur in Cornell, wo er bis 2002 lehrte.

Einen Einschnitt bedeutete eine im Jahr 1966 gemeinsam mit Ruth McVey und Frederick P. Bunnell verfasste Analyse des gescheiterten indonesischen Staatsstreichs vom 1. Oktober 1965. Die Studie wurde sechs Jahre später als „Cornell Paper“ publiziert und brachte Anderson ein Einreiseverbot für Indonesien ein, das erst 1998 nach dem Rücktritt des indonesischen Diktators Suharto wieder aufgehoben wurde. Für einen Indonesienfachmann wie Anderson war das ein Desaster, das sich später freilich als Vorteil erweisen sollte. Weil ihm bis auf weiteres sein primärer Untersuchungsgegenstand abhandengekommen war, begann sich Anderson nun mit anderen Ländern der Region zu beschäftigen, lernte Thai und Tagalog und wandte sich dem Studium der Philippinen und Thailands zu. Die vergleichende Perspektive, die sich ihm dadurch eröffnete – man würde sie heute wohl globalgeschichtlich nennen – lieferte die Grundlage für „Imagined Communities“, das zu Andersons einflussreichstem Buch wurde. Es bildet auch in seinen Lebenserinnerungen den Fluchtpunkt der Erzählung und zeigt, wie eng Biographie und Werk des Autors zusammenhängen.

Programmatisch war das Buch seinerzeit in zweierlei Hinsicht bedeutsam. Erstens gelingt es Anderson darin, seinen europäischen Bildungshintergrund mit einem ausgeprägten Sinn für die vermeintlichen „Peripherien“ des Weltgeschehens zu verbinden. Anderson wurde zum Komparatisten und praktizierte den Kulturvergleich im Geiste kosmopolitischer Gerechtigkeit. Bei seiner Rekonstruktion der Nation als eine „vorgestellte politische Gemeinschaft“ ist die Geschichte von Ländern wie Siam, Vietnam und natürlich Indonesien nicht weniger wichtig als diejenige Frankreichs, Englands oder des Habsburgerreichs. Dabei hebt Anderson immer wieder die Bedeutung der Sprache hervor, nicht nur als identitätsbildende Kraft im Dienst moderner Nationalstaaten, sondern auch als notwendige Bedingung für das Verstehen fremder Gesellschaften.

Zweitens wollte Anderson die Area Studies stärker an die politischen Probleme der Gegenwart heranrücken. Der Nationalismus erwies sich für dieses Vorhaben als ein überaus geeignetes Vehikel. Denn überall auf der Welt schien für Anderson die Entwicklung von Nationalstaaten denselben Gesetzen zu gehorchen. Nationale Mythenbildung, die Einführung des „print capitalism“ als Vehikel eines kollektiven Gemeinsamkeitsglaubens, die „Erfindung von Traditionen“, ethnische Ausgrenzungen, sprachlicher Homogenisierungszwang, die Unterdrückung abweichender Meinungen usw. – die Übel des Nationalismus waren für Anderson ziemlich gleichmäßig über die Erde verteilt. Dadurch wurde nicht nur das postkoloniale Sonderbewusstsein der jungen Nationalstaaten des Südens infrage gestellt, sondern auch der (nicht nur) in Euroamerika verbreitete Glaube an die eigene Unvergleichbarkeit.

Andersons Denken „beyond boundaries“ ruhte auf dem soliden Fundament alteuropäischer Gelehrsamkeit und verdankte sich einem besonderen Talent für das Erlernen von Fremdsprachen. Hinzu kam ein Theoriemix von Gewährsleuten aus Philosophie, Anthropologie, Geschichtsschreibung, Philologie und Literaturwissenschaft. Nicht zuletzt deutsche Autoren wie Karl Marx, Erich Auerbach und Walter Benjamin gehörten zu seinen wichtigsten Inspirationsquellen. Interdisziplinarität (so der Titel eines Kapitels seiner Erinnerungen) war für Anderson ebenso wichtig wie das Überschreiten kultureller Grenzen. Seine Kommentare über den zunehmend spezialisierten Universitätsbetrieb der Gegenwart fallen daher vor allem polemisch aus. Die fortschreitende Segregation des wissenschaftlichen Fächerkanons, der Zwang zur Produktion von Absolventen für den Arbeitsmarkt, die notorischen universitären Grabenkämpfe um Stellen und Ressourcen hätten die heutigen Universitäten von ihren eigentlichen Zielen entfremdet. Dem durchrationalisierten Wissenschaftsbetrieb des 21. Jahrhunderts stellt Anderson in „Beyond Boundaries“ das nostalgische Ideal breiter, klassischer Bildung und zweckfreier Forschung entgegen. Trotz seiner Sympathien für die emanzipatorische Linke waren Andersons Bildungsvorstellungen letzten Endes ziemlich konservativ, vielleicht sogar ein wenig elitär. Die Art von Grenzüberschreitung, die er vor Augen hatte, ist nur etwas für Klassenbeste.

„Beyond Boundaries“ erzählt knapp, schnörkellos und in leichtem Ton von einem gelungenen Gelehrtenleben. Wer kann, mag daraus lernen, wie man als Intellektueller unbequem bleibt, ohne deshalb auch unbequem leben zu müssen. Es bietet insgesamt wenig Einsichten in das Innenleben des Autors, verzichtet weitgehend auf Anekdoten und aufdringliches Namedropping und strahlt zugleich die Altersweisheit eines gebildeten Weltbürgers aus, der skeptisch, aber doch nicht ganz ohne Hoffnung in die Zukunft schaut. Benedict Anderson konnte das Manuskript des Buches noch kurz vor seinem Tode abschließen. Er starb am 13. Dezember 2015 im Alter von 79 Jahren auf Java in Indonesien.

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