J. C. Behrends u.a. (Hrsg.): 100 Jahre Roter Oktober

Titel
100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution


Herausgeber
Behrends, Jan C.; Katzer, Nikolaus; Lindenberger, Thomas
Erschienen
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 25,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ekaterina Makhotina, Institut für Geschichtswissenschaft, Universität Bonn

Das hundertste Jubiläum der Russischen Revolution 1917 bot einen guten Anlass, um über die Revolution, ihre Ursachen und ihre Wirkungen auf die Weltgeschichte nachzudenken. Dass die Oktoberrevolution für das 20. Jahrhundert ein ebenso zentrales Ereignis darstellte, wie es die Französische Revolution für das „lange 19. Jahrhundert“ gewesen war, stellte schon Eric Hobsbawm in seinem vielbeachteten Werk „Das Zeitalter der Extreme“ fest. Das 20. Jahrhundert war ein „sowjetisches Jahrhundert“.1 Wie unterschiedlich Antworten der Gesellschaften weltweit auf die Herausforderungen der Russischen Revolution ausfielen, sollte im Sammelband „100 Jahre Roter Oktober. Zur Weltgeschichte der Russischen Revolution“, hrsg. von Jan Claas Behrends, Nikolaus Katzer und Thomas Lindenberger thematisiert werden. Es sei ein Desiderat, so die Herausgeber, dass die „Interferenzen zwischen Bolschewismus, Faschismus und Nationalsozialismus keineswegs erschöpfend bearbeitet worden sind“ (S. 16). Zugleich – um es vorweg zu nehmen – erfährt man im Sammelband viel mehr über die (spät-)sowjetische Geschichte, als über die Fernwirkungen der Revolution auf das Weltgeschehen.

In der Einleitung stellen die Herausgeber das Ordnungsprinzip für die elf Essays dar: Anhand der Jubiläumsfeier sollten „die Veränderungen der Semantik“ und das Erscheinungsbild der russischen Revolution in „verschiedenen Weltgegenden“ herausgearbeitet werden. Dies ist keineswegs ein trivialer Ansatz, und dies zeichnet den Band auch in der Flut der sonstigen Publikationen zum hundertsten Jubiläum aus. In der Tat verschwindet während des Lesens die anfängliche Skepsis bezüglich der „Magie der runden Zahl“ (S. 21). Einige der Zäsuren, die anfangs nicht eingeleuchtet hatten (1957, 1967 oder 2007), stellen sich als wichtige historische Wendepunkte heraus. Je weiter man im Band liest, desto aufschlussreicher erscheint die „Zeitreise“, die man zusammen mit den britischen, deutschen, amerikanischen, polnischen, russischen und spanischen Historikern unternimmt.

Gleich im ersten Beitrag (1917) zu zeitgenössischen Innen- und Außenperspektiven auf die Russische Revolution gelingt es Dietrich Beyrau die Aura und die Stimmung der Revolution in ihren vielen Dimensionen einzufangen. In seiner Beschreibung des Geschehens wird die Ambivalenz der Revolution in ihren vielen Dimensionen äußerst klar: Der Autor zeigt sowohl die Anwendung des Terrors seitens der Bolschewiki, als auch die Gefahren, die von den nationalistischen Kreisen der Gegner der Bolschewiki ausgingen. Zudem zeichnet er die Faszination und Angst nach, die in der mythischen Überhöhung damals – wie heute – westliche Perspektiven auf Russland präg(t)en.

Zu den besten Beiträgen des Sammelbandes gehört der von José M. Faraldo (1937). Er ist außergewöhnlich nach Minuten der Wochenschau „Kinochronika“ vom 7. November 1937 komponiert und zeigt sehr anschaulich, welch unheimliche Mobilisierung der 20. Jahrestag der Revolution erfuhr und wie tief der Rote Oktober in den Alltag der Gesellschaft eingedrungen ist. 1937 erscheint uns tatsächlich wie ein Wende- und Kristallisationspunkt russischer Geschichte, denn wie in keinem anderen Jahr werden hier zwei Gegenpole des Sowjetischen deutlich: die Repression und die Modernisierung.

Äußerst interessant liest sich die Beobachtung von Olga Nikonowa (1947), wie das Stadtjubiläum Moskaus 1947 die Jahrfeiern des Roten Oktobers und die Kriegserinnerung überdeckt hatten. Nikonowa macht daran den Kontext des im Spätstalinismus rehabilitierten russischen Nationalismus deutlich. Im Beitrag wird anschaulich dargestellt, wie die stalinsche Macht den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ dazu nutzte, die sozialistische Ordnung innerhalb eigener Grenzen zu legitimieren und welch hohen Preis die sowjetische Gesellschaft zahlen musste, damit die geopolitischen Ambitionen Stalins befriedigt werden konnten. 1947, als die Nachkriegshungersnot ihren Höhepunkt erreichte, ließ der Sowjetführer das Getreide nach Osteuropa exportieren, um das dortige sozialistische Regime zu konsolidieren (S. 127).

In seinem lehrreichen Beitrag legt Andreas Hilger (1967) die Gründe dafür offen, warum die sowjetische Politik, vereinfacht gesagt, zwischen ideologischer materieller Unterstützung und Eindämpfen der radikalen revolutionären Romantik in der Dritten Welt pendelte. Es entsteht ein Panorama sowjetischer Hoffnungen, Interventionen und Enttäuschungen in Indien, China, Chile, Vietnam und Ägypten. Der Sowjetführung seien die „Untiefen der Prozesse in der Dritten Welt“ bewusst gewesen. So ließe sich die sowjetische Politik gegenüber der Dritten Welt kaum als gradlinig bezeichnen, war die letztere doch in der Spannung eigener Akteure, Leistung der Sowjetunion im globalen Wettbewerb und Handeln der USA gefangen.

Im Beitrag von Juliane Fürst (1977) zeigt sich wieder einmal, wie nützlich das analytische Modell Alexei Yurchaks2 für die Interpretation spätsowjetischer Geschichte ist (Leben „als ob“, inner- und zugleich außerhalb des Politischen). Der Autorin geht es um die Alltags- und Lebenswelt der letzten sowjetischen Generation – und somit auch jener, die heute im Kreml das Sagen hat. Fürst rekonstruiert die historische Zeit der Breschnewschen Stagnation, einer Zeit also, die heute noch im Gesellschaftsgedächtnis als „glücklichste Zeit“ präsent ist und erklärt, warum das das Ende des Sowjetsystems zwar überraschend, aber logisch war.

Dass das Beispiel China uns dazu zwingt, die Formel vom „Ende des Kommunismus“ zu relativieren, zeigt Gerd Koenen in seinem Beitrag (2007). Der 17. Parteitag 2007, bei dem Xi Jinping designiert wurde, sei eine Art Wegescheide gewesen, denn sein Ergebnis ebnete den Weg in die „neototalitäre Moderne“ (S. 271).

Auf die Deutungen des 100. Jubiläums seitens der Macht im Kreml geht Jan Plamper im letzten Beitrag des Bandes (2017) ein. Er stellt die Versuche des Kremls, den 7. November, den Jahrestag der Revolution, durch den 4. November, den Tag der Einheit des Volkes, zu überblenden. Der These, dass mit dem 4. November „ein zweiter 9. Mai“ geschaffen wurde, ist jedoch zu widersprechen. Trotz der beachtlichen finanziellen Ressourcen, die in die Konstruktion dieses Datums hineingepumpt wurden, hatte es nie den Anspruch, den gleichwertigen sakralen Status wie des „Tag des Sieges“ einzunehmen. Dafür hatte er von vornherein in der russländischen Gesellschaft zu wenig Akzeptanz – und zu viel Widerspruch.3

Beiträge zur Perestroika und Jelzin-Zeit fallen etwas subjektiv und somit analytisch schwächer aus. Die Beiträge von Alexander Vatlin (1987) und Irina Scherbakowa (1997) nehmen eine Zeitzeugen-Perspektive ein. Dabei werden die Subjektivität des Erzählers und die Besonderheit der Erfahrungshorizonte der Autoren (junger Historiker in Moskau und Leiterin von „Memorial“) nicht reflektiert, was die Beiträge zu Pauschalisierungen und Widersprüchen verleitet. So wird zum einen viel zu kühn die Perspektive der Moskauer wissenschaftlichen Elite auf die gesamte Gesellschaft der Perestroika-Jahre projiziert, zum anderen das tradierte Muster einer Kluft zwischen den „Intellektuellen“ und der (sowjetnostalgischen) „Gesellschaft“ als Erklärung für das Scheitern der Aufarbeitung der Vergangenheit angeführt (S. 252). Dagegen ließe sich einwenden, dass die Konstruktion der Trennlinie „Volk“ vs. „Intelligenzija“ als Erklärung für alles Übel in der russischen Geschichte weder konstruktiv noch lehrreich ist.

Es bleibt festzustellen, dass nicht alle Versprechen der Herausgeber aus der Einleitung eingelöst werden – so bleibt im Unklaren, warum der Kommunismus „eine Geschichtskultur sui generis“ ist (S. 21). Auch die im Untertitel angekündigte „Weltgeschichte“ kommt lediglich in drei Beiträgen (Gorny, Hilger, Koenen) vor. Dafür erfährt man viel über die sowjetische Geschichte. Etwas auffällig ist auch die Disparität der Perspektiven und Ansätze in den Beiträgen: So sind einige als Forschungsbeiträge mit beeindruckender empirischen Dichte aufgebaut, einige in schöner wissenschaftlicher Prosa und einige zum großen Teil als eigene Memoiren geschrieben. Das Buch kann sich somit zwar an eine breite Leserschaft richten, wirkt aber für einen Teil als zu „trocken“ und für den anderen Teil als zu „profan“.

Doch alles in allem bietet der Sammelband dank der Vielfalt an Perspektiven eine anregende und abwechslungsreiche Lektüre und zeichnet sich auch unter vielen Publikationen zur Revolution aus.

Anmerkungen:
1 Karl Schlögel, Das sowjetische Jahrhundert. Archäologie einer untergegangenen Welt, Berlin 2017.
2 Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until it Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton, NJ 2006.
3 Ekaterina Makhotina, Erinnerung an die Russische Revolution im heutigen Russland. in: APuZ, Nr. 34–36 (2017), S. 27–32.

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