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Titel
Im goldenen Käfig. Zwischen SED, Staatssicherheit, Justizministerium und Mandant – die DDR-Anwälte im politischen Prozess


Autor(en)
Booß, Christian
Reihe
Analysen und Dokumente der BStU 48
Erschienen
Göttingen 2017: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
813 S., 18 Abb., 22 Tab.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Spohr, Stiftung Sächsische Gedenkstätten, Geschäftsstelle Dresden

„Der hat mir auch gleich gesagt, […] viel bei der Gerichtsverhandlung kann er nicht machen“, erinnerte sich ein im Jahr 1987 in der Stasi-Untersuchungshaftanstalt Berlin-Hohenschönhausen Inhaftierter an seinen ersten Kontakt zu seinem Rechtsbeistand. Auf die Frage nach dem Nutzen seiner rechtsanwaltlichen Betreuung antwortete ein ehemaliger Insasse, gegen den das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) 1968 ermittelte: „Schade um das Geld, was meine Eltern dafür ausgegeben haben.“1 Derartige Aussagen früherer Mandanten sind in ihrer Tendenz keine Einzelfälle, wenn man die die vom MfS geführten Ermittlungsverfahren und die daraus resultierenden Gerichtsprozesse in der DDR genauer betrachtet. Was bedeutete es also, in der SED-Diktatur als Rechtsanwalt in politischen Strafsachen tätig zu sein?

Christian Booß hat in einer mehr als 800 Seiten umfassenden, an der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin als Dissertation vorgelegten Monographie die Tätigkeit der Strafverteidiger in Gerichtsprozessen der Honecker-Ära untersucht. Hierfür hat er in erster Linie mehr als 1000 personenbezogene Aktenvorgänge des DDR-Staatssicherheitsdienstes aus dem Bezirk Berlin ausgewertet. Er fragt, wie sich DDR-Anwälte in vom MfS geführten Ermittlungsverfahren verhielten. Damit untersucht er die Rolle eines genuin bürgerlichen Berufsstands im sozialistischen Justizsystem. Booß legt in 13 inhaltlichen Kapiteln dar, wie die Organisation der DDR-Advokaten in so genannten Kollegien erfolgte, wie sich unabhängig davon Einzelanwälte wie Friedrich Karl Kaul, Wolfgang Vogel oder Wolfgang Schnur etablieren konnten und wie die Anwaltschaft kontrolliert wurde. Hier widmet sich der Autor besonders den personalpolitischen Einflussnahmen der SED einschließlich geheimpolizeilicher Operationen ihres „Schilds und Schwerts“ während der Ermittlungsverfahren und im Umfeld von Gerichtsprozessen. Abschließend geht Booß Karrierewegen früherer DDR-Verteidiger in der wiedervereinigten Bundesrepublik nach, nicht zuletzt mit Blick auf die juristische Ahndung und die wissenschaftliche und gesellschaftliche Aufarbeitung systembedingten Unrechts im früheren SED-Staat.

Booß rekonstruiert die Strukturen der dem sowjetischem Vorbild „nachinszenierten“ (S. 122) Anwaltskollegien als Schmiedestätten des „sozialistischen Anwalts“. Dieser sollte sich gleichermaßen von der freien Advokatur der Kaiserzeit und der Weimarer Republik, aber auch vom Gleichschaltungsmodell der NS-Diktatur unterscheiden (S. 125). Wie viele andere Berufszweige hatte die Anwaltschaft nicht allein eine professionelle, sondern auch eine politische Funktion in der „sozialistischen Gesellschaftsordnung“ (S. 72).

Unter Rechtssicherheit verstand man innerhalb der Staats- und Parteiführung der DDR weniger die Sicherheit des Einzelnen vor staatlicher Willkür. Vielmehr ging es um die Gewährung und Durchsetzung von Rechten und rechtlich begründeten Ansprüchen der Bürger durch den Staat, der sich als paternalistischer Hüter der Interessen des gesellschaftlichen Kollektivs verstand (S. 154). Entsprechend sollte die sozialistische Anwaltschaft nicht bloß Organ der Rechtspflege sein. Sie sollte ihren Beitrag zur Volkserziehung durch ideologisch untermauerte Rechtsprechung leisten (S. 128 ff.), wozu die Kollegien als pseudogenossenschaftliche Strukturen mit disziplinarrechtlichen Befugnissen unter dem Einfluss des Ministeriums der Justiz (MdJ) eingerichtet waren. Dem Justizministerium kam hier die Aufgabe zu, die Anwaltschaft im Sinne einer Aufsichtsbehörde anzuleiten und zu kontrollieren (S. 133 ff.).

Die SED als Staatspartei gab die grundlegende programmatische Linie vor, wie das „sozialistische Recht“ als Mittel zur Machtsicherung aufzufassen und auszuüben war. Die Abteilung für Staats- und Rechtsfragen im Zentralkomitee der SED setzte entscheidende Impulse für Gesetzesvorhaben und konnte dem Justizministerium Anweisungen geben (S. 159). In den Kollegien wirkte die SED unter anderem durch ihre Parteigruppen und Grundorganisationen. Das MfS als „Schild und Schwert“ der SED war aus der Perspektive der Anwälte nicht nur gegnerische Partei im Strafverfahren als formell nachgeordnete Ermittlungsbehörde der Staatsanwaltschaft. Als geheimpolizeiliches Ermittlungsorgan verschränkte der Staatssicherheitsdienst gesetzlich wie untergesetzlich geregelte Verfahren mit informellen nachrichtendienstlichen Praktiken (S. 207). Darüber hinaus wirkte das MfS auch auf die frühe Anwaltskarriere ein. Denn über seine Hauptabteilung XX war es an der Studierendenauswahl beteiligt – je nach Interessenlage konnte der Staatssicherheitsdienst Bewerber blockieren oder durchsetzen (S. 255 ff.). Booß zufolge übernahm das MfS zudem spätestens ab den 1970er-Jahren die systematische Überprüfung der Anwaltschaft und nahm Einfluss auf die Zulassung und den Einsatz von Rechtsanwälten (S. 188). Partei und Staat waren somit auch auf der Ebene der Rechtsbeistände vertikal und horizontal miteinander verflochten.

Insgesamt nimmt der Weg zur universitären Ausbildung sowie das Jurastudium selbst gewichtigen Raum in Booß‘ Ausführungen zum beruflichen Werdegang von DDR-Anwälten ein. In der Tat ist es bemerkenswert, dass nicht den Universitäten, sondern den Kreis- und Bezirksgerichten eine Schlüsselrolle bei der Vorbereitung einer Hochschulzulassung zukam. Die Gerichte hatten – analog zur Delegierung von Betriebsangehörigen in Industrie und Gewerbe – die Aufgabe, den regionalen Bedarf an Richtern, Notaren und eben auch Anwälten zu ermitteln und potenzielle Justizkader zu empfehlen. Sie nahmen Eignungsprüfungen unter Abiturienten (EOS) vor, unter Federführung des Justizministeriums fanden schließlich Bewerbungsverfahren statt. Booß kommt zu dem Ergebnis, dass selbst in den 1970er- und 1980er-Jahren der explizit geäußerte Wunsch, eine Anwaltslaufbahn einzuschlagen, mit Blick auf persönliche Karriereperspektiven kontraproduktiv sein konnte (S. 251 ff.). Das Ideal, Menschen juristisch zu beraten und ihnen in rechtlichen Auseinandersetzungen unterstützend zur Seite zu stehen, war als „einseitig auf den Mandanten bezogene Berufseinstellung“ (S. 253) verpönt. Eine solche Haltung widersprach der obrigkeitlichen Vorstellung von sozialistischer Anwaltschaft und konnte oft zu einem frühen Ende einer noch gar nicht begonnenen Juristenkarriere führen – ein Rechtsanwalt in der DDR hatte an der Seite des Staates zu stehen.

Dies manifestiert sich in den empirischen Analysen der von der MfS-Bezirksverwaltung Berlin ermittelten und schließlich zur Anklage gebrachten und verhandelten Fälle, die Booß einer statistischen Auswertung unterzogen hat. Diese Daten sprechen eine eindeutige Sprache. Demnach gehörte im Jahr 1988 die Befragung von Angeklagten, also der eigenen Mandanten, mit 66 Prozent zu den häufigsten anwaltlichen Aktivitäten vor Gericht. Die Befragung von Zeugen lag mit nur rund 22 Prozent an zweiter Stelle. Das Stellen von Beweisanträgen nahm mit lediglich etwas mehr als einem Prozent einen verhältnismäßig marginalen Raum ein. Anzunehmen ist allerdings, dass Berlin nicht unbedingt als durchschnittlich angesehen werden kann, um allgemeine Rückschlüsse auf die Tätigkeit von Strafverteidigern in politischen Verfahren der Honecker-Ära zu ziehen. Was für diesen speziellen Aspekt der Untersuchung gilt, gilt auch für die Studie im Allgemeinen: Ein vergleichender Blick auf die übrigen DDR-Bezirke hätte sich gelohnt und wäre sicher erhellend gewesen, um aus der Praxis in der Hauptstadt gewonnene Erkenntnisse zu kontextualisieren.

Am Ende der Lektüre fragt man sich schließlich, wessen Rechte ein Strafverteidiger in MfS-geführten Ermittlungs- und späteren Gerichtsverfahren eigentlich zu verteidigen hatte: Schließlich war die Kriminalität zu einem überwundenen Atavismus aus vorsozialistischen Zeiten erklärt worden und strafrechtlich relevantes politisch abweichendes Verhalten galt als vom „Feind“ inspiriert. Die freie Advokatur verkam in der DDR allgemein wie besonders in politischen Strafverfahren zum ideologisch unterspülten Lippenbekenntnis: Der „sozialistische Anwalt“ hatte sein Mandat loyal gegenüber dem Staat und damit gegenüber der Staatspartei auszuüben. Das oberste Ziel des Machterhalts der SED machte naturgemäß auch vor der Instanz des Strafverteidigers als Bestandteil des Justizsystems nicht Halt. Theoretisch-ideologische und praktisch-sicherheitspolitische Blütentriebe führten das Prinzip der Rechtsdienstleistung besonders in politischen Strafverfahren ad absurdum.

Vereinzelt hätte der überaus umfangreichen Publikation etwas mehr Stringenz in den einleitenden und abschließenden Kapiteln gutgetan. Das Fazit fällt mit rund eineinhalb Seiten mehr als kurz und mit Blick auf Umfang und Inhalt der Studie nicht angemessen ausführlich und pointiert aus. Ausführungen zur theoretischen Einordnung dürfte der Leser zudem nicht erst im resümierenden Abschnitt erwarten. Die rund 690 Seiten zwischen Einleitung und Schlussbemerkung sind hingegen derart erkenntnisbereichernd, dass diese formalen Mängel in den Hintergrund treten. Booß hat eine ob ihrer Breite und Tiefe beeindruckende Studie vorgelegt, die die fein verästelten Mechanismen der Justizsteuerung in der SED-Diktatur der späten Honecker-Ära bemerkenswert akribisch nachzeichnet, empirisch unterlegt und gelungen historisch kontextualisiert.

Um seine Studie zu überschreiben, hat sich Christian Booß für das Bild des goldenen Käfigs entschieden, mit dem er Handlungsspielräume und -grenzen von Rechtsanwälten in der SED-Diktatur metaphorisch auf den Punkt bringt. „Der inszenierte Rechtsstaat“ hätte einen fast ebenso treffenden Titel abgeben können.

Anmerkung:
1 Beide Zitate aus Julia Spohr, In Haft bei der Staatssicherheit. Das Untersuchungsgefängnis Berlin-Hohenschönhausen 1951–1989, Berlin 2015, S. 299 und S. 300.

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