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Titel
Strahlenmedizin. Krebstherapie, Forschung und Politik in der Schweiz, 1920–1990


Autor(en)
Ingold, Niklaus; Marti, Sibylle; Studer, Dominic
Erschienen
Zürich 2017: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
176 S.
Preis
EUR 38.00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Silke Fengler, Herder-Institut für historische Ostmitteleuropaforschung – Institut der Leibniz-Gemeinschaft

Was hat der Abwurf der Atombomben über Hiroshima und Nagasaki mit der hochtechnisierten Krebsbehandlung zu tun, wie sie heute an vielen Schweizer Spitälern praktiziert wird? Der hier zu besprechende Sammelband geht den historischen Wurzeln der modernen Radioonkologie bzw. Nuklearmedizin und Strahlentherapie in der Schweiz nach und kommt mitunter zu erstaunlichen Ergebnissen. Medizinische Anwendungen verschiedener Arten ionisierender Strahlung wurden und werden auch in Deutschland wissenschaftshistorisch erforscht.1 Dabei stehen strahlentherapeutische Konzepte zur Behandlung bösartiger Tumore und die dabei eingesetzten Teilchenbeschleuniger im Mittelpunkt des Forschungsinteresses. Niklaus Ingold, Sibylle Marti und Dominic Studer, ein Autorenteam aus der Wissenschafts- und Medizingeschichte, fokussieren weniger auf die Mikroebene medizinisch-physikalischer Experimentalsysteme im Verständnis Hans-Jörg Rheinbergers. Vielmehr zeigen sie, wie sich in der Schweiz unter dem Einfluß wechselnder politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen jeweils spezifische sozio-technische Netzwerke im Latourschen Sinne rund um die Strahlenmedizin entwickelten, welche die oft widerstreitenden Interessen der beteiligten Akteure zu bündeln vermochten.

In der Schweiz finden sich einige Elemente, die für die Strahlenmedizin allenthalben charakteristisch sind. Dazu zählt der interdisziplinäre Kontext, der dieses medizinische Gebiet bis heute prägt. Die Impulse, um stark ionisierende Strahlung zu kontrollieren und für radiotherapeutische Zwecke nutzbar zu machen, kamen überwiegend aus der Physik. Wo und wie rasch sich die Strahlenmedizin weiterentwickeln konnte, hing indes von staatlichen und zuweilen auch privaten Akteuren ab. Sie stellten die dringend benötigten materialen und finanziellen Ressourcen bereit und verfolgten dabei ihre eigene, nicht zwingend medizinisch begründete Agenda. Die föderalistischen Strukturen der Schweiz hemmten die Ressourcenbeschaffung stärker als andernorts. Erst in den 1970er-Jahren setzten sich interkantonale Absprachen durch, die eine effizientere Verteilung und Nutzung der kostspieligen Anlagen für die hochspezialisierte Strahlenmedizin sicherstellten.

Der Medizinhistoriker Dominic Studer beleuchtet in seinem Beitrag die Anfänge der Strahlenmedizin, die auf Radium als natürliche Quelle ionisierender Strahlung setzte. Die Grenzen zwischen medizinisch indizierten Therapieformen und mitunter skurril anmutenden Wellness-Anwendungen radioaktiver Strahlung waren in diesem Stadium noch fließend. In den von Österreich-Ungarn und später den USA kontrollierten Radiummarkt drang zu Beginn der 1920er-Jahre das belgische Montanunternehmen Union Minière du Haut-Katanga ein. Die Union Minière drängte ihre Konkurrenten binnen kürzester Zeit mit Kampfpreisen aus dem Markt. Sie hatte ein vitales Interesse daran, die medizinische Nutzung des Radiums, das bis dahin aufgrund horrender Preise wohlhabenden Patientinnen und Patienten vorbehalten war, zu demokratisieren. Dies kam dem Interesse der drei regionalen Radiumstiftungen der Schweiz entgegen, die sich durch die Kontrolle über ein Radiumpräparat Prestigegewinne erhofften. Öffentliche Spendenaufrufe brachten ihnen genügend Mittel ein, um Radium aus belgischer Produktion zu erwerben. Die Stiftungen betrieben fortan in fünf Schweizer Städten Radiumstationen, die radioaktive Präparate verliehen und sich gegenseitig Konkurrenz machten. Indem sie sich in den innermedizinischen Streit zwischen Chirurgen und Radiologen um den Zugang zum Radium einmischten, versetzen sie die überkommene Spitalshierarchie in Unruhe. Letztlich trugen sie als zentraler Knotenpunkt des Wissens über Strahlen aber wesentlich dazu bei, die Radiumtherapie an die Universitätsmedizin anzubinden. Rund um das Radium entstand in der Schweiz erstmals ein Netzwerk aus Ärztinnen, Physikern, Privatpersonen und Unternehmen, die jeweils eigene Interessen verfolgten. Insgesamt trugen alle ein Stück weit dazu bei, die Strahlentherapie als medizinisches Fachgebiet in der Schweiz fortzuentwickeln.

Die Strahlenforschung bekam nach dem Zweiten Weltkrieg in der Schweiz ein völlig neues Gewicht. Das Militär entdeckte die Kerntechnik als kriegswichtige Schlüsseltechnologie, wie die Wissenschaftshistorikerin Sibylle Marti in ihrem Beitrag aufzeigt. Mit dem Konzept der totalen Landesverteidigung suchte die Schweiz eine Antwort auf die nukleare Bedrohung im Kalten Krieg. Es galt gegenüber den anglo-amerikanischen Alliierten, die ihr nukleares Know-how anfangs mit einem Embargo belegten, autark zu werden. Das Schweizer Militär interessierte sich nicht nur für mögliche Gesundheitsschäden, die Schweizer Soldaten und die Zivilbevölkerung durch einen Atombombenangriff erleiden würden. Auch die Entwicklung einer eigenen Atombombe stand im Raum. Um die Forschung voranzutreiben, beteiligte sich die Schweizerische Studienkommission für Atomenergie als Teil des Eidgenössischen Militärdepartments finanziell am Bau eines Teilchenbeschleunigers. Das vom Schweizer Elektrotechnik-Konzern Brown, Boveri & Cie. (BBC) entwickelte Betatron ging 1953 am Röntgeninstitut des Inselspitals Bern in Betrieb. Das Betatron unterstützte einerseits neue onkologische Behandlungsmethoden wie die Tiefenbestrahlung; andererseits lieferte es künstliche Radioisotope für die radiobiologische Forschung. Ähnlich wie im Fall des Radiums verbanden sich mit der neuen künstlichen Strahlungsquelle die Interessen unterschiedlichster ,stakeholder’. Das Inselspital wollte das Gerät für medizinische Zwecke nutzen und neue diagnostische Methoden erproben. Die Universität Bern als übergeordnete wissenschaftliche Institution unterhielt zahlreiche Forschungskooperationen, durch die medizinische und naturwissenschaftliche Erkenntnisse aus dem Röntgeninstitut in den internationalen Wissenschaftsdiskurs eingespeist wurden. Der BBC wiederum ging es darum, unterschiedliche Anwendungsbereiche des Betatrons auszuloten. Das Streben von Wissenschaft und Industrie nach einem transnationalen Austausch von Know-how widersprach der vom Staat erwünschten autarken Wissensproduktion diametral. Die zivilen Anliegen verdrängten unter dem Eindruck des Atoms-for-Peace-Programms der USA allmählich militärische Interessen. Dies spiegelte sich in der Gründung der staatlichen Kommission für Atomwissenschaft 1958 wider, welche die Tracer-Methode mit überdurchschnittlich hohen Geldmitteln förderte. Zu Beginn der 1960er-Jahre stiegen der unabhängige Schweizerische Nationalfonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung (SNF) und die ETH Zürich in die medizinische Strahlenforschung ein. Sie finanzierten auch die Einrichtung der physikalischen Versuchsanstalt des Schweizerischen Instituts für Nuklearforschung in Villigen/Aargau mit.

Der Medizinhistoriker Niklaus Ingold nimmt in seinem Beitrag das an die Hochenergiephysik angrenzende Technologiefeld der Computertechnik in den Blick. Diese wurde für radioonkologische Therapieformen in den 1970er- und 1980er-Jahren zunehmend relevant. Im Kern ging es darum, strahlentherapeutische Eingriffe mit Hilfe des Computers besser auf den einzelnen Patienten abzustimmen und Strahlenschäden zu vermindern. Bei der modernen Strahlentherapie lokalisiert der Computer den Tumor, legt den Bestrahlungsplan fest, manipuliert die Strahlung und überwacht auch den eigentlichen Eingriff. Um den Computer entwickelte sich abermals ein sozio-technisches Netzwerk, das die interdisziplinäre Zusammenarbeit in der Strahlenklinik veränderte. Physikerinnen und Physiker, die den Computereinsatz in der Radiologie und Nuklearmedizin vorantrieben, sahen ihre Rolle aufgewertet. Die computergestützte Therapie veränderte das Arzt-Patienten-Verhältnis und heizte die gesellschaftliche Debatte über eine zunehmend hochtechnisierte Medizin in der Schweiz an. Der wachsende Kostendruck durch teure, immer leistungsfähigere Teilchenbeschleuniger traf in den 1970er-Jahren auf politische Planungseuphorie. Das föderalistisch organisierte Gesundheitswesen der Schweiz wurde neu strukturiert und stärker zentralisiert. Zugleich nahmen staatliche Stellen bei der Regulierung der Röntgen- und Nukleartechnologie endgültig das Heft in die Hand, angetrieben von der Furcht, dass die stark ionisierende Strahlung in der Bevölkerung genetische Schäden hervorrufen könnte.

Der Sammelband liefert ein eindrückliches, auch für medizinische Laien gut nachvollziehbares Gesamtbild der Entwicklung, welche die Strahlenmedizin in der Schweiz im 20. Jahrhundert nahm. Die Autorin und die beiden Autoren werden dabei ihrem eigenen Anspruch, die jeweiligen lokalen Verhältnisse – insbesondere im Inselspital Bern und im Universitätsspital Zürich – auf schweizweite und transnationale Zusammenhänge zu beziehen, durchaus gerecht. Somit können ihre Beiträge künftiger Forschung, die das Wechselspiel von Hochenergiephysik und Medizin untersucht, als wertvoller Anknüpfungspunkt dienen. Dem Buch ist eine breite Leserschaft zu wünschen.

Anmerkung:
1 So etwa im DFG-Projekt „Beschleunigertechnologie und Partikeltherapie in Deutschland im 20. Jahrhundert“ an der Universität Lübeck: http://gepris.dfg.de/gepris/projekt/274589745 (07.05.2018).

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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