N. Detering: Krise und Kontinent

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Titel
Krise und Kontinent. Die Entstehung der deutschen Europa-Literatur in der Frühen Neuzeit


Autor(en)
Detering, Nicolas
Erschienen
Köln 2017: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
626 S.
Preis
€ 90,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Ehrenpreis, Institut für Geschichtswissenschaften und Europäische Ethnologie, Leopold-Franzens-Universität Innsbruck

Die deutschsprachige historische Europaforschung der letzten Jahre, die eine Fülle von Arbeiten zur Vor- und Entwicklungsgeschichte der Europäischen Union hervorgebracht hat, widmet sich nach wie vor selten der Frühen Neuzeit, mit Ausnahme der Wiener Arbeitsgruppe um Wolfgang Schmale. Vor diesem Hintergrund stellt die Arbeit des Konstanzer Germanisten Nicolas Detering einen Meilenstein dar, der zu weiteren Forschungen anregen dürfte. Seine 2015 an der Universität Freiburg im Breisgau eingereichte germanistische Dissertation zeichnet sich durch zwei Besonderheiten aus: Zum einen fußt sie auf einer äußerst umfangreichen Quellengrundlage, so dass man sie geradezu für ein Alterswerk halten könnte. Zum anderen beweist der Verfasser eine Nähe zu den geschichtswissenschaftlichen Fragestellungen der Europäistik und der Mediengeschichte und überwindet scheinbar mühelos disziplinäre Grenzen. Methodisch gesehen zielt er auf die Herausarbeitung von „Besonderheiten literarischer Bedeutungskonstitution und diskursiver Gattungskonventionen“ ab (S. 40). Die von ihm herangezogenen Quellen versteht er als Äußerungen des Europabewusstseins und des Europawissens, die er in der Entwicklung der Epoche beschreibt. Nach seiner Beobachtung wird der frühneuzeitliche Europabegriff immer mit einem räumlich-zeitlichen Rahmen versehen („das jetzige Europa“), so dass man von einer „chronotopischen“ Qualität des Europabegriffs sprechen kann.

Die Studie gliedert sich in drei, jeweils ca. 150 Seiten umfassende Teile, die jeweils für einen begrenzten Zeitabschnitt eine Leitgattung identifizieren. Nach einem einleitenden Forschungsüberblick und einem kurzen Abschnitt zur bekannten humanistischen und anti-türkischen Diskussion des Begriffs „Europa“ im 16. Jahrhundert inklusive der Ikonographie, eröffnet der erste Teil den Blick auf das sich entwickelnde Nachrichtensystem und die zeitgenössische aktualitätsbezogene Geschichtsschreibung zwischen 1589 und 1674 (inklusive der visuellen Quellen der Frontispize). Hier rezipiert der Autor breit die geschichtswissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahre von Johannes Arndt und anderen und beschreibt den Vorgang der „Verjetzigung“ (S. 51) des Europabewusstseins sowie die Entstehung einer „seriellen Zeitgeschichte“ (S. 200).1 Im Kontext der entstehenden Nachrichtenmedien assoziierten die Zeitgenossen mit „Europa“ weniger normative Implikationen als vielmehr eine Krise, in die das politische System des Kontinents geraten sei. Allgegenwärtige Kriege und Bürgerkriege schufen das Bewusstsein einer „europäischen Ereignisgemeinschaft“ (S. 99).

Der zweite Teil über die Epoche 1631–1725 rückt das Format der literarischen Allegorien in den Mittelpunkt und behandelt die Flugpublizistik, Dramen und Gedichte. Zahlreiche Texte bildeten die schon bei Erasmus zu findenden beiden Typen Europa triumphans oder Europa deplorans nach. Allegorische Motive wie der „Fürstentanz“ oder die Darstellung als Braut, um die gekämpft wird, verdeutlichen die Metaphorik des politischen Körpers Europas. Im Zeitalter Ludwigs XIV. verbanden sich poetische Friedenshoffnungen mit anti-französischen Stereotypen in der Reichspublizistik, die der Verfasser detailliert vorstellt. Das Epicedium Gottscheds auf Peter den Großen, von Detering im Anhang des Buchs kritisch ediert, wird hier auf die Verschiebung der Grenzen des Kontinents nach Osten hin interpretiert, ebenso wie die zunehmende Assoziation Europas mit Fortschritt zur Zivilisierung bzw. Kulturalisierung der Welt im Laufe des 18. Jahrhunderts.

Im dritten Teil zur deutschsprachigen Erzählliteratur in der Frühaufklärung 1688 bis 1743 spielen auch außerkontinentale Zusammenhänge vermehrt eine Rolle, etwa in Satiren, Schelmenromanen und Utopien, wie der Verfasser an Schnabels Felsenburg demonstriert. Der Unchristlichkeit Europas werden positive Entwürfe exotischer (oder utopischer) friedlicher Lebensordnungen gegenübergestellt, zum Teil aber auch Überlegenheitskonstruktionen aufgebaut. Der zeithistorische Bezug geht aber auch in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts keineswegs verloren. In Eberhard Werner Happels Europäischer Geschichts-Roman werden journalistische und literarische Formen zu einer neuen Textgattung verarbeitet. Fenelons Telemach ist Anregung für deutsche Übernahmen französischer Vorbilder, die sich zwar seit ca. 1720 häufen, aber ohne eine Dominanz in der Europaliteratur zu erringen.

Das besondere Ergebnis der Studie ist der Aufweis eines Zusammenhangs der drei leitenden Textgattungen, ihrer gegenseitigen Beeinflussungen und Affinitäten in der Beschreibung von „Europa“ in seiner jeweiligen räumlich-zeitlichen Dimension: Die deutsche Europaliteratur war zeithistorische Literatur. Diese überzeugende Interpretation fordert zu einem Vergleich mit dem Europa-Begriff in anderen europäischen Nationalliteraturen geradezu heraus, und daraus gewinnt das Buch an forschungspolitischer Relevanz. Ein wesentlicher Vorteil der Studie ist überdies ihre gute Lesbarkeit, trotz langer Zitate und detailreicher Beschreibung einzelner schwülstiger Barocktexte. Der Autor hat an vielen Stellen seiner Arbeit klare Verkehrszeichen gesetzt, die die Richtung angeben. Zusätzlich helfen Marginalien und Zusammenfassungen bei der Orientierung.

Zusammenfassend lässt sich voraussagen, dass die Studie mehr als andere zu weiteren Forschungen zum Europa-Bild in der Frühen Neuzeit anregen wird. Die produktive Verbindung von Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft sollte gestärkt werden, übrigens auch für Quellenpublikationen. Die Germanistik ist vorbildlich, was Editionsunternehmen angeht, die wir in der Geschichtswissenschaft aus eigenem Verschulden dezimiert haben. Das Wiener Projekt der Europa-Bilddatenbank zeigt, wie viele – auch schriftliche – Quellen noch zu heben wären.

Anmerkungen:
1 Johannes Arndt, Herrschaftskontrolle durch Öffentlichkeit. Die publizistische Darstellung politischer Konflikte im Heiligen Römischen Reich, 1648–1750, Göttingen 2013; ders./Esther-Beate Körber (Hrsg.), Das Mediensystem im Alten Reich der Frühen Neuzeit (1600–1750), Göttingen 2010.