K. Wolf u.a. (Hrsg.): Southern Italy as Contact Area

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Titel
Southern Italy as Contact Area and Border Region during the Early Middle Ages. Religious-Cultural Heterogeneity and Competing Powers in Local, Transregional and Universal Dimensions


Herausgeber
Wolf, Kordula; Herbers, Klaus
Reihe
Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte 80
Erschienen
Köln 2018: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
433 S.
Preis
€ 65,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Winterhager, Institut für Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Süditalien und Sizilien in vornormannischer Zeit sind in den letzten Jahren verstärkt in den Blick genommen worden, wobei etwa nordafrikanisch-„sarazenische“ Ansiedlungsversuche oder die Kultur der byzantinisch geprägten Italo-Griechen neue Deutungen erfahren haben.1 Ein Produkt dieser Forschungskonjunktur ist auch der rezensierte Sammelband, der auf eine im April 2016 abgehaltene Tagung am DHI Rom zurückgeht.2 Auf die Einleitung folgen 17 Beiträge in vier Sektionen: Während deren erste den Untersuchungsgegenstand als Teil eines aus unterschiedlichen Richtungen herrschaftlich erschlossenen Mittelmeerraums behandelt, widmen sich die folgenden drei Abschnitte muslimischen, byzantinischen und lateinchristlichen Akteuren. Mit Sizilien und dem Festland südlich von Rom zwischen frühem 8. und frühem 11. Jahrhundert ist der Untersuchungsraum klar umrissen, was dazu angeregt, den Band „kreuz und quer“ zu lesen – nicht zuletzt, weil er die enge Verflochtenheit der Akteure und Strukturen im süditalischen Frühmittelalter erweist.

Süditalien und Sizilien, so die Herausgeber einleitend, könnten sowohl als „Grenzregionen“ als auch als „Kontaktzonen“ erachtet werden, womit zwei Problemkomplexe benannt sind: Erstens wird der Begriff der Grenze reflektiert. Keineswegs dürfe man leichtfertig klar umrissene Kultur-, Sprach- oder Herrschaftsterritorien annehmen; aber auch als Teil einer multikulturellen Ökumene wäre die Region missverstanden. In Abgrenzung zu beiden Positionen wird danach gefragt, wie Grenzen „vor Ort“ geschaffen, verschoben oder aufgehoben werden konnten. Zweitens wird Süditalien selbst als Grenzregion gesehen, am Schnittpunkt zwischen fränkisch, byzantinisch und afrikanisch-islamisch dominierten imperialen Formationen. Aus der Sicht aller drei könne der Mezzogiorno als Peripherie gelten – was keineswegs Marginalität impliziere. Vielmehr sei gerade zu untersuchen, wo und wie die Situation der „multiplen Peripherie“ auf Abgrenzungs- oder Verflechtungsprozesse gewirkt habe. Allerdings fragt der Band im Ganzen nicht prominent nach den „Produkten“ kultureller Verflechtung, sondern eher nach den (durch „bordering“ und „debordering“ beeinflussten) sozialen Beziehungen und Strukturen, die jene hervorbrachten. Vor diesem Hintergrund lassen sich die Beiträge um drei Fragen herum gruppieren: Nach der Wahrnehmung und mentalen Konstruktion von Grenzen, nach der Auswirkung dieser Dynamiken auf soziale Beziehungen und nach dem herrschaftlichen Umgang mit Grenzen.

Anhand von Werken des 9. und frühen 10. Jahrhunderts untersucht Hugh Kennedy die begriffliche Fassung von Grenzen aus der Sicht des Bagdader Kalifats. Das semantische Feld reiche von der befestigten Grenzlinie bis hin zum offenen Grenzland. Dabei falle auf, dass eine Verbindung von Grenzdiskursen zum Konzept des ǧihād kaum nachgewiesen werden könne. Das Ideal sei vielmehr die „Realpolitik“ (56) stabiler Grenzen gewesen. Religiös begründeter Krieg lässt sich im 9.–11. Jahrhundert hingegen bei den Päpsten finden, wie Klaus Herbers zeigt: Zwar durchgehend defensiv gefasst, aber liturgisch und theologisch legitimiert, sei der Krieg gegen die Muslime für die Nachfolger Petri auch ein Kampf für die Christenheit gewesen. Wie Kennedy bemerkt Lutz Berger, das Mediterraneum sei im Maßstab der „islamischen Welt“ insgesamt eher Peripherie gewesen. Zugleich reflektiert er aber die Dialektik von Zentren und Peripherien im islamischen Mittelmeerraum auf wirtschaftlicher, politischer und kultureller Ebene. Nordafrika und al-Andalus seien gerade aus ihrer Randlage heraus zu eigenen Zentren geworden: Zunächst in Hybridisierungen oder Imitationen des Zentrums, dann aber auch im Bruch mit diesem. Die Frage nach Abhängigkeit oder Autonomie vom aglabidischen Zentrum stellt sich auch im Hinblick auf das Emirat von Bari: War dessen Errichtung geplant oder spontan, ist sie als zentral gesteuert oder eher selbständig zu verstehen? Marco Di Branco zeigt in seiner auf genaue Quellenlektüre gestützten Studie, dass die Eroberung Baris offenbar durchaus einem aglabitischen Plan folgte, dass aber die Nachfolger des ersten Emirs auf Distanz zu Kairouan gingen. Das habe mitnichten eine anarchische Selbständigkeit Baris bedeutet; vielmehr hätten sich die folgenden Emire um Bestätigung aus Bagdad bemüht und ihrerseits eine planvolle Expansionspolitik in Italien betreiben wollen. Dass politische Orientierungen der Süditalier gar nicht immer eindeutig zu fassen sind, zeigt Annick Peters-Custot am Beispiel ambivalenter Rom-Bezüge von Italo-Griechen, wobei zwischen den Ebenen von Begriff, Selbstpositionierung und sozialer Interaktion stärker zu unterscheiden wäre.

Wie Grenz- und Peripheriesituationen ihrerseits auf mittelalterliche Gesellschaften einwirkten, ist Gegenstand einer ganzen Reihe von Beiträgen, die den Bogen von der Siedlungs- über die Wirtschafts- bis hin zur Geschichte der Herrschaftsrepräsentation spannen. Sizilien und Süditalien als imperiale Peripherie untersuchen beispielsweise Vivien Prigent, Vera von Falkenhausen und Lucia Arcifa. Prigent beobachtet schon für das frühe 9. Jahrhundert eine gegenseitige Entfremdung zwischen Sizilien und Konstantinopel – etwa in der Frage des Bilderstreits oder durch die Entsendung hauptstädtischer Militärführer gegenüber einer lokalen Elite, die den Widerstand gegen die muslimischen Invasoren geschwächt habe. Von Falkenhausen hingegen legt den Fokus stärker auf die durch Herrschaft geschaffene Verbindung, solange Byzanz die Insel regierte. Erst danach habe die räumliche Distanz zu einem Rückgang von Bindungen geführt. Den Übergang Siziliens von byzantinischer zu islamischer Herrschaft untersucht Lucia Arcifa aus archäologisch-siedlungsgeschichtlicher Sicht, was insbesondere den Beitrag Prigents gut ergänzt. Arcifa stellt anhand von Keramik- und Baubefunden die Herausbildung eines Ost-West-Gefälles auf der Insel schon für das 8. Jahrhundert fest: Ärmere Regionen im Nordwesten, stärker urbanisierte Gebiete an der Ostküste als Folge von byzantinischen Siedlungs- und Wirtschaftsimpulsen. Auch habe sich diese Region länger der nordafrikanischen Invasoren erwehren können, die ihrerseits nach der völligen Eroberung Siziliens im Westen stärker kolonisatorisch wirkten, während sie im Osten und Süden byzantinische Strukturen eher adaptierten. Besonders eng am Thema des Bandes bewegt sich Federico Marazzi, der untersucht, wie sich eine peripher-liminale Lage auf die wirtschaftlichen Verhältnisse einer Region auswirkte. Die großen mittel- und süditalischen Klöster hätten zugleich von karolingischen Landschenkungen profitiert als auch die Interaktion mit quasi-autonomen, ehemals byzantinischen Seestädten wie Amalfi oder Gaeta nutzen können, um die Erträge dieses zum Teil weit entfernten Besitzes auf die Märkte zu bringen: Marazzi nutzt das Bild der produktiven „Verwerfung“ zwischen nordalpinen und byzantinischen Imperien, in der sich wirtschaftliche Dynamik habe entfalten können. Ähnlich ließen sich die Beobachtungen von Giulia Zornetta erklären, die in Titulatur, Münzemission und Gesetzgebung des langobardischen Fürstentums Benevent eine latente Konkurrenz zu Karolingern und Byzanz verzeichnet, als Ausdruck einer zugleich von beiden Seiten stets bedrohten Autonomie.

Denn „bordering“ und „debordering“ waren im frühmittelalterlichen Süditalien nicht zuletzt Gegenstand politischer Bündnisse und militärischer Kampagnen. Rudolf Schieffer und Clemens Gantner widmen sich Ludwig II. (gest. 875), dem in Italien präsentesten der Karolinger. Als einziger von ihnen nahm er eine gesamtitalische Perspektive ein, machte sich Benevent zeitweilig Untertan und eroberte Bari von den Sarazenen. Vor und nach Ludwig aber habe die Kontrolle Süditaliens für die Karolinger keine große Bedeutung gehabt, die auch nur um den Preis steter Herrscherpräsenz möglich gewesen wäre, weswegen Schieffer bei ihnen auch keine gesamtmediterranen Ansprüche feststellen kann. Die kurze Phase des intensiven Engagements Ludwigs II. stellt Gantner in Relation zu dessen Beziehungen nach Byzanz. Genaue Quellenlektüre führt hier zu mancher erhellenden Einzelbeobachtung. Byzantinische Interessen waren allgemein eine Dimension, die Ludwigs Italienpolitik beeinflusste. Ob aber die Unternehmungen des rex Italiae als direkte Reaktion darauf zu verstehen sind, bleibt fraglich. Ein weiterer Schwerpunkt des Bandes liegt auf der Einflussnahme des Papsttums. Claudia Alraum und Veronica Unger behandeln das Verhältnis Roms zu süditalischen Bischofskirchen bzw. Fürstentümern. Während diese Kontakte im exzeptionell umfangreichen Briefregister Johannes’ VIII. von der Sorge um die Sarazenenabwehr dominiert werden, zeigen sich im 8. und 9. Jahrhundert durchaus auch Versuche Roms, die Bistümer des Südens kirchenrechtlich und jurisdiktionell enger an sich zu binden. Auffällig ist aber, dass jenseits Campaniens, für Kalabrien, Sizilien oder Apulien, kaum Kontakte nachweisbar sind – vielleicht aus Gründen der Überlieferung, wohl aber auch, weil (kirchen-)politische Grenzen zu byzantinischen Territorien wirksam blieben. Dass sich aber auch aus knapper Überlieferung viel gewinnen lässt, zeigt Judith Werners Detailstudie über den Empfängereinfluss auf äußere Gestalt und Wortwahl von Papsturkunden für Süditalien.

Insgesamt wird den Fragen nach Grenzen und Peripherien in den meisten Aufsätzen somit gewinnbringend nachgegangen. Bemerkenswert ist aber doch, dass viele Beiträge (wie auch die Gliederung des Bandes) zunächst von „politischen“ Grenzen zwischen Herrschaftsbereichen ausgehen. Deren Stellenwert wird dann allerdings überzeugend relativiert, indem die Inkongruenz mit sprachlichen, kulturellen und wirtschaftsräumlichen Grenzziehungen herausgearbeitet wird. Gerade hierbei hätte aber die Beigabe von Überblickskarten dem Leser die Zusammenschau der Beiträge durchaus erleichtert; nur gelegentlich finden sich Spezialkarten zu einzelnen Texten. Demgegenüber ist das umfangreiche, einheitlich auf Englisch gehaltene Orts- und Personennamenregister lobend hervorzuheben. Auch dass der dreisprachige Band bei arabischen Begriffen (fast) durchgängig auf die DMG-Transliteration setzt, verdient Nachahmung. Eine aufmerksame Rezeption ist ihm in jedem Fall zu wünschen, zeigt doch der Sammelband sowohl in Spezialstudien als auch in breiter angelegten Überblicksentwürfen, wieviel gewonnen werden kann, wenn man sich altbekannten oder quellenarmen Räumen interdisziplinär und mit neuen Fragen zuwendet.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa Marco Di Branco / Kordula Wolf, Terra di conquista? I musulmani in Italia meridionale nell’epoca aghlabita (184/800–269/909), in: Dies. (Hrsg.), „Guerra santa“ e conquiste islamiche nel Mediterraneo (VII–XI secolo), Rom 2014, S. 125–166; Jean-Marie Martin / Annick Peters-Custot / Vivien Prigent (Hrsg.), L’héritage byzantine en Italie (VIIIe–XIIe siècle). 4 Bde, Rom 2011–2017.
2 Vgl. den Tagungsbericht auf H-Soz-Kult: Theresa Jäckh, Tagungsbericht: Süditalien als Kontakt- und Grenzregion im Frühmittelalter. Religiös-kulturelle Heterogenität und konkurrierende Mächte in lokalen, transregionalen und universalen Dimensionen / Southern Italy as Contact Area and Border Region during the Early Middle Ages, 04.04.2016 – 06.04.2016 Rom, in: H-Soz-Kult, 21.07.2016, www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-6623. (23.03.2018). Vier Tagungsbeiträge fehlen im Band; dafür wurden die Aufsätze von A. Scandalito (über jüdische Gemeinden Siziliens) und V. von Falkenhausen nachträglich aufgenommen.

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