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Titel
Viele falsche Hoffnungen. Judenverfolgung in den Niederlanden 1940–1945


Autor(en)
Happe, Katja
Erschienen
Paderborn 2017: Ferdinand Schöningh
Anzahl Seiten
365 S.
Preis
49,90 Euro
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Kreutzmueller, Jüdisches Museum Berlin

Aus dem Vollen schöpfend hat Katja Happe ihre neue Studie über die „Judenverfolgung in den Niederlanden“ vorgelegt. Die Autorin ist zweifelsohne die deutsche Forscherin mit dem profundesten Überblick über Quellen und Literatur zum Holocaust in den Niederlanden. In den letzten Jahren ist sie als Bearbeiterin der die Niederlande betreffenden Bände der Quellenedition „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945“ hervorgetreten.1

Saul Friedländer folgend ist es Happes Anspruch, den Judenmord in einem integrierten Ansatz verschränkter Perspektiven von Tätern, Opfern, Zuschauern, Umstehenden und auch von internationalen Organisationen neu zu fassen und umfassend zu erzählen. Die Niederlande bieten sich als Forschungsgegenstand nicht nur wegen des bekannten – nur auf den ersten Blick paradoxen – Umstandes an, dass aus diesem liberalen Staat relativ gesehen so viele Juden deportiert und ermordet wurden wie aus keinem anderen Land Westeuropas. Die Untersuchung kommt auch zur rechten Zeit, weil seit der letzten umfassenden Darstellung von Bob Moore aus dem Jahr 1997 viele spannende Detailstudien entstanden sind, auf die Happe nun aufbauen kann.2

Einleitend fasst Happe zunächst die politischen Entwicklungslinien in den 1930er-Jahren in den Niederlanden zusammen und beschreibt die Spannungen, die die verstärkte Ankunft deutscher Flüchtlinge in Zeiten massiver Arbeitslosigkeit hervorrief. Spannungen, die verstärkt wurden, weil sich die deutschen Juden insbesondere in Amsterdam in einigen Stadtvierteln regelrecht isolierten. Um dem drängenden Flüchtlingsproblem Herr zu werden, errichtete die niederländische Regierung nach dem Novemberpogrom, der für ein erneutes Anschwellen des Flüchtlingsstroms sorgte, das Lager Westerbork im Nordosten des Landes – fernab von Konsulaten, Bahnhöfen und Schifffahrtslinien.

Der Einmarsch der Wehrmacht zerstörte im Mai 1940 die Hoffnung, dass das Land in dem sich entwickelnden Weltkrieg neutral bleiben könnte. Happe skizziert zunächst routiniert die bekannten Umstände der Etablierung einer deutschen Aufsichtsverwaltung und die abwartenden Reaktionen der niederländischen Bevölkerung und Verwaltung hierauf. Die Zeit der scheinbar harmonischen Annäherung wurde im Februar 1941 durch einen Streik unterbrochen, den Happe – ganz nach herkömmlicher Lesart – als Reaktion der nicht-jüdischen Niederländer auf die Judenverfolgung präsentiert. Ein traditionelles top-down-Bild der Verfolgung zeichnend, fehlt der Analyse an dieser Stelle der Blick für lokale Verfolgungsinitiativen. Happe erwähnt en passant Schilder, die Juden den Zutritt zu bestimmten Orten verwehren wollten, erklärt aber nicht, wer diese Schilder aufgestellt hat. Auch die Übergriffe holländischer Antisemiten werden weitgehend ausgeblendet, obgleich sie – vom Generalkommissar zur besonderen Verwendung Fritz Schmidt unterstützt – wesentlich zur Eskalation im Februar 1941 beitrugen.

Durch die Etablierung der Zentralstelle für jüdische Auswanderung durch das Reichssicherheitshauptamt im Frühjahr 1941 entzündete sich ein weiterer Konflikt um die Frage, wer die Oberhoheit in der „Judenfrage“ haben würde. Zwar betont Happe zu Recht die Bedeutung des Höheren SS- und Polizeiführers Hanns Albin Rauter, unterschätzt jedoch, dass dieser sich auch in den „Judensachen“ mit „seinem“ Befehlshaber der Sicherheitspolizei, dem Reichssicherheitshauptamt und den Generalkommissaren arrangieren musste. In diesem Kontext wurde der im Februar 1941 etablierte Joodsche Raad sehr bald zum ausführenden Organ der Verfolgungsinstanzen, was Happe klug und einfühlsam analysiert und dabei ausdrücklich betont, dass dieser Judenrat weitgehend von der Amsterdamer jüdischen „Oberschicht“ (S. 74) dominiert wurde.

Im zentralen (und stärksten) fünften Kapitel des Buches schildert Happe detailliert die Organisation und den Ablauf der Deportationen. Planmäßig im Juli 1942 begonnen, gingen sie in den Augen der Organisatoren des RSHA außergewöhnlich reibungslos vonstatten. Zwar folgten schon im August 1942 kaum mehr Juden der Aufforderung zur Deportation, doch fanden sich genug niederländische Polizisten, welche die Juden aus ihren Wohnungen abholten und – in Amsterdam – zum zentralen Sammellager in einem ehemaligen Theater eskortierten. Entsprechend war der niederländische Polizeipräsident von Amsterdam, Sybren Tulp, kurz vor seinem Tod im Herbst 1942 voll des Lobes über das zu diesem Zweck eingesetzte Politie Bataljon Amsterdam. Plastisch beschreibt Happe, wie das ehemalige Flüchtlingslager Westerbork zum Deportationssammellager umgewandelt wurde, in dem deutsche Juden die Funktionärselite stellten. Die Abgeschiedenheit des Lagers war einer der Gründe, dass die unerhörte Brutalität der Deportationen in der niederländischen (Rest-)Öffentlichkeit kaum aufgenommen wurde. Sie fand „zwar in aller Öffentlichkeit, aber nicht vor aller Augen“ (S. 151) statt, wie Happe präzise bemerkt.

War schon die niederländische Verwaltung unter Führung der Staatssekretäre in der Regel allzu willfährig, so verfolgte auch die niederländische Exilregierung inklusive der Königin die Verfolgung der Juden aus großem Abstand – ohne großes Engagement. Die Rolle der lokalen niederländischen Verwaltungsinstanzen, der Bürgermeister und Landräte wie auch der nicht-jüdischen Bevölkerung bleiben in Happes Darstellung hingegen etwas blass. Nicht-jüdische Niederländer werden als von den Verfolgungsinitiativen der deutschen Besatzungsinstanzen – von Happe „Besatzer“ genannt – überraschte und eher abgestoßene Bevölkerungsmehrheit skizziert. Dies entspricht zwar dem niederländischen Selbstverständnis, nicht aber unbedingt den Tatsachen. Zum Beispiel streift Happe die Vernichtung der wirtschaftlichen Existenz der Juden nur, an der Niederländer sich aktiv beteiligten. Sie weist darauf hin, dass die Juden aus Utrecht sehr früh vertrieben wurden, führt aber nicht aus, dass Utrecht sich als die niederländische Stadt der Bewegung verstand, was Ad van Liempt jüngst in seinem großartigen Buch über die Maliebaan verarbeitet hat.3 Neu – und sehr spannend – ist hingegen, dass Happe auch auf die Versuche der jüdischen Hilfsorganisationen des Auslands eingeht, den Juden in den Niederlanden beizustehen.

Ab März 1943 wurden die Juden aus Westerbork nicht nur nach Auschwitz-Birkenau oder Theresienstadt deportiert, sondern auch nach Sobibor. Insgesamt überlebten von 34.313 dorthin verschleppten Juden aus den Niederlanden nur 20! Leider geht Happe nicht auf die Hintergründe der Entscheidung ein, die Transporte auch nach Sobibor zu leiten. Sehr eindringlich beschreibt sie hingegen die Probleme der Freistellung Einzelner und einzelner Gruppen, die auch in der niederländischen Literatur breit rezipiert worden ist. Dabei weist sie darauf hin, dass die Freistellungslisten letztlich auch für eine Aufsplitterung der Gruppe der Verfolgten gesorgt haben. Mit eindrücklichen Beispielen belegt Happe die – nicht nur logistischen – Probleme, in den dicht besiedelten Niederlanden unterzutauchen. Insgesamt wurden etwa 12.000 untergetauchte Juden – darunter bekanntlich auch die Familie Frank – enttarnt und aufgegriffen. Nach brutalen Razzien war die Deportation der niederländischen Juden, an denen im Übrigen auch die niederländische Bahn verdiente, bereits im Herbst 1943 weitgehend abgeschlossen. Es folgten nun in größerem Abstand einzelne Deportationen, die auch nach Bergen-Belsen geleitet wurden, das zu diesem Zeitpunkt (noch) als Austauschlager fungierte.

Im September 1944 wurden einige wenige Juden im Süden der Niederlande durch west-alliierte Truppen befreit. Den Juden in den restlichen Niederlanden stand hingegen ein langer Hungerwinter bevor. Nach der Kapitulation der deutschen Truppen im Mai 1945 waren die wenigen Überlebenden zwar nun nicht mehr „vogelfrei“, waren sie aber angesichts schrecklicher persönlicher Verluste tatsächlich frei? Dies diskutiert Happe in dem letzten Kapitel ihres Buches und kommt zu dem Schluss, dass „die Rückkehr der Juden in das gesellschaftliche Leben in den Niederlanden von vielen Problemen, Fragen und Unsicherheiten begleitet“ war (S. 253). Die niederländische Regierung sah keine Veranlassung zu besonderer Sorge um die wenigen Überlebenden, sondern konzentrierte sich auf die Bestrafung einzelner besonders prominenter Täter – und den Wiederaufbau des Landes.

Auch wenn es meine Hoffnungen nicht ganz erfüllt hat, ist Katja Happe eine – für deutsche Leser – durchaus lesenswerte Einführung in die Geschichte des Holocaust in den Niederlanden gelungen. Der Lesefluss wird freilich durch manche Wiederholung gebremst. Dass die Juden nicht absehen konnten, was ihnen „im Osten“ widerfahren würde, führt Happe allzu oft – und etwas leichtfertig – an. Vor dem Hintergrund, dass Happe eine integrierte Geschichte des Prozesses des Judenmords erzählt, bleibt mir der Titel unverständlich. Welche Hoffnungen waren denn falsch? Diejenigen vieler Juden waren es sehr wahrscheinlich – soweit sie sich überhaupt noch Hoffnungen hingaben. Hugo Kaufmann, der verzweifelt versuchte, um den Preis der Übergabe seiner Bank an die Commerzbank mit seiner Familie noch aus dem Land herauszukommen, scheiterte. Die Familie wurde ermordet. Die Hoffnungen der Verfolger wurden aber doch wohl eher nicht enttäuscht. Gertrud Slottke beispielsweise sah die Teilhabe an der Verfolgung als Chance im Apparat des Reichssicherheitshauptamtes auch als Frau aufzusteigen. Ihre Hoffnung wurde – auf Kosten von 102.000 Ermordeten – erfüllt.

Anmerkungen:
1 Susanne Heim u.a. (Hrsg.), Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland 1933-1945, Bd. 5, West- und Nordeuropa 1940-Juni 1942, München 2012 und Bd. 12, West- und Nordeuropa Juni 1942-1945, München 2015.
2 Bob Moore, Victims and Survivors. The Nazi Persecution of the Jews in the Netherlands 1940-1945, London 1997.
3 Ad van Liempt, Aan de Maliebaan. De kerk, het verzet, de NSB en de SS op een strekkende kilometer, Amsterdam 2015.

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