S. Liebold u.a. (Hrsg.): Neugründung auf alten Werten?

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Titel
Neugründung auf alten Werten?. Konservative Intellektuelle und Politik in der Bundesrepublik


Herausgeber
Liebold, Sebastian; Schale, Frank
Erschienen
Baden-Baden 2017: Nomos Verlag
Anzahl Seiten
256 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Marcus M. Payk, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Der Sammelband enthält ausgewählte Referate einer Tagung, die im Dezember 2015 von der Projektgruppe „Intellectual History der Bundesrepublik“ an der Technischen Universität Chemnitz ausgerichtet wurde.1 Den Organisatoren ging es vornehmlich darum, die Spannungen zwischen Kontinuität und Neubeginn im Konservatismus der frühen Bundesrepublik auszuloten und einmal mehr das hartnäckige Stereotyp zu hinterfragen, wonach es sich bei den 1950er-Jahren um eine Epoche der Restauration und des altbackenen Traditionalismus gehandelt habe. Bei näherem Hinsehen wird eine solche Auffassung in der jüngeren historischen Forschung zwar kaum noch vertreten. Doch auch etablierte Interpretationen wie das seit 25 Jahren umlaufende Diktum einer „Modernisierung im Wiederaufbau“ (Axel Schildt / Arnold Sywottek) bieten noch beträchtlichen Spielraum, wenn es darum geht, den Einfluss, die Anpassungsleistung und die innere Dynamik des Konservatismus im Detail zu befragen.

Den Auftakt macht der Mitherausgeber Frank Schale, indem er eine programmatische Standortbestimmung versucht. Er betont, dass es zwar keine einfach zu handhabende Definition des Konservatismus gebe, ein reflektierter intellektuellengeschichtlicher Zugriff jedoch ein distinktes konservatives Feld erschließen könne. Für den Fall des westdeutschen Nachkriegskonservatismus stellt Schale drei eng miteinander verwobene Fragekomplexe heraus, welche zugleich analytische Schneisen für die nachfolgenden Beiträge schlagen: Auf welche Weise „entradikalisierten“ sich konservative Positionen in der Bundesrepublik, sodass ein demokratiekompatibler und geradezu milder Common-Sense-Konservatismus möglich wurde? Welche ideologischen Restbestände der Weimarer Jahre blieben gleichwohl erhalten? Und durch welche inneren Gegensätze und Konflikte waren konservative Standortbestimmungen in Westdeutschland von 1945 bis in die 1960er-Jahre gekennzeichnet?

Ein erstes Bündel von Antworten auf diese Fragen liefert Martina Steber mit ihrem Beitrag über die Deutsche Partei, die als rechtskonservativ-nationalistische Kleinpartei bis 1960 durchgängig in Adenauers Regierungskabinetten vertreten war. Anhand von zwei Führungsköpfen, Hans-Joachim von Merkatz und Hans Mühlenfeld, zeichnet Steber die erheblichen Schwierigkeiten nach, vor denen alle Versuche einer Definition des Konservatismus in den 1950er-Jahre standen. Zwar unternahmen Merkatz und Mühlenfeld beträchtliche Anstrengungen, das eigene Programm als „Politik ohne Wunschbilder“ zu verkaufen und einen „echten“ (pragmatischen) von einem „falschen“ (ideologischen) Konservatismus zu unterscheiden. Am Ende blieb ihre Begriffsakrobatik jedoch „nebulös“ (S. 43). Je mehr sich die Deutsche Partei politisch zu etablieren suchte und deshalb 1957 auch mit einer im Jahr davor gegründeten rechtslastigen Abspaltung der FDP zusammenging, der Freien Volkspartei, desto schwieriger wurde jedwede Abgrenzung zur Union, welche das Feld konservativer Parteipolitik in bald kaum einholbarer Weise dominierte.

Dass aus den Reihen der CDU der 1950er-Jahre in einem weiteren Beitrag ausgerechnet der Agrarpolitiker Andreas Hermes vorgestellt wird, mag überraschen. Ein Intellektueller war der langjährige Beamte, Parlamentarier und Minister der Weimarer Republik sicher nicht – sondern, das zeigt Peter Becker in seinem Text, ein ausgesprochen konservativer und katholisch geprägter Verfechter landwirtschaftlicher Interessen, der sich allerdings auch als Vorkämpfer einer überkonfessionellen Ausrichtung der Union profilierte. Insofern repräsentierte Hermes eine wichtige Strömung innerhalb CDU, obwohl (oder gerade weil) er sich kaum auf die Regierungslinie Adenauers verpflichten ließ. Ob man jedoch, wie es Becker in seinem Fazit vorschlägt, den Gedanken des „Schutzes“ als übergreifendes Paradigma für sein politisches Weltbild ansetzen kann, erscheint etwas fragwürdig. Zutreffend ist in jedem Fall die Beobachtung, dass Hermes in der Bundesrepublik bald „wie aus der Zeit gefallen“ wirkte (S. 97). Ein wenig bedauerlich ist, dass die Herausgeber es dem Autor offenbar nicht ausreden konnten, seinen Text im Präsens zu verfassen, sodass sich an vielen Stellen der Eindruck einer wenig distanzierten, nahezu identifikatorischen Betrachtung aufdrängt („Was immer Andreas Hermes tut, er tut es aus innerster Überzeugung“; S. 96).

Weiterführend erscheint der Beitrag zu Max Horkheimer, den Magnus Klaue hier nicht als Apostel der Neuen Linken präsentiert, sondern als Intellektuellen mit wenigstens partiell konservativen Positionen. Im Vordergrund steht jedoch nicht der Versuch einer ideengeschichtlichen Engführung zwischen Konservatismus und Kritischer Theorie, sondern Klaue ist vorwiegend an einer Rekonstruktion des erfahrungsgeschichtlichen Fundaments interessiert, von dem aus Horkheimer auf seine Zeit blickte und dessen kulturkonservativer Gehalt am Beispiel seiner Einstellung zu Ehe und Familie exemplifiziert wird. Vielleicht noch instruktiver ist aber, wie Klaue die intellektuelle Figur Horkheimers in einen öffentlichkeits- und mediengeschichtlichen Rahmen einbettet und besonders die ambivalenten Motive und Methoden des „Spiegel“ nachzeichnet. Dessen Journalisten versuchten Horkheimer in einem Interview 1970 absichtlich in eine bestimmte Ecke zu drängen und den Eindruck zu erwecken, dass sich der linke Starphilosoph mit einer skandalösen Volte zu einem Konservativen gewandelt habe (S. 162).

Ebenfalls einen Blick auf die Presselandschaft der Bundesrepublik wirft Nils Lange mit seinem Beitrag über den Journalisten Matthias Walden, der beim Rundfunk in West-Berlin tätig war, aber auch als Kolumnist für verschiedene Illustrierte und Zeitungen schrieb. Lange kann zeigen, wie sehr Waldens nationale und konservative Positionen von liberalen und demokratischen Ideen durchwirkt, aber nicht bestimmt waren. Sein unermüdlicher publizistischer Kampf für eine Wiedervereinigung war gleichermaßen von einem kämpferischen Nationalismus wie von einem freiheitlichen Antitotalitarismus motiviert. In der aufheizten Atmosphäre der frühen 1970er-Jahre gab es für eine solche Ambivalenz indes wenig Platz, und mit seinen scharfen Polemiken gegen die Entspannungspolitik der sozialliberalen Koalition bemühte sich Walden auch nicht um allgemeine Zustimmung. Ob man freilich aus seinen Artikeln eine „überzeugende und konsistente Charakterisierung des politischen Denkens des Journalisten“ (S. 193) extrahieren kann, wie sie Lange in der bisherigen Forschung vermisst, bleibt offen. Die dazu vorgeschlagene Kategorie eines „staatsloyalen Handelns“ (S. 182, S. 193) mag hilfreich sein; zugleich sollte man die Disparität der Wortmeldungen und ihren tagespolitischen Opportunismus aber nicht unterschätzen.

Die weiteren Beiträge des Bandes lassen sich hier aus Platzgründen kaum anders als summarisch nennen: Johannes Großmann rekapituliert die Bedeutung transnationaler Dimensionen innerhalb der abendländischen Bewegung; Sebastian Liebold und Frank Schale betrachten mit Arnold Bergstraesser bzw. Carl Joachim Friedrich jeweils konservative Politikwissenschaftler; Martin G. Maier widmet sich dem konservativen Antikommunismus in den 1970er-Jahren; Tobias Bartels unterscheidet schließlich anhand des Sprachgebrauchs zwei Strömungen konservativen Denkens, die entweder auf eine Stabilisierung der herrschenden Verhältnisse oder auf deren polemische Überwindung hinausliefen. Am Ende des Bandes steht schließlich eine Bilanz von Sebastian Liebold, der, als paritätisches Gegenstück zu Frank Schales Einleitungsaufsatz, die Beiträge nochmals Revue passieren lässt und weitergehende Perspektiven aufzeigt.

Welches Fazit lässt sich ziehen? Der Band demonstriert Nutzen und Nachtteil seiner Gattung. Er bietet einen Querschnitt laufender und jüngst abgeschlossener Vorhaben zur Geschichte des westdeutschen Konservatismus nach 1945, auch wenn man einigen Texten ablesen kann, dass die dahinterstehenden Forschungen zunächst auf andere Fragen gerichtet waren. Allzu systematische Bezüge zwischen den Beiträgen darf man nicht erwarten, auch weil man den Herausgebern zustimmen muss, wenn sie ein ums andere Mal auf die diffusen Konturen des eigenen Forschungsfeldes hinweisen. Den intellektuellengeschichtlichen Zugriff hätte man sich trotzdem etwas präziser definiert gewünscht. Darunter nur die politischen Ideen von Akteuren und ihre sprachliche Repräsentation zu verstehen, wie es Schale nahelegt (S. 12), dürfte die unwägbaren personalen und diskursiven Bedingungen unterschätzen, unter denen Menschen überhaupt Ideen haben und intentional artikulieren können. Gewiss: Jede „Kontextualisierung muss auch Grenzen aufweisen“2, wie es die Herausgeber an anderer Stelle formuliert haben, und die Intellektuellengeschichte kann auch nicht davon absehen, Argumente und Deutungen inhaltlich zu bestimmen. Trotzdem sollte man sich die Verbindung von Personen und Ideen nicht zu starr und eindeutig vorstellen. Biographische Erfahrungen, intellektuelle Positionierungen und die politische, kulturelle, gesellschaftliche usw. Umwelt stehen nicht nur in einem dynamischen Wechselverhältnis, sondern sind von Missverständnissen, Zweifeln und Zwängen gekennzeichnet, die nicht immer historisch benennbar sind. Auch dafür bieten die Beiträge des Bandes gutes Anschauungsmaterial. Es ist vermutlich der tiefere Sinn von Publikationen wie der vorliegenden, die methodische Auseinandersetzung innerhalb der Geschichtswissenschaft sowie speziell der politischen Ideengeschichte immer wieder neu anzuregen.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Bericht von Ann-Andrea Petzel und Patrick Keller, in: H-Soz-Kult, 02.04.2016, <https://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6435> (22.05.2018). Siehe auch Alexander Gallus, Vier Möglichkeiten, die Intellectual History der Bundesrepublik zu ergründen. Überlegungen zur Erschließung eines Forschungsfelds, in: Frank Bajohr u.a. (Hrsg.), Mehr als eine Erzählung. Zeitgeschichtliche Perspektiven auf die Bundesrepublik. Festschrift für Axel Schildt, Göttingen 2016, S. 287–300.
2 Frank Schale / Sebastian Liebold, Intellectual History der Bundesrepublik. Ein Werkstattbericht, in: Denkströme. Journal der Sächsischen Akademie der Wissenschaften 16 (2016), S. 97–119, hier S. 118, <http://www.denkstroeme.de/heft-16/s_97-119_schale-liebold> (22.05.2018).

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