U. Krasberg: Griechenlands Identität

Titel
Griechenlands Identität. Geschichte und Menschen verstehen


Autor(en)
Krasberg, Ulrike
Erschienen
Frankfurt am Main 2017: Größenwahn Verlag
Anzahl Seiten
327 S.
Preis
€ 16,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claus Deimel, Staatliche Ethnographische Sammlungen Sachsen

Ulrike Krasberg geht es in ihrem Geschichtsbuch um die Verdeutlichung der romäischen bzw. byzantinischen Seite der Identität der Griechen als Nachfahren der antiken Hellenen. Das heute noch vielfach als richtig verstandene und als allgemeingültig zu bezeichnende „Griechenlandbild“ entstand in einem rund 200 Jahre währenden nationalistischen Prozess und wurde von westeuropäischen Griechenlandschwärmern (die deutschen Humanisten) zutiefst beeinflusst. Dabei war nicht unerheblich, dass neben einer kleinen adligen (oftmals nicht im Land ansässigen) griechischen Schicht auch deutschsprachige, besonders bayerische Philhellenen im frühen 19. Jahrhundert dieses neuhumanistische, mit der Gräzisierung von Namen einhergehende Konstrukt geschaffen haben.

Die Autorin arbeitet an einem sehr viel differenzierteren Bild. Krasberg kann auf viele Jahre des Zusammenlebens mit Griechen und eine lange ethnologische Forschung in Griechenland zurückblicken. In zahlreichen Beispielen erzählt sie anschaulich von ihrem authentischen „Greek way of life“ (S. 180f.) im Gegensatz zum ideologisch formulierten Hellenentum und legt dar, dass in der griechischen Wirklichkeit die romäische Lebensrealität gleichbedeutend ist mit der Nationalideologie von „den“ Griechen.

Hierzu geht sie weit in die Geschichte des osmanischen Reiches und seiner vielkulturellen Horizonte zurück: Die Romäer, die Byzantiner, formten während der sogenannten makedonischen Renaissance (S. 185, 188) im 9. und 10. Jahrhundert ein multiethnisches Christentum mit Konstantinopel als Hauptstadt und charakterisieren historisch der Übergang von der Antike bis ins moderne christliche Zeitalter. Das Romäische, die Kultur des sogenannten einfachen Volkes, ist eine andere Kultur als die einer historisch kleinen Gruppe von Intellektuellen und Adligen auf der Suche nach „der“ hellenischen Identität – zur Ausformulierung des griechischen Nationalbewusstseins. Das Romäische bildet den noch heute feststellbaren kulturellen Horizont des vor allem ländlich-verwandtschaftlich geprägten Alltagslebens in Griechenland, so die Autorin. Ausdruck „romäischer Identität“ sind u.a. die Rembetika-Lieder (S. 87), neben vielen im Alltagsleben feststellbaren familiären Beziehungen. Letztere wurden in der besonderen Lage Griechenlands mit Beginn der „Griechenlandkrise“ wieder deutlich, indem die traditionelle Kleinfamilie für die Sicherung der extrem erschwerten Lebensgrundlagen sorgen muss. Die von Krasberg beschriebene erweiterte Kleinfamilie ist demnach weniger idealtypisch hellenistisch als erwartet (S. 223f.).

Die „imaginierte orientalische Überfremdung“ (S. 107) ist die andere Seite eines politisch verwendeten griechischen Nationalismus und dessen populistischem Negativbild: der Turkokratia (S. 104), die gefürchtete Türkenherrschaft, das osmanische Reich – mit den vielen hellenistischen Märtyrer-Heiligen und den kirchlichen Propagandakonstrukten über angeblich nicht orthodox-christliche Lebensformen während dieser Zeit des Osmanischen Reiches. Zum griechischen Nationalismus gehört ebenso die Aktivierung historischer Personen, um die „direkten Erben der Antike“ vom „orientalischen Despotismus“ zu „reinigen“ bzw. zu „befreien“ (S. 116). Teil dessen ist z.B. die klischeehafte Verhöhnung des albanischstämmigen Paschaliken Tepedelenli Ali Pascha (1741–1822) als grausamer „Orientale und Dieb“ zu einer literarisch umfunktionierten Gruselfigur, die auch heute noch in Meinungsbildern vom „Orientalen“ sichtbar werde.

Ulrike Krasberg unterscheidet demnach zwischen dem ideologischen und staatsbildenden Prozess von einer gewünschten Ablösung des modernen Griechenlands aus seiner osmanischen Geschichte und den zum Trotz immer noch wirksamen alltagspraktischen Traditionen. Das Buch baut mit zahlreichen Beispielen systematisch aus der bis in das byzantinische Zeitalter und dem osmanischen Reich zurückgehenden Geschichte Griechenlands und der historisch neueren Idee von einem hellenistischen Nationalstaat auf. Bedauerlich ist nur, dass in diesem detailreichen Werk kein Register der zahlreich verwendeten Namen und Begriffe vorliegt.

Zentral für Ulrike Krasbergs Forschungen war also die „Wiederentdeckung des byzantinischen Zeitalters“ (S. 165–209) und der Nachweis noch vorhandener Beziehungen aus jener Zeit in der soziographischen Beschreibung von rezenten „Familien-Geschichten“ (S. 220–297). Mit der Kritik von der zum Mythos verdichteten Ideologie des Hellenismus wird die These von der Künstlichkeit einer nationalistischen Ideologie und zum Teil auch Propaganda von „dem“ Griechenland belegt. In Wirklichkeit seien die Griechen allerdings „ganz anders, als man sie sich als Erben der Antike vorstellt und zu kennen meint“ (S. 304). Zum Beweis werden zahlreiche authentische Beispiele aus dem Familienleben für dieses „Ganz-Anders-Sein“ der Griechen vorgelegt. Somit erhebt Ulrike Krasberg auch den Anspruch, eine andere Geschichte der aktuellen Lebenswelt darzustellen, als sie durch verschiedene Medien bekannt wurde und die heutige allgemeine Meinung über Griechenland prägt.

Ziel des Buches ist, über kulturelle Hintergründe und Zusammenhänge aufzuklären, die in diese allgemeinen Meinungen über Griechenland gerade nicht eingingen, um das Idealbild von den Hellenen nicht zu trüben. Zugleich erkennt Krasberg aber die Dialektik, die zwischen dem Idealtyp von einer „allgemeinen Meinung“ und dem ebenfalls als Idealtyp eingeführten „Ganz-Anders-Sein“ bestehen muss. Zwar hätte die Wiederentdeckung der griechischen Antike etwas Künstliches, wirke zugleich aber auch „fortschrittlich“ (S. 304) als kulturelle Basis der griechischen Nation und wäre demnach ebenfalls Teil der konstruierten Wirklichkeit und nicht nur eine Chimäre. Der Hellenismus ist insofern auch weiterhin gesellschaftliche Realität.

Ulrike Krasberg beschreibt die Problematik eines griechischen Selbstverständnisses im historischen Moment der sogenannten Griechenlandkrise, in der sich „Eigensicht“ und „Fremdsicht“ beständig mischen und als Einzelphänomene kaum noch isolierbar sind. Was letztlich „griechisch“ ist, wer vermag es zu sagen? Die aktuelle Situation des Landes zeigt paradigmatisch, wie schnell sich „Innen“ und „Außen“ verändern können. Es bleiben Riten, Ritenreste, zu Floskeln verkommene Historismen, Ideologien, die sich neu verbinden wollen, aber immer noch dem weithin verbreiteten Denken anhängen, sich vom osmanischen Erbe demonstrativ politisch trennen zu müssen, um u.a. auch westeuropäische Erwartungen zu erfüllen. Gerade mit dieser Erwartungshaltung könnten sich romäische Traditionen und Erfahrungen aber eher noch festigen als sich dem westeuropäischen Mainstream anzuschließen! Krasberg spricht von einem weit verbreiteten Mentalitätswandel im Griechenland dieser Tage: „Vermutlich aber nicht den, den die Experten der wirtschaftlichen und politischen Institutionen in Europa als den ‚richtigen’ erachten.“ (S. 318)

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