I. Baumgärtner (Hrsg.): Der Portulan-Atlas des Battista Agnese

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Titel
Der Portulan-Atlas des Battista Agnese. Das Kasseler Prachtexemplar von 1542


Herausgeber
Baumgärtner, Ingrid
Erschienen
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 99,95 (€ 69,95 für Mitglieder der WBG)
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Mesenburg, Universität Duisburg-Essen

Die wohl bemerkenswertesten Karten des Mittelalters sind die Portolankarten (auch Portulankarten). Sie sind – soweit heute bekannt ist – seit dem Ende des 13. Jahrhunderts für einen Zeitraum von rund 400 Jahren überliefert und beschreiben mit erstaunlicher Genauigkeit zunächst den Mittelmeerraum und die angrenzenden Gebiete und ab Beginn des 16. Jahrhunderts auch die Küstenlinien der neu entdeckten Kontinente. Portolankarten sind handgezeichnete, mehrfarbig angelegte und geometrisch gebundene Raumbeschreibungen auf Pergament. Ihr besonderes Markenzeichen sind die gemeinsamen Liniennetze (Rumben), die durch die regelmäßige Teilung (in der Regel 16 Teile) eines meist in der Mitte der Darstellungsfläche zentrierten Kreises entstehen. Bereits ab dem 14. Jahrhundert wurden auch Teilkarten des damals bekannten Raumes in Portulankartenmanier gefertigt und ergänzt um weitere Abbildungen und Diagramme zu Kartenbücher bzw. Atlanten vereinigt. Ein besonders schönes Exemplar dieser Gattung ist der Portulan-Atlas des Battista Agnese aus dem Jahre 1542, der nun erstmals von Ingrid Baumgärtner, Professorin für Geschichte des Mittelalters an der Universität Kassel herausgegeben und kommentiert wurde.

Das für einen Atlas relativ kleine Buch umfasst neben einem Vorwort, der Einleitung und den Anhängen drei Hauptteile. Der erste Teil (S. 10–54) behandelt den Kartographen Battista Agnese und seine Kartenproduktion, im zweiten Teil (S. 55–84) werden der Kasseler Atlas und seine einzelnen Karten beschrieben und kommentiert und im dritten Teil (S. 85–130) folgt der Tafelteil, der die faksimilierte Handschrift des Kasseler Prachtexemplars von 1542 enthält.

Struktur und Entwicklung der dem Atlas Agnese´s zugrunde liegenden Portulankarten werden im ersten Teil behandelt. Dies geschieht insbesondere unter dem Aspekt, dass es sich bei den Portulankarten um Instrumente kultureller Raumpraktiken handelt. Es folgt eine Beschreibung der Situation der Kartenherstellung in der venezianischen Werkstatt des Genuesers Battista Agnese. Dieser hat in der Zeit von 1535/36 bis 1564 wohl mehr als 77 Manuskriptatlanten und neun Einzelkarten geschaffen und kann damit zu den produktivsten und erfolgreichsten italienischen Kartographen gezählt werden. Von den vielen Karten hat Agnese selbst nur 21 Blätter datiert und unterzeichnet. Somit ist für die Mehrzahl der ihm zugeschriebenen Karten das genaue Entstehungsdatum nicht konkret fassbar. Um dem abzuhelfen hat Frau Baumgärtner vorgeschlagen, die zeitliche Einordnung der überlieferten Atlaskarten auf der Grundlage geographischer Innovationen und unter Berücksichtigung von Umfang, Konzept und Programm der Atlantenfertigung zu erschließen. Dabei werden drei Produktionsphasen definiert: Die erste Phase umfasst die Jahre 1535/36 bis 1541. In ihr sind Atlanten zusammengefasst, die nicht mehr als 11 Karten umfassen und in denen die niederkalifornische Halbinsel, die erst 1539 entdeckt wurde, in der Darstellung der Welt noch nicht abgebildet ist. Die zweite Phase reicht von 1542 bis etwa 1550/51. Die Atlanten dieser Periode enthalten zehn bis zwölf und mehr Karten, in denen jeweils die aktuellen Entdeckungen eingearbeitet sind. Die dritte Phase reicht von 1552 bis 1564. In dieser Zeitspanne erhalten die Atlanten eine veränderte Signatur des Autors, es erfolgt eine Darstellungskonzentration auf Westeuropa und das Festland wird abwechslungsreicher repräsentiert.

Unter der Überschrift „Arbeitsweise“ im ersten Teil des Buches versucht die Autorin, die kartographische Bearbeitung der Atlaskarten zu beschreiben. Abgesehen von den Feststellungen, dass Agneses Kartentechnik einen hohen Wiedererkennungswert besitzt, seine Produkte relativ schlicht sind und er wahrscheinlich arbeitsteilig produziert hat (was bei der Menge der überlieferten Atlanten naheliegt), vermag die Beschreibung der eigentlichen Arbeitsvorgänge nicht zu überzeugen. Der Hinweis, dass der Kartograph in „akkurater Feinarbeit mit dunkler Tinte die wichtigsten Linien auf und übertrug“ (S. 48) führt zwangsläufig zu der Frage, von wo aus er sie denn übertragen haben mag. Er unterstellt eine Originalkarte oder konkrete Messdaten, deren Existenz offenbleibt. Und auch der Hinweis, dass ein Zirkel als Messgerät gedient haben muss, ist in diesem Zusammenhang wenig hilfreich. Ebenso lässt sich die Vermutung, dass „der erste Entwurf des Sehnennetzes auf die magnetische Nordrichtung ausgerichtet“ (S. 48) werden musste, bei der Betrachtung der Karten nicht nachvollziehen. In diesen liegt der Mittelpunkt des Rumbensystems stets in der Mitte des Blattes und die Hauptrichtung des Systems fällt mit dem Blattfalz zusammen, liegt also parallel zur kleineren Kartenseite. Eine Beziehung zwischen Rumbennetz und Karte ist bei Agneses Portulankarten nicht erkennbar und somit bleiben entscheidende Fragen zur Herkunft und Entstehung der Portulankarten auch hier bedauerlicherweise weiterhin offen.

Bevor die Autorin im zweiten Teil des Buches auf die einzelnen Karten eingeht, beschreibt sie zunächst den „Atlas als Gesamtkunstwerk“ (S. 55), in dem eine Deklinationstabelle, eine Armillasphäre, das Planetensystem mit Tierkreiszeichen, neun Portulankarten unterschiedlicher Einzelgebiete, eine „Ovalprojektion“ (S. 56; = Planisphäre zur Gesamtdarstellung der Erde!) und eine „kreisförmige Weltprojektion“ (S. 56; = Hemisphäre zur Darstellung der Erdhalbkugel!) die Eroberungen, Neuentdeckungen und Abenteuer der Menschheit in ein universales Gefüge betten. In den beiden letztgenannten Karten erfolgt die Darstellung Europas in ptolemäischer Tradition, die um die neu entdeckten Küstenkonturen ergänzt wurden. Die im Atlas wiedergegebene Planisphäre enthält zugleich auch als schwarze Linie den Weg der ersten Weltumseglung durch Fernando Magellan (gest. 1521).

Die Beschreibung der Einzelkarten beginnt mit der Darstellung des Pazifischen Ozeans (f. 6v–7r). Das hierin enthaltene Rumbensystem ist – wie bei den übrigen Portulankarten auch – in der Mitte des Blattes zentriert und enthält erstaunlicherweise auf den Hauptachsen (Nord-Süd/Ost-West) eine den Portulankarten eigentlich wesensfremde Gradeinteilung, die von 60° Nord bis 60° Süd und von 90° West bis 90° Ost beziffert ist. Die gleichen Graduierungen sind auch in die Karte des Atlantischen Ozeans (f. 7v–8r) und in die des Indischen Ozeans (f. 8v–9r) eingetragen. Die übrigen sechs Portulankarten enthalten diese Graduierungen nicht und so ergibt sich die Frage nach der Herkunft und nach der Bedeutung dieser möglicherweise auch maßgebenden, vielleicht aber auch nachträglich vorgenommenen Eintragungen. Leider bleiben die mit diesen Graduierungen verbundenen grundlegenden Fragen gänzlich unberücksichtigt. Aus den Angaben der Graduierung und aus weiteren Streckenvergleichen werden verschiedene (divergierende) Maßstäbe berechnet, die naturgemäß nicht übereinstimmen können, da insbesondere kleinmaßstäbigen kartographischen Abbildungen kein Maßstab zugeordnet werden kann, der für alle Bereiche der Karte gilt. Die aus den Maßstabsberechnungen gezogenen Schlussfolgerungen bezüglich der Genauigkeit der Kartierung der Neuen Welt bzw. der Ungenauigkeiten bei der Längenbestimmung gehen dementsprechend fehl. Die Fragwürdigkeit einer räumlichen Interpretation der Gradangaben wird auch deutlich bei der Betrachtung der Karte des Atlantischen Ozeans. Auch hier verläuft die Graduierung auf der Hauptachse des Rumbensystems von etwa 62° Süd bis 62° Nord und gibt somit die Blattausdehnung vor. Wenn aber gleichzeitig am nördlichen Rand der Karte die Hansestadt Lübeck dargestellt wird, führt dies offensichtlich zu einem nicht erklärbaren Widerspruch.

Der dritte Teil des Buches ist der Tafelteil. Er umfasst die in hervorragender Qualität faksimilierten 20 Seiten der Kasseler Originalhandschrift im Format 22,5 x 16,5 cm und dürfte alle Kartenfreunde begeistern.

Als Anhänge beigefügt sind dem Buch einmal ein beeindruckend recherchiertes und erläutertes Verzeichnis aller in staatlichem Besitz befindlichen Portulankarten und -atlanten des Battista Agnese. 86 Eintragungen für öffentlich zugängliche Bibliotheken sind nach Städten geordnet und werden die Kartensuche für künftige Forschungsvorhaben sicherlich wesentlich erleichtern. Es folgt ein Verzeichnis der gedruckten Quellen mit 15 Eintragungen und ein Literaturverzeichnis, in dem 148 Artikel nachgewiesen sind. Je ein Register der wichtigsten Orte und der wichtigsten Personen runden das Buch ab.

Fazit: Der Portulan-Atlas des Battista Agnese ist eigentlich ein sehr schönes Buch mit vielen Hinweisen auf die historischen Zusammenhänge der Kartenproduktion im Mittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Aus kartographischer und geodätischer Sicht vermag die Kommentierung des Atlasses allerdings wegen einer Reihe von fachlichen Ungenauigkeiten und Fehlinterpretationen leider nicht zu überzeugen.

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