V. Liotsakis: Redeeming Thucydides' Book VIII

Cover
Titel
Redeeming Thucydides' Book VIII. Narrative Artistry in the Account of the Ionian War


Autor(en)
Liotsakis, Vasileios
Reihe
Trends in Classics – Supplementary Volumes 48
Erschienen
Berlin 2017: de Gruyter
Anzahl Seiten
X, 201 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Hans Kopp, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin

Seit Wilamowitz’ Verdikt über das achte Buch des thukydideischen Geschichtswerkes, es sei nicht nur ein unfertiges (was es ja objektiv ist, bricht es doch mitten im Satz ab, 8,109), sondern auch ein skizzenhaftes Gebilde, dessen vorliegende Gestalt gründliche Überarbeitung kaum überlebt hätte,1 gab es etliche Versuche der Rehabilitation, wobei vor allem die Untersuchungen von Colin Macleod, W. Robert Connor, Hartmut Erbse und Tim Rood herausstechen.2 Erbses Urteil, das achte Buch sei keineswegs ein skizzenhafter Trümmerhaufen, sondern „ein Meisterwerk“, das, „was die Bewußtheit, ja die raffinierte Kunst der Komposition betrifft, den besten Teilen der ersten sieben Bücher gleichwertig, wenn nicht überlegen“ sei,3 darf mittlerweile beinahe als neue communis opinio bezeichnet werden. Generell stieg die Reputation des achten Buches mit dem Siegeszug der von der Narratologie beeinflussten Thukydides-Lesarten merklich an, und in diesen Trend ordnet sich auch die schmale Untersuchung von Vasileios Liotsakis ein, entstanden aus einer bei Antonios Rengakos verfassten klassisch-philologischen Dissertation.

Liotsakis’ Untersuchung ist – nach einer Einleitung, in der ein Abriss der Forschungsgeschichte zu Buch 8 und eine Darlegung der Methodik geboten werden – nach bestimmten Motiv- und Erzählfigurationen gegliedert. Zunächst nimmt er sich der Berichte um die Revolte von Chios an, als Beispiel für „revolt-type narratives“ im Werk. Dabei lautet die zentrale These, dass Thukydides auch in Buch 8 das Geschehen dort, wo er gleiche Strukturen des historischen Prozesses erkannte, mit exakt denselben narrativen Mitteln akzentuierte wie in den ‚fertigen‘ und durchgearbeiteten Büchern zuvor, was zugleich formaler Kniff und Mittel zur Sensibilisierung des Lesers sei (S. 21). Um nur ein Beispiel dieser Methode zu geben: Der auffallende Fokus auf Chios in den Kapiteln 1–24 verdanke sich nicht etwa, wie oft vermutet, dem Umstand, dass Thukydides hauptsächlich parteiische Informationen aus Chios zur Verfügung gestanden hätten, sondern vielmehr der ‚typischen‘ Struktur der „revolt-type-narratives“, die stets besonderen Fokus auf die zentralen Städte eines Krisenherdes legen und dabei Nebensächliches vernachlässigen würden (S. 27). In vergleichbarer Weise wird auch das Fehlen von Reden in diesen Kapiteln durch die narrativen Eigenheiten dieses ‚Typus‘ erklärt (S. 32). Im Anschluss wendet sich Liotsakis der Frage zu, welchen spezifischen Effekt derartige strukturelle Parallelen im Falle der Chios-Kapitel von Buch 8 zu erfüllen haben. Ihm zufolge sei dieser ein doppelter: Einerseits würden sie den Kommentar in Buch 4, das Andenken an Brasidas habe auch nach Sizilien noch den Mut zur Revolte bei Athens Verbündeten gestärkt (4,81,2–3), bestätigen (S. 46–59); andererseits sei das Chios-Narrativ eine Vorausdeutung der Niederlage der Spartaner in der Seeschlacht bei Kyzikos 410, die freilich von Thukydides nicht mehr aufgezeichnet wurde. Strukturelle Ähnlichkeiten würden dies jedoch nahelegen: Dem Entschluss der Spartaner zum Krieg 431 und ihrem Friedensgesuch nach Sphakteria 425 entsprechen nun ihr (erneuter) Kriegsentschluss nach Sizilien, die Unterstützung von Chios und ihr Friedensgesuch nach der verlorenen Seeschlacht bei Kyzikos (S. 59–62).

Die folgenden Kapitel 2–4 entwickeln die These, dass der Rest des achten Buches eine durchgestaltete und auf das kompositorische Ziel der Seeschlacht bei Kynossema zusteuernde Einheit bildet, geschrieben, um das Wiedererstarken athenischer Seemacht nach der Niederlage in Sizilien ins Rampenlicht zu rücken. Wieder werden narrative Muster und Typologien beschrieben: Dem Ereigniszusammenhang ‚Niederlage der Spartaner bei Sphakteria / Sieg der Spartaner bei Mantineia‘ entspreche typologisch im Falle der Athener die Gegenüberstellung der Schlachten im Hafen von Syrakus und bei Kynossema. Diese strukturelle Verwandtschaft versucht Liotsakis anhand mehrerer narrativer Muster zu veranschaulichen: das vorherige kleinere Gefecht, das dem größeren vorausgeht (Aigition/Sphakteria für Sparta, Erineos/Syrakus für Athen); die große Niederlage, die folgt, und ähnliche Darstellungselemente in beiden Fällen; die eindringlich geschilderte Niedergeschlagenheit der Verlierer; die Veranschaulichung des abhandengekommenen Kampfesmutes der Geschlagenen durch Ereignisberichte; schließlich gewisse Ähnlichkeiten im Bericht über das schlussendliche ‚Comeback‘ (Mantineia hier, Kynossema dort), besonders hinsichtlich Thukydides’ eigener Kommentierung des Geschehens (5,75,3 mit 8,106,1–2). Als separates Kapitel wird anschließend noch die erzählerische Verzögerung des Ereignisablaufs vor der Schlacht als einigendes Element der Berichte des Typs „the loss of prestige and recovery“ ausgemacht und eine dahingehende strukturelle Ähnlichkeit zwischen der Schilderung des Weges hin zur Schlacht bei Mantineia und dem hin zur Schlacht bei Kynossema anhand von zwölf Etappen des narrativen ‚Hinauszögerns‘ erläutert. Der derart gestaltete Bericht sei gerade nicht unfertig, denn durch die Abschweifungen und Verzögerungen in der Erzählung baue Thukydides bewusst eine, den Leser mitunter verwirrende Spannung auf, die auf das zentrale Ereignis, die abschließenden Schlachten, vorbereite (S. 138–140).

Im Schlusskapitel stehen schließlich die Schlachten vor den Mauern von Milet und bei Kynossema im Zentrum, die in ihrer strukturellen Gestaltung detailliert erklärt werden. Zudem zieht Liotsakis Verbindungen zu zwei früheren Seeschlachten: Durch kompositorische Anknüpfungspunkte zwischen den Seeschlachten bei Erineos und Kynossema habe Thukydides einen großen Bogen gespannt, der von übertrieben hohen Erwartungen der Athener an sich selbst (Erineos) über die größtmögliche Niederlage (Syrakus) hin zum Wiedererstarken und nun gemäßigterer Selbstsicht führe (Kynossema). Durch den Vergleich mit der Darstellung der beiden Schlachten bei Naupaktos in Buch 2 wiederum werde deutlich, dass Thukydides Kynossema bewusst als Moment quasi-apollinischer Selbsterkenntnis der Athener gestaltet habe: Im Moment des Sieges würden die Athener (und letztlich der Leser) wieder aufhören, die Flotte der Peloponnesier für einen Gegner auf Augenhöhe zu halten (8,106,1–2), und sich (endlich) der „old sublime Athenians of the battle of Naupactus“ (erneut) bewusst werden (S. 164). Damit sei die kurzfristige Entfremdung der Athener von ihrer eigenen Stärke zur See wieder aus dem historischen Bericht getilgt.

Durch seine ungemein detaillierte und stets übersichtliche Studie hat Liotsakis ein Werk verfasst, das zwar keine radikal neuen Einschätzungen anstoßen wird, das aber dennoch einen originellen Beitrag zur anhaltenden Neubewertung des achten Buches bietet. Es gelingt ihm zumeist überzeugend, die formalen Strukturen und Muster im Text zu veranschaulichen, auch wenn manches – vor allem die These, die Revolte von Chios präfiguriere im Bericht die Niederlage der Spartaner bei Kyzikos – im Spekulativen verbleiben muss (wie Liotsakis selbst zugesteht). Etwas weniger überzeugend gerät Liotsakis’ Verknüpfung dieser kompositorischen Gestaltung mit der inhaltlichen Stoßrichtung des gesamten Werkes, bleibt doch eine offensichtlich die Analyse leitende Prämisse ohne Diskussion. Wenn Liotsakis gegen Ende postuliert, die Überlegenheit der Athener zur See sei ein zentrales Konzept des Werkes und Partien wie die „Archäologie“, die „Pentekontaetie“ oder eben der lange Weg hin zu Kynossema in Buch 8 seien geschrieben worden, um diesem Thema Deutlichkeit zu verleihen und Athens Seemacht zu propagieren (S. 159 u. 164), müsste dies doch zumindest problematisiert werden, vor allem, wenn diese Überzeugung als leitende Darstellungsabsicht des Autors Thukydides begriffen wird. Für eine derartige Parteinahme, ja Bewunderung des Thukydides für Athens Größe und Stärke kann man zwar gewiss argumentieren, selbstverständlich ist sie jedoch keineswegs. Auch wenn somit die Analyse des ‚Warum‘ der Komposition des achten Buches mitunter nicht im gleichen Maße zu überzeugen vermag wie die Darstellung des ‚Wie‘, so schmälert dies doch insgesamt den Wert der Untersuchung kaum.

Anmerkungen:
1 Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff, Thukydides VIII, in: Hermes 43 (1908), S. 578–618.
2 Colin Macleod, Thucydides and Tragedy, in: ders., Collected Essays, Oxford 1983, S. 140–158; W. Robert Connor, Thucydides, Princeton 1984; Hartmut Erbse, Thukydides-Interpretationen, Berlin 1989, Kap. I; Tim Rood, Thucydides. Narrative and Explanation, Oxford 1998.
3 Erbse, Thukydides-Interpretationen, S. 66.

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