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Titel
Filmexil Sowjetunion. Deutsche Emigranten in der sowjetischen Filmproduktion der 1930er und 1940er Jahre


Autor(en)
Hesse, Christoph
Anzahl Seiten
670 S., s/w Abb.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Hartmann, Seminar für Slavistik / Lotman-Institut für russische Kultur, Ruhr-Universität Bochum

Der Ertrag war schmal: Während der Exilzeit in der Sowjetunion 1933 bis 1945 entstanden nur drei Filme mit maßgeblicher deutscher bzw. österreichischer Beteiligung, von denen keiner als filmgeschichtlich herausragend gilt: „Der Aufstand der Fischer“ nach einer Novelle von Anna Seghers (Regie Erwin Piscator, 1934), „Der Kämpfer“ über Georgi Dimitrow als Held des Reichstagsbrandprozesses (Drehbuch und Regie Gustav von Wangenheim, 1936) und „Professor Mamlock“ nach Friedrich Wolfs gleichnamigem Drama (Regie Herbert Rappaport, 1938). Ungleich gewichtiger ist Christoph Hesses aus einem DFG-Projekt hervorgegangene Monografie über das „Filmexil Sowjetunion“ – nicht nur dem Umfang nach. Dem Verfasser ist es gelungen, auch die „unsichtbaren“ Filme des Exils aufzuspüren. Gemeint sind damit die nie in die Kinos oder vielfach nicht einmal vor die Kamera gelangten Projekte, von denen bestenfalls Fragmente, oft nur Drehbücher, Skizzen, Exposés existieren. Damit geht die Arbeit weit über die vorliegende Sekundärliteratur hinaus, die sich zumeist auf einzelne Aspekte, Akteure oder die vorliegenden Filme konzentriert. Entstanden ist so eine eindrucksvolle Geschichte der Filmvorhaben und vergeblichen Bemühungen, auch der Arbeitsprozesse und biografischen Erfahrungen. Gerade im Hinblick auf die Sowjetunion der 1930er-Jahre ist dieser Ansatz produktiv. Aus den nicht verwirklichten Plänen entsteht eine umfassende Chronik der enttäuschten Hoffnungen und vergeudeten Lebenszeit unter den Bedingungen des Stalinismus.

Dabei hatte alles verheißungsvoll angefangen: Mit der Filmgesellschaft der Internationalen Arbeiterhilfe Meschrabpom war 1924 in Moskau ein „internationales, geradezu mondänes Studio“ (S. 13) gegründet worden, in dem später eigens für die Emigranten die Filmfabrik Rot-Front eingerichtet wurde. Nicht nur die Geschäftsform eines deutsch-sowjetischen Joint Venture war innovativ, auch Ausstattung und Vertrieb waren attraktiv, ebenso das Angebot, „Filme zu dringenden politischen Themen der Zeit“ (S. 13) zu drehen. „Der rote Film lockt“, wie eine Berliner Zeitung 1931 verkündete, und etliche Künstler aus Westeuropa folgten diesem Lockruf, sei es aus pragmatischen Gründen, sei es, dass sie von der Sowjetunion die „Erlösung der Menschheit“, zumindest „die Bekämpfung des Faschismus“ (S. 14) erwarteten. Doch war dies nicht die erste Garde der Filmemacher. Die berühmten Regisseure, Kameraleute und Schauspieler des Kinos der Weimarer Zeit zog es eher nach Hollywood. Nach Moskau gingen nur wenige professionelle Filmleute, selbst Piscator und von Wangenheim verdankten ihren Ruf dem Theater. Die meisten waren mit dem Metier, in dem sie sich jetzt versuchten, nicht vertraut; hinzu kam die Unkenntnis der russischen Sprache, die Isolation von den Einheimischen und die Schwierigkeit, sich in diesem so ganz anders gearteten Kulturbetrieb zurechtzufinden – all diese Gründe waren mitverantwortlich dafür, dass nur so wenige Pläne realisiert werden konnten. Hinzu kam, dass sich die Rahmenbedingungen immer wieder grundlegend veränderten: durch die Machtübernahme Hitlers, die zunehmende Verstaatlichung der sowjetischen Filmindustrie und schließlich die Auflösung von Meschrabpom-Film 1936, womit die entscheidende institutionelle Basis für die Projekte der Emigranten „liquidiert“ wurde. Das Filmexil zerfiel, zumal unter den Bedingungen des Terrors: Wer konnte, kehrte dem Land den Rücken, einige wurden verhaftet, andere versuchten, sich in Moskau in ihrem alten oder einem neuen Brotberuf durchzuschlagen. Nur wenigen gelang es, in der sowjetischen Filmindustrie Fuß zu fassen.

Der Begriff „deutsches Filmexil“ wird in der vorliegenden Arbeit denkbar weit ausgelegt und umfasst Emigranten ebenso wie Arbeitstouristen und Passanten („Zaungäste in der Dämmerung“, Kap. XIV), selbst Brecht, der „draußen“ blieb, wird gewürdigt. Kriterien für die Auswahl seien, so Hesse, weder Nationalität noch Staatsbürgerschaft, sondern vor allem die Sprache gewesen, in der sich die Emigranten untereinander verständigten. Auch ungarische Mitglieder der Deutschen Sektion des Sowjetischen Schriftstellerverbands wie Béla Balázs, Julius Hay und Ervin Sinkó werden berücksichtigt, ebenso der Niederländer Joris Ivens – aufgrund seiner Zusammenarbeit mit Hanns Eisler, Gustav Regler und anderen.

Das untersuchte Œuvre ist entsprechend umfassend. Am überzeugendsten sind die Kapitel, die ins Detail gehen, ins Detail gehen können, da genügend Dokumente vorliegen. Anschaulich werden etwa Plan und Scheitern eines Films „Schwarz und Weiß“ über Rassismus und Arbeiterbewegung im Süden der Vereinigten Staaten geschildert, nach einer Novelle von Langston Hughes. Nach einem langen Weg der Frustrationen musste der Regisseur Carl Junghans die Sowjetunion schließlich unverrichteter Dinge verlassen, und auch die eigens aus den USA engagierte, aber schauspielunerfahrene „Negergruppe wurde zurückgesandt ohne verwertet zu werden“ (S. 131), wie es in der bürokratischen Sprache einer Kommission hieß, die die Tätigkeit von Meschrabpom-Film überprüfte. In die Tiefe geht auch, um ein zweites Beispiel zu nennen, das Kapitel über Hans Rodenberg, den „Mann im Hintergrund“, der mit der Auflösung der Filmgesellschaft seinen Posten in der Direktion verlor und trotz allen Antichambrierens auch eigene Filmpläne nicht durchsetzen konnte. Dass Rodenberg – ähnlich wie Béla Balázs – in seinen Berichten und Eingaben das Scheitern auf Sabotage zurückführte und „inzwischen entlarvten Volksfeinden“ anlastete, zeigt symptomatisch, wie weitgehend er die Sprache und das Denken der Zeit internalisiert hatte.

Die Zahl der vorgestellten Filmvorhaben ist überwältigend, wobei die Fülle auch eine gewisse Schwäche der vorliegenden Arbeit bezeichnet. Denn die Projekte, zu denen die Materiallage dürftig ist, bleiben oft notgedrungen blass. Zudem ist der im Grundsatz chronologische Aufbau des Buchs wenig stringent: Die Kapitel stellen teils einzelne Filme, teils Personen – Regisseure, Drehbuchschreiber, Schauspieler – oder Sachthemen in den Mittelpunkt. Dabei kommt es zu zahlreichen Anläufen, Reprisen und ermüdenden Wiederholungen. Eine Straffung hätte dem Buch gut getan: Manche Kapitel wären im Zusammenhang des Filmexils gänzlich verzichtbar gewesen (etwa Kap. II „Urkatastrophen. August 1914 – Oktober 1917 – November 1918 bis Januar 1919“), andere sind allzu weitschweifig geraten, so die über 50 Seiten umfassenden „Vorläufige[n] Instruktionen“ an die Leser oder Kapitel VIII „Exil in der Sowjetunion“, das zeitlich bis auf Verbannung und Zwangsarbeit im alten Russland bzw. das Moskau der Zarenzeit zurückgreift.

Auch die einzelnen Absätze und Sätze ufern oft aus, indem vielfach noch ein thematischer Schlenker, ein zusätzlicher Vergleich und Filmtitel, ein weiteres Zitat eingefügt wird. Der assoziative Stil führt zu eigenwilligen Verbindungen, etwa wenn Stalin in einem Atemzug mit John Wayne genannt wird (S. 60), zur 1937 in der Sowjetunion offiziell wieder eingeführten Folter aus Puschkins „Hauptmannstochter“ zitiert (S. 539) oder die „vielfach verklausulierte Nationalitätenpolitik“ mit dem „deutschen Baurecht“ (S. 137) verglichen wird. Über die Sprache der Stalin-Ära heißt es in charakteristischer Manier: „Was die Kannibalen einer Hippiekommune am Ende von Godards ‚Week-End‘ (1967) ausrufen: dass man die Scheußlichkeit der Bourgeoisie durch noch mehr Scheußlichkeit überwinden müsse, klingt bald wie das Überlebensmotto des sowjetischen Exils.“ (S. 63)

Hesse demonstriert ein profundes Wissen, oft durch Verweise auf amerikanische Filme oder das Dreigestirn Améry, Adorno, Arendt, wobei die sowjetische Seite des Filmexils insgesamt deutlich weniger ausgeleuchtet wird. Das ist dem Verfasser nicht anzulasten, der – bemerkenswert genug – für das Projekt eigens Russisch lernte und Moskauer Archive aufsuchte (leider fehlt eine Aufstellung der konsultierten Bestände), doch hätte der Leser über die Arbeits- und Existenzbedingungen, die die Emigranten vor Ort vorfanden, gern noch mehr erfahren, vor allem im Kontext der damaligen sowjetischen Filmpolitik und -praxis, zu der vorzügliche russische Dokumentenbände vorliegen. Slawistische Fachliteratur wird insgesamt kaum herangezogen, während Briefe und vor allem Autobiografien ausführlich, teils seitenweise zitiert werden – meist ohne Interpretation und eine Problematisierung des Quellengehalts. Doch kann es nicht genügen, solche Selbstzeugnisse „wie mit Handschuhen […] so vorsichtig an[zu]ordnen, dass der Leser sich selbst ein Bild davon machen kann“ (S. 58) – sie bedürfen der kritischen Einordnung.

Bei der „ums Ganze“ bemühten Darstellung kommen also einige Aspekte zu kurz, während sich Nebenthemen ausdehnen. Der Kern und die Leistung der ungemein materialreichen Arbeit werden davon nicht berührt. Der Verfasser hat sein Vorhaben, durch Ermittlung auch der nie realisierten Filmvorhaben so „etwas wie ein Œuvre des Filmexils in der Sowjetunion“ (S. 49) zu rekonstruieren, vollauf eingelöst. Auch präsentiert er keineswegs nur „kahle Igel“ (S. 53ff.), soll heißen dürre Fakten, sondern bewegende, anschaulich erzählte Geschichte(n). Für jede weitere Forschung über deutsche Künstler im sowjetischen Exil ist diese Studie eine unverzichtbare Grundlage.

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