Cover
Titel
Raum. Eine kulturwissenschaftliche Einführung


Autor(en)
Günzel, Stephan
Reihe
Edition Kulturwissenschaft 143
Anzahl Seiten
156 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 14,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Fabian Kirchherr, Archiv- und Literaturforschung, Bauhaus-Universität Weimar

„Die Wende zum Raum ist kein bloß akademisches Unterfangen, sondern geht auf eine grundlegende Veränderung der Lebenswelt zurück, die von Theorien reflektiert wird.“ (S. 7) – Mit diesen Worten leitet Stephan Günzel, Professor für Medientheorie an der Berliner University of Applied Sciences Europe, den knapp 140 Textseiten schmalen Band „Raum – Eine kulturwissenschaftliche Einführung“ ein, der im Sommer 2017 im Bielefelder transcript Verlag erschienen ist. Die Publikation ist inhaltlich in drei Sektionen aufgeteilt, die das kulturwissenschaftliche Diskursfeld ‚Raum‘ strukturieren und ein Verständnis der Wirkmächtigkeit des Spatial Turns für das gegenwärtige Denken befördern sollen: I. Antinomien des Raums, II. Produktion des Raums, III. Wenden zum Raum.

Bereits im ersten Abschnitt wird die akademische Perspektive von Günzel deutlich, der unter anderem als Gastprofessor für Kulturtheorie und Raumwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin neben Game Design und Medientheorie auch Philosophie lehrt. So werden zunächst alle für Günzel relevanten Grundpositionen zum Raum-Denken innerhalb dreier Antinomien – also sich gegenseitig ausschließenden Grundannahmen – entwickelt, was als methodische Entscheidung des Autors einerseits mit der von Immanuel Kant herausgestellten „antinomischen Verfasstheit des Denkens“ (S. 25) und andererseits mit dem Umstand begründet wird, dass die Antinomien „verhindern, dass die Raumdebatte zielführend erfolgt“ (S. 23). Dies sei angebracht, „eben weil ‚Raum‘ Unterschiedliches bedeuten kann, ohne dass entscheidbar wäre, welche Bedeutung die ‚richtige‘ ist“ (ebd.). In diesem Sinne werden nach Günzel die „Verwerfungslinien im Raumdiskurs“ (S. 25) am deutlichsten vermittelbar an den Unterscheidungen zwischen Verschwinden und Erstarken des Raums, geografischem Determinismus und kulturellem Possibilismus sowie der Unterscheidung von Raum und Ort. Diese erste, sich den Antinomien des Raums widmende Sektion wird abgeschlossen mit zwei kleineren Abschnitten zur ‚Schachtel als Denkhindernis‘ und zu ‚Überwindungsversuchen‘ der Antinomien.

Die Logik des Autors, eine Einführung in die Geistesgeschichte des Raumdenkens und des kulturwissenschaftlichen Raumdiskurses anhand dreier Dualismen zu eröffnen, ist insofern nachvollziehbar, als das erste Kapitel dadurch klar strukturiert wird. Sie wird aber, wie auch die insgesamt den Band durchziehende schnelle Rhythmik, trotz ihrer Plausibilität zu wenig hinterfragt. Der Takt, in dem Günzel auf wenigen Seiten diverse Autoren, Theorien und Sichtweisen wie auch deren jeweilige Verbindungen oder Widersprüche anführt, wird durch das hohe Ausdrucksvermögen und die starke Syntheseleistung von Günzel in einen angenehm lesbaren und verständlichen Text überführt. Kehrseite dieser Leistung bleibt allerdings, dass es sich mehr um eine eigenständige ‚Kulturwissenschaftsgeschichte des Raums‘ handelt als um ein verweisendes Einführungswerk.

Demgegenüber kündigt der Klappentext der Printausgabe diesen Band nicht nur als systematischen Überblick des Spatial Turns an, sondern preist ihn darüber hinaus als Einführung in die Raumtheorien von Martin Heidegger, Marshall McLuhan, Emmanuel Levinas, Michel Foucault, Pierre Bourdieu oder Gilles Deleuze. Diese (und noch viele weitere) Denker werden von Günzel mehr oder weniger ausführlich vorgestellt, jedoch jeweils in so komprimierter und in die Vorüberlegungen der einzelnen Kapitel eingepasster Form, dass es gut gewesen wäre, dies klarer zu benennen. Es ist sicher die größte Stärke des Bandes, Lust auf eine weitere und intensivere Beschäftigung mit der akademischen (wie gesellschaftlichen) Raumthematik zu evozieren. Günzel stellt dafür auf bemerkenswert wenigen Seiten eine Fülle von Bezügen und Verweisen zusammen, die als Anknüpfungspunkte inspirieren. Leider wurden die vielen Verweise in den Fußnoten nicht in ein Literaturverzeichnis am Ende des Buches überführt. Die eher kurz gehaltene Auswahlbibliographie im Appendix wirkt wie ein schwaches Substitut und hätte umfangreicher ausfallen müssen.

Zwischen Text und Paratext lässt sich die Kritik konkretisieren: Wenn sich der Band wirklich als Einführung in das Thema Raum versteht, warum bleibt die weiterführende Literatur am Ende des Bandes so dünn und darüber hinaus auch unstrukturiert? Um den Charakter des Bandes als Einführungsliteratur für den Einsatz in Studium und Lehre zu unterstreichen, wäre es ratsam, neben dem klassischen textuellen Inhalt von Günzel die Paratexte des Buches noch wesentlich differenzierter auszuarbeiten. Gemeint sind damit sowohl eine umfassendere Bibliographie sowie eine klarere Reflexion der eigenen strukturstiftenden Grundannahmen in der Einleitung oder im Schlussteil der Arbeit.

Wer eine Einführung in die Raumtheorie sucht, die von dem sehr zentral gesetzten Heidegger ausgeht, wird große Freude insbesondere am ersten der drei Kapitel haben. Auch das zweite Kapitel entwickelt das Thema Raumproduktion immer wieder mit Rückgriff auf Heidegger, geht aber stärker noch von dem französischen Philosophen Henri Lefebvre aus. Dabei stellt die von Günzel referierte dreiteilige Dialektik der Raumproduktion Lefebvres in Raumpraxis (pratique spatiale), Raumrepräsentation (représentations de l’espace) und Repräsentationsräume (espaces de représentation) einen produktiveren Ausganspunkt für die Skizzierung weiterer grundlegender Raumtheorien dar, als es die Antinomien- und die Heidegger-Exemplifizierungen des ersten Teils vermögen. So werden die Repräsentationsräume vor allem mit Blick auf Gaston Bachelards ‚Poetik des Raumes‘ ausgeführt, weil für Lefebvre die revolutionäre Kraft dieser Raumgattung an der Literatur begreifbar werde. Passend wäre an dieser Stelle, respektive im Literaturverzeichnis, der Hinweis auf aktuelle und umfassendere Raumforschungen der Literaturwissenschaft gewesen, wie sie beispielsweise bei Uwe Wirth1 oder Jörg Dünne2 zu finden sind.

Insgesamt diskutiert Günzel im zweiten Kapitel die wirkmächtigen Diskurse um die Produktion des Raums etwas kontroverser und stellt mit vergleichsweise umfangreichen Ausführungen zur Entwicklung der Raum-Ort-Unterscheidung bei Ray Oldenburg, Marc Augé und Michel de Certeau bewusst auch ein Raumkonzept vor, das sich nicht gänzlich in die genannten Antinomien und den Raumbegriff Heideggers überführen lässt. Ebenso wird das Konzept der Heterotopie von Michel Foucault zwar an einigen Stellen wieder auf Heidegger und Lefebvre reflektiert, jedoch dankenswerterweise als wirkmächtige Raumtheorie nicht nur genannt und in den theoretischen Überbau von Günzel eingeordnet, sondern über knapp neun Seiten ausgeführt. Nach einem äußerst stringent dargestellten, wissenschaftshistorischen Abschnitt zu den jeweiligen Kehren und Wendungen zum Raum kommt der Autor im letzten Kapitel erneut auf Foucault zurück. Foucaults Übertragung seiner Heterotopie-Theorie auf eine topologische Betrachtungsweise lässt sich demnach am populären Beispiel der panoptischen Haftanstalt nachvollziehen, weil mit dieser Analyse des Panopticons und dessen raumtheoretischer Erfassung die vormalige Topographie des Gefängnisses als Gebäude in eine Topologie der sozialen Realität übergeht.

Die Arbeit schließt mit einem Unterkapitel zur Topo-Logik und arrangiert äußerst sinnvoll die von Spencer Brown in „The Laws of Form“ herausgestellte Unterscheidung in markierten und unmarkierten Raum mit Pierre Bourdieus „topologische[r] Analyse gesellschaftlicher Verhältnisse“ aus dessen Hauptwerk „Die feinen Unterschiede“. Von der Vorstellung dieser über die Differenzierung von Innen und Außen operierenden, sozialen Raumtheorien kommt Günzel abschließend auf Platons Darstellung des Chora-Begriffs, von dem aus der Bogen zur Raumtheorie Heideggers geschlossen wird. Die Analyse von Heideggers Topologie zeige auf, dass dessen Raumverständnis, trotz anderem ‚Duktus‘, grundsätzlich demjenigen von Foucault gleiche: als ein „umfassend relationales“ (S. 140).

Ob dieser Schluss wissenschaftlich unanfechtbar ist, kann hier nicht verhandelt werden. Die vorgelegte Arbeit von Stephan Günzel trägt jedoch als Gesamtwerk auf intelligente Weise relevante Standpunkte zusammen, dessen vorgestellte Prämissen die Schlussfolgerung stichhaltig und stimmig machen. Dabei ist eine gewisse Heidegger-Zentrierung unübersehbar. Aufgrund des geringen Umfangs der Arbeit unterbleibt die konsequentere Beschäftigung mit anderen Positionen. Trotzdem präsentiert sich der preiswerte Band als präzise formulierte Einführung in den kulturwissenschaftlichen Raumdiskurs. Die eher kurzweilige Beschäftigung mit den diversen Raumtheorien provoziert gekonnt und anhaltend ein dezidiertes Einhaken- und Weiterlesen-Wollen, was wohl die produktivste Stärke des Textes ist.

Anmerkungen:
1 Vgl. Uwe Wirth, Zwischenräumliche Bewegungspraktiken, in: Ders. (Hrsg.), Bewegen im Zwischenraum, Berlin 2012, S. 7–34.
2 Vgl. Jörg Dünne / Andreas Mahler (Hrsg.), Handbuch Literatur & Raum, Berlin 2017.

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