V. Zajko u.a. (Hrsg.): Reception of Classical Mythology

Cover
Titel
A Handbook to the Reception of Classical Mythology.


Herausgeber
Zajko, Vanda; Hoyle, Helena
Reihe
Wiley Blackwell Handbooks to Classical Reception
Erschienen
Hoboken 2017: Wiley-Blackwell
Anzahl Seiten
XIII, 482 S.
Preis
€ 144.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Diego De Brasi, Klassische Philologie/Gräzistik, Philipps-Universität Marburg

Walter Burkert behauptete Anfang der 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts zu Recht, dass (der antike) „Mythos nach wie vor ‚in‘“ sei und „sich einer ungebrochenen Konjunktur“ erfreue.1 Dieser Spruch ließe sich, leicht abgewandelt, problemlos auf den Stand der Forschung zur Rezeption der klassischen Literatur und vor allem der klassischen Mythologie anwenden: Seit circa zwanzig Jahren erscheinen in immer kürzeren Zeitabständen neue Publikationen bzw. werden Fachzeitschriften gegründet, die sich explizit der Rezeption der Antike widmen2; das Thema ist im Universitätsunterricht zentral geworden3; es entstehen immer neue Forschungsprojekte, die sich mit diesem Thema aus unterschiedlichen Perspektiven befassen.4 Als neueste Veröffentlichung in einer Reihe, deren Zweck darin besteht, qualitativ hochwertige Essays für ein relativ inhomogenes Publikum (fortgeschrittene Studierende, Doktoranden, erfahrene Wissenschaftler) zu bieten, stellt der hier rezensierte Band eine höchst willkommene Ergänzung innerhalb dieser Entwicklung dar.

Auf knapp 500 Seiten präsentiert der Band 32 hoch interessante, von unterschiedlichen methodischen Ansätzen ausgehende Beiträge, gegliedert in vier Sektionen: Die erste Sektion fokussiert auf die mythographische Tradition vom archaischen Griechenland bis heute; die zweite bietet eine Auswahl an möglichen antiken sowie zeitgenössischen Zugängen zum antiken Mythos; in der dritten Sektion, die meines Erachtens die meisten anregenden Überlegungen bietet, liegt der Schwerpunkt auf Aktualität und Flexibilität des antiken Mythos; die vierte, abschließende Sektion offeriert vierzehn Fallstudien, die entweder einen bestimmten Mythos oder ein Rezeptionsbeispiel eingehend behandeln. Ein Register, in dem antike und moderne Namen, Werktitel und Begriffe zugleich aufgeführt sind, rundet den Band ab. Bereits dieser kurze Überblick zeigt, wie vielfältig und abwechslungsreich das neue Handbuch ist: Sowohl eher historisch interessierte Forscher als auch Wissenschaftler auf der Suche nach neuen Analyseansätzen werden bei seiner Lektüre durchaus auf ihre Kosten kommen. Im Folgenden nun einige Anmerkungen zu ausgewählten Beiträgen der ersten drei Sektionen:

Allen Beiträgen der ersten Sektion ist gemeinsam, dass sie ‚Mythographie‘, das heißt das vermeintlich objektive und sachliche Sammeln und Wiedergeben von Mythen, bereits selbst als einen kreativen Prozess auffassen, der eine eigene Interpretation und Modifizierung des Mythos impliziert. Am deutlichsten zeigen dies die Beiträge von Gregory Hays zur römischen Mythographie sowie der Essay von Ika Willis zur zeitgenössischen ‚Mythenproduktion‘. Während Hays anhand der Analyse der Midas-Geschichte bei Hygin, Pseudo-Lactantius, Servius Auctus und Fulgentius zeigt, wie diese Autoren mit je unterschiedlichem Augenmerk die Erzählung über König Midas variieren, fokussiert Willis die Art und Weise, wie der antike Mythos in der Populärkultur durch Dekontextualisierung und Ahistorisierung assimiliert wird. Ein möglicher Kritikpunkt in diesem Zusammenhang ist, dass die Beiträge zur modernen Mythographie zu sehr auf die anglophone Welt konzentriert sind: John Talbot („Bulfinch and Graves. Modern Mythography as Literary Reception“), Sheila Murnaghan und Deborah H. Roberts („Myth Collections for Children“) sowie Ika Willis beschäftigen sich ausschließlich mit englischsprachigen Mythensammlungen, amerikanischen Fernsehserien, etc. Es steht zwar durchaus zu erwarten, dass ein für das anglophone Publikum gedachter Band hauptsächlich englischsprachige Beispiele berücksichtigt; doch könnte die Tragfähigkeit der Schlussfolgerungen von einem Vergleich mit anderen Traditionen profitieren: Wie steht es etwa mit Gustav Schwabs Sagen des Klassischen Altertums?

Zeigt die erste Sektion, dass auch vermeintlich objektive Wiedergaben des Mythos diesen auf kunstvolle Weise reinterpretieren, stellen die Beiträge in der zweiten Sektion vier Methoden dieser Reinterpretation vor (Allegorie, Komparatistik, Revisionismus und alchemistische Interpretation) sowie den Themenbereich der politischen Umdeutung des Mythos, einer besonders problematischen Rezeption. Lillian Dohertys Essay zum Revisionismus zeigt anhand der Behandlung der Odysseus- und Penelopefigur in antiken sowie zeitgenössischen Werken, wie „classical myths have […] been ‚revised‘ to subversive effect“ (153). Besonders anregend sind hier die Ausführungen zu Petrons Satyrica sowie zu Margaret Atwoods Penelopiad: Encolpius, Protagonist der Satyrica, sei demnach ein ‚umgekehrter‘ Odysseus, der keinen Gewinn aus seiner rhetorischen Bildung ziehen kann und kein definiertes Ziel im Leben hat. Atwood wiederum biete eine profunde Revision der Penelopefigur, in der ihre Einsamkeit eine zentrale Stellung hat.

Von den vier Beiträgen der dritten Sektion soll hier exemplarisch der Essay von Joanna Paul, „The Half-Blood Hero. Percy Jackson and Mythmaking in the Twenty-First Century“ kurz umrissen werden. Die Saga um Percy Jackson des amerikanischen Autors Rick Riordan ist zweifellos eines der prominentesten Beispiele zeitgenössischer Adaption antiker Mythen. Überzeugend zeigt Paul, wie Riordan klassische Mythen umformt und sie zu etwas Familiärem und Bekanntem und für das avisierte Teenagerpublikum Identitätsstiftendem umwandelt. Sie analysiert gleichfalls die Ursache für Riordans kreativen und produktiven Umgang mit dem Mythos und identifiziert sie in Riordans Glauben an die tatsächliche Aktualität des Mythos. Daraus folgen für Paul auch methodische Konsequenzen: „he [Riordan] does assert the importance of mythology as part of our cultural roots. […] it is an image that encourages us to think about reception in different terms, by positing and expanding upon the idea that our relationship with the past is one of persistence and continuity, rather than the lost and lacunose fragmented image that we often reach for.“ (236).

Die vierte Sektion spiegelt die erste insofern wider, als auch hier das Augenmerk weniger auf bestimmten allgemeinen Themen als auf spezifischen Beispielen liegt. Die Beiträge dieser Sektion beschäftigen sich mit einem wahrhaften Kaleidoskop von Rezeptionsbeispielen, die verdeutlichen, wie der antike Mythos in jeder Epoche die Kreativität von Künstlern aus verschiedenen Gebieten (Literatur, Musik, bildende Kunst, Film) inspirierte. Die Sektion bildet den logischen Abschluss, so könnte man sagen, der in den vorausgehenden drei Sektionen gelegten Grundlagen: Wenn die erste Sektion die kreativen Elemente bei vermeintlich objektiven Mythensammlungen fokussiert, die zweite sich mit möglichen Formen des Umgangs mit Mythen befasst und die zeitgenössische kreative Überarbeitung und Umsetzung des Mythos im Zentrum der dritten Sektion steht, so führt die abschließende Sektion diese Aspekte an Fallbeispielen zusammen.

In seiner Gesamtheit bietet der Band also einen wertvollen Fundus an Information, methodischen Ansätzen und interessanten Argumentationen und präsentiert sich damit als ein unverzichtbares Instrument für eine angemessene Auseinandersetzung mit der Rezeption des antiken Mythos. Vor allem aber erinnert er uns an die ständige, sich immer wieder neu bestimmende Präsenz des Mythos in unserer ‚westlichen’ Kultur, ganz im Sinne der einführenden Worte Vanda Zajkos: „The value of reception within classical studies is still being hotly debated, not because there is any question about its having a significant role within the discipline, but because of a lack of consensus about what that role is and what it could be in the future. […] When it comes to myth, a strong argument can be made that we cannot but deal with its reception because classical myth as we understand it today is classical myth as it has constituted itself through reception, through its oral, visual, and written dissemination throughout the ages” (1f.)

Anmerkungen:
1 Walter Burkert, Mythos – Begriff, Struktur, Funktionen, in: Fritz Graf (Hrsg.), Mythos in mythenloser Gesellschaft. Das Paradigma Roms, Stuttgart und Leipzig 1993, S. 9–24, hier S. 9.
2 Vgl. zum Beispiel Maria Moog-Grünewald (Hrsg.), Mythenrezeption. Die antike Mythologie in Literatur, Musik und Kunst von den Anfängen bis zur Gegenwart. Der Neue Pauly Supplemente 5, Stuttgart 2008; die Reihe „Classical Presences“ bei Oxford University Press. Unter den Zeitschriften erinnere ich an: International Journal of the Classical Tradition, herausgegeben vom Verlag Springer (gegründet 1995); Classical Receptions Journal, Oxford University Press (gegründet 2009).
3 Vgl. Patricia B. Salzman-Mitchell / Jean Alvares (Hrsg.), Classical Myth and Film in the New Millennium, Oxford 2017. Dies ist ein Band, der explizit für die Verwendung im Unterricht konzipiert ist.
4 Vgl. das vom European Research Council geförderte Project „Our Mythical Childhood...The Reception of Classical Antiquity in Children’s and Young Adults’ Culture in Response to Regional and Global Challenges“ unter der Leitung von Katarzyna Marciniak, http://www.omc.obta.al.uw.edu.pl/ (21.05.2018); oder die für 2019 geplante, vom Institut für Kunstgeschichte und Institut für Altertumswissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen organisierte Tagung „Space Oddities – Symbol versus Allegorie? Die homerische Irrfahrt in Bildkünsten und Populärkultur vom ausgehenden 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart“. Jüngst ist auch das „Classical Reception Studies Network“ an der Open University in Milton Keynes (UK) gegründet worden, http://www.open.ac.uk/blogs/CRSN/ (21.05.2018).

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