A. Bihrer u.a. (Hrsg.): Bischofsstadt ohne Bischof?

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Titel
Bischofsstadt ohne Bischof?. Präsenz, Interaktion und Hoforganisation in bischöflichen Städten des Mittelalters (1300–1600)


Herausgeber
Bihrer, Andreas; Fouquet, Gerhard
Reihe
Residenzforschung. Neue Folge: Stadt und Hof 4
Erschienen
Ostfildern 2017: Jan Thorbecke Verlag
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 58,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sabine Arend, Forschungsstelle „Theologenbriefwechsel im Südwesten des Reichs in der Frühen Neuzeit (1550-1620)“, Heidelberger Akademie der Wissenschaften

Im Hoch- und Spätmittelalter erlangten zahlreiche Städte politische Autonomie von ihrem bischöflichen Stadtherrn, sie waren Bischofsstädte ohne Bischof. Unter diesem – allerdings mit einem Fragezeichen versehenen – Titel versammelt der Band die Aufsätze einer Tagung, die im September 2015 durchgeführt wurde als gemeinsame Veranstaltung der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und des ebenfalls in Kiel angesiedelten Forschungsprojekts „Residenzstädte im Alten Reich (1300–1800)“ der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen.

Das in der Geschichtswissenschaft bis heute bemühte Paradigma der freiheitsliebenden Bürgergemeinde, die den Bischof aus seiner Kathedralstadt vertrieb und die sich somit auch von dessen Stadtherrschaft befreite, zieht Andreas Bihrer in seinem einleitenden Beitrag in Zweifel zugunsten eines differenzierten Zugriffs, der Fallstudien zu einzelnen Bischofsstädten auswertet und mit aktuellen Forschungsperspektiven – etwa zur symbolischen Kommunikation, zur Hof- und Residenzenforschung oder zur Kulturgeschichtsschreibung – verbindet. Die 12 Beiträge des Tagungsbandes bieten Modifikationen dieses traditionellen Narrativs, da sie zeigen, wie verschieden die historischen Gegebenheiten waren. Die Aufsätze fragen aus unterschiedlichen Blickwinkeln danach, welche Rolle die Bischöfe in den Kathedralstädten spielten, welche Bedeutung ihnen beigemessen bzw. von ihnen beansprucht wurde, welche Gestaltungsmöglichkeiten sie nutzen konnten, in welcher Interaktionen sie zur Stadtgemeinde standen und welche personellen und wirtschaftlichen Verflechtungen es mit dieser gab.

Gerrit Jasper Schenk eröffnet den Band mit einer Untersuchung der Bischofssitze Straßburg und Worms. Hier blieben die Bischöfe auch nach ihrem Auszug auffallend präsent, sei es durch Bauwerke, performative Akte (Prozessionen) oder – wie im Falle von Worms – durch die gerade aus der Distanz intensiv betriebene politische Einflussnahme auf den städtischen Rat. Schenk führt eindrucksvoll vor Augen, welche immense Bedeutung der öffentliche Raum für die Inszenierung von Herrschaft und Machtanspruch hatte. Die Studie von Gerald Schwedler knüpft daran an, indem er die Bedeutung des Glockenläutens und somit der akustischen Raummarkierung in der Auseinandersetzung zwischen Bischof und Stadtgemeinde vorstellt: In Passau kämpfte die Stadtgemeinde seit dem 13. Jahrhundert darum, die Rathausglocken zu läuten. Erst 1409 wurde der Konflikt gerichtlich zugunsten der Stadt entschieden. Dem Rat wurde damit nicht nur akustische Hoheit, sondern auch symbolisch die politische Handlungsfähigkeit zugestanden.

Oliver Plessow geht dem Antagonismus von Bischof und Stadt in der Historiographie nach. Die Diözesangeschichtsschreibung in den Bistümern Verden, Minden, Paderborn, Hildesheim, Halberstadt, Münster und Osnabrück trug gleichermaßen zur Stadtgeschichte wie die städtische Historiographie zur Bistumsgeschichte bei, beide Linien durchdringen sich in vielfältiger Weise. Auch Martina Stercken stützt sich auf die Geschichtsschreibung und untersucht die Darstellung des St. Galler Fürstabts Ulrich Rösch (1463–1491) in Vadians „Größerer Chronik der Äbte“. Vadian, der der städtischen Führungsschicht entstammte und für ein stadtbürgerliches Publikum schrieb, inszenierte den Konflikt: Der Fürstabt erscheint als machthungriger Unruhestifter, gegen den die St. Galler Bürger zu Recht vorgegangen seien, indem sie seine Residenz in Rorschach zerstört hätten.

Christina Lutter und Elisabeth Gruber lenken den Blick auf den österreichischen Raum, der bis Ende des 15. Jahrhunderts größtenteils zu den Bistümern Passau und Freising gehörte. Außer in den beiden Kathedralstädten hielten sich die Bischöfe in ihren Nebenresidenzen St. Pölten und Waidhofen auf, in denen sich ebenfalls vielfältige Interaktionen zwischen Bischof und Stadt erkennen lassen. Der Zentralort Wien entwickelte sich seit Mitte des 12. Jahrhunderts zur herzoglichen Residenzstadt, und die Gründung der eigenständigen Bistümer Wien bzw. Wiener Neustadt erfolgte 1469/80 weitgehend unabhängig von der städtischen Entwicklung.

Sven Rabeler führt neben Bischof und Stadtgemeinde weitere Machtfaktoren vor Augen. So boten die Reichsstädte Speyer und Worms – um 1300 Hauptorte im Reich – sowohl den Bischöfen als auch den Königen Raum für ihre Herrschaftsinszenierungen. Rabeler zeigt, dass geistliche und weltliche Herrscher sowie die Stadtgemeinde nicht nur auf verschiedenen Konsens- und Konfliktebenen miteinander kommunizierten, sondern dass die Akteure auch – je nach Interessenslage – flexibel die Seiten wechselten.

Einen weiteren Faktor bringt Anja Vosshall ins Spiel. Sie untersucht für Lübeck die Kräfteverhältnisse zwischen Bischof, Stadtgemeinde und Domkapitel. Der Bischof und die Domherren hatten die Stadt zu Beginn des 14. Jahrhunderts nach der gewaltsamen Auseinandersetzung mit der Bürgergemeinde verlassen. Während das Domkapitel kurz darauf nach Lübeck zurückkehrte, blieb der Bischof seiner Kathedralstadt dauerhaft fern. Trotz der räumlichen Distanz war er in Lübeck jedoch weiterhin präsent, was auch darauf zurückzuführen ist, dass die Akteure – Bischöfe, Domherren und Vertreter der städtischen Führungsschicht – durch verwandtschaftliche, soziale und ökonomische Bande miteinander verflochten waren.

Auch Christian Hesse untersucht personelle Verflechtungen, wobei er den Fokus auf das bischöfliche Verwaltungspersonal legt, das sich zum Teil aus den residenz- und amtsstädtischen Eliten rekrutierte. Für das Hochstift Basel arbeitet er heraus, dass sich die personelle Schnittmenge im Bereich der Verwaltung im Spätmittelalter verkleinerte, dass sie jedoch auf anderen Ebenen – diplomatischen Missionen von Bischof und Stadt, Darlehensgewährung, Besitz von Grundstücken oder Verbindungen zur Universität – weiterhin nennenswert blieb.

In der Bischofsstadt Osnabrück kehrte nach der Stiftsfehde während der langen Sedenz Bischof Konrads III. von Diepholz (1455–1482) eine Zeit der relativen Ruhe ein, wie Sabine Reichert in ihrem Beitrag herausstellt. Ertwin Ertmann (*ca. 1430), Bürgermeister, bischöflicher Rat und Chronist, zeichnet in seiner Historiographie ein Bild des konstruktiven Miteinanders von Bischof und Stadtgemeinde: Der bischöfliche Stadtherr erscheint nicht als Gegenpol zur Stadtgemeinde, sondern als geschätztes und kooperativ agierendes Stadtoberhaupt.

Am Beispiel der Erzbistümer und Bistümer Lüttich, Straßburg, Metz, Mainz, Worms, Speyer, Toul und Köln untersucht Michel Pauly die Beteiligung der Bischöfe an der Stiftung und Leitung von Hospitälern. Obwohl die Bischöfe seitens des Kirchenrechts grundsätzlich zur Armenfürsorge verpflichtet waren, nahm die Zahl der Hospitäler erst im 13. Jahrhundert zu, als die Städte wirtschaftlich und demographisch prosperierten. Vielerorts gelang es den Magistraten, die Hoheitsrechte über die Hospitäler an sich zu ziehen, so dass den Bischöfen lediglich die geistliche Aufsicht blieb.

Thomas Wetzstein untersucht für Konstanz und Eichstätt die Interdependenzen zwischen bischöflicher Jurisdiktion und städtischer Autonomie. Während der Konstanzer Diözesan seit Ende des 14. Jahrhunderts nicht mehr an der weltlichen Rechtssprechung der Stadt beteiligt war und die Stadtgemeinde sogar die Blutgerichtsbarkeit an sich ziehen konnte, blieb der Eichstätter unvermindert im Besitz sämtlicher Gerichtsrechte.

Einen Blick auf die ökonomischen Verhältnisse wirft schließlich Gerhard Fouquet in seiner Untersuchung zur Haushaltsführung des Speyerer Bischofs Matthias Ramung (1464–1478). Zu Beginn von dessen Amtszeit lag das Hochstift finanziell am Boden, gegen Ende hatte sich die Stiftsökonomie in bescheidenem Maße erholt. Die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit stand jedoch immer noch deutlich hinter der der Reichsstadt zurück und der Bischof konnte auch aufgrund dessen gegenüber der Stadt nur in engen Grenzen agieren.

Der Tagungsband, der erfreulicherweise bereits anderthalb Jahre nach der Veranstaltung vorgelegt wurde, leuchtet das Thema der Kräfteverhältnisse in Bischofsstädten anhand zahlreicher Fallbeispiele aus. Dabei sind die personellen Verflechtungen und die Überschneidung von Klientelkreisen zwischen Bischof, Bischofshof, Domkapitel und städtischen Eliten ein in vielen Beiträgen wiederkehrendes Thema. Daneben beleuchtet der Band wirtschaftliche Faktoren, gerichtsrechtliche Kompetenzen sowie politische Machtverhältnisse innerhalb der Kathedralstädte sowie bischöflicher Nebenresidenzen. Anhand von Rechtsdokumenten, normativen Quellen sowie historiographischen Aufzeichnungen entsteht ein differenziertes Bild von Bischofsstädten – vermeintlich ohne Bischof –, mit dem das alte Narrativ von der Unabhängigkeitsbewegung der Bürgerschaft gegenüber dem bischöflichen Stadtherrn überholt wird.

Der in seiner inhaltlichen Breite sowie exemplarischen Tiefe überaus gelungene Band besticht zudem dadurch, dass jeder Beitrag mit einem separatem Quellen- und Literaturverzeichnis versehen wurde, das einen raschen Überblick für vertiefende Studien vermittelt.

Wie Andreas Bihrer in seiner Einleitung betont, soll der vorliegende Sammelband lediglich eine „erste Kartierung“ der differenzierten Sicht des Themas bieten. Es steht zu vermuten, dass der Band mit seinen auf vielfältige Weise anregenden Aufsätzen dazu beitragen wird, die Frage nach dem Kräfteverhältnis zwischen Bischof und Stadt auch künftig – erweitert um zusätzliche inhaltliche Aspekte sowie räumliche und zeitliche Dimensionen – im Fokus der Forschung zu halten.

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