S. Edwards: Youth Movements, Citizenship and the English Countryside

Cover
Titel
Youth Movements, Citizenship and the English Countryside. Creating Good Citizens, 1930-1960


Autor(en)
Edwards, Sian
Erschienen
Anzahl Seiten
XVII, 296 S.
Preis
€ 106,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anette Schlimm, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Das vorliegende Buch, das auf einer an der University of Sussex entstandenen PhD-Thesis basiert, beschäftigt sich mit einem in Großbritannien in den letzten Jahren vermehrt bearbeiteten Thema, nämlich dem Zusammenhang von Citizenship (Bürgerschaft im weiteren Sinne) und Landschaft, Natur, Ländlichkeit. Während Citizenship in der deutschen Forschungslandschaft immer noch weitgehend als Staatsangehörigkeit verhandelt wird, geht es hier um die Einübung und Praktizierung von Verhaltensnormen und Werten, die einen guten Bürger, eine gute Bürgerin ausmachten, sowie deren jeweilige historische Dynamik. Während diese Fragen bislang vor allem für das frühe 20. Jahrhundert behandelt wurden1, wendet sich Edwards nun einem „key moment of the development of English modernity“ (S. X), wie die Reihenherausgeber Stefan Berger und Holger Nehring im Vorwort formulieren: auf jene als „mid-century“ bezeichneten Jahrzehnte zwischen 1930 und 1960 also, deren gemeinsamer Nenner eine beschleunigte Transformation der britischen Gesellschaft war, inklusive Weltkrieg und Dekolonialisierung.

Die Autorin interessiert sich dabei für vier große Jugendorganisationen in der Mitte des 20. Jahrhunderts: die 1907 von Robert Baden-Powell gegründete Boy Scouts Association sowie deren weibliches Pendant, die Girl Guide Association einerseits, das Woodcraft Folk und den Young Farmers‘ Club andererseits. Die Scouts und die Guides waren eindeutig die größten und einflussreichsten, auch die bekanntesten Jugendorganisationen dieser Zeit, deren imperialer Hintergrund und bürgerlich-urbane Verankerung vielfach beschrieben wurden.2 Die beiden anderen Organisationen wandten sich explizit an bestimmte Gruppen, an Jugendliche aus der Arbeiterklasse einerseits, an die jungen Landbewohnerinnen und -bewohner andererseits. Die Scouts und die Guides stehen bei Edwards im Zentrum; durch die Erweiterung des Spektrums auf das ländliche und das Arbeitermilieu gelingt es der Autorin aber, gerade die räumliche und soziale Spezifik der Baden-Powell-Organisationen herauszuarbeiten.

Alle vier Organisationen untersucht Edwards darauf, welche Rolle das englische respektive britische Land (im Gegensatz zur Stadt) für die Vorstellungen und Einübungen von Citizenship im Zeitraum zwischen 1930 und 1960 spielte. Das Ergebnis kurz zusammengefasst: eine enorme! Während gerade in Hinblick auf Jugendliche die Stadt als ein Raum möglicher oder drohender Delinquenz oder des abstumpfenden Massenkonsums galt, schien das Land durch vielfältige Erfahrungen mit der Natur (Wandern, Camping etc.) jene Verhaltensweisen zu ermöglichen, mittels derer gute Bürgerinnen und Bürger geschaffen werden konnten. „[M]eanings of good citizenship in youth movements were implicitly linked with an outdoor ethos” (S. 19), so Edwards; in Anlehnung an David Matless nennt sie dies „landscaped citizenship” (ebd.).

Bei dem knappen, gut lesbaren Buch handelt es sich in erster Linie um eine dichte Lektüre der Organisationszeitschriften, die die Jugendlichen unterhalten, aber auch bilden sollten. Diese stellten, so argumentiert Edwards, keine kommunikative Einbahnstraße dar, denn sie bezogen systematisch Leserzuschriften, Fragen, aber auch Leserinnen- und Leserbeiträge ein. So geraten zumindest ab und an die Jugendlichen selbst in den Fokus von Edwards Analyse. Weitere Quellen werden lediglich punktuell herangezogen, vor allem Materialien der Mass Observation (MO), einer Organisation, die sich die Erforschung von Denk- und Lebensweisen der englischen Bevölkerung auf die Fahnen schrieb und dazu regelmäßig themenzentrierte Panels veranstaltete.

Edwards ordnet ihre Studie vor allem in vier Forschungszusammenhänge ein: a) in die Geschichte der Jugend und der Jugendbewegungen, b) in die Geschichte von Ländlichkeit und Naturerfahrung, c) die Geschichte der Moderne und d) die Citizenship-Forschungen. Ihre grundlegende These lautet dabei, dass die untersuchten Jugendbewegungen in ihren Ansätzen zur Formung vernünftiger Bürgerinnen und Bürger eine räumlich gefasste Moderne vertraten, die dem Land und der Natur eine große Bedeutung als Raum von (Selbst-)Erfahrung und (Selbst-)Bildung zumaß.

Nach einer längeren Einleitung, in der die Autorin die verschiedenen Forschungsstränge diskutiert und die untersuchten Organisationen knapp vorstellt, folgt zunächst ein allgemeineres Kapitel zum Zusammenhang von Landschaft und Citizenship im Großbritannien der Jahrhundertwende. Hier stützt sich Edwards vor allem auf Mass Observation-Quellen, aus denen sich die Einstellungen und Vorstellungen der britischen Bevölkerung zum ländlichen Raum herausarbeiten lassen. Es wird deutlich, dass die enorme Bedeutung, die dem Land in den Jugendorganisationen zugeschrieben wurde, Widerhall auch in der restlichen Bevölkerung fand. Dann wendet sich die Autorin der Analyse der Zeitschriften der Jugendorganisationen zu, die sie in vier Unterkapitel unterteilt: Da geht es um Freizeit, um Arbeit, um das Heim und um die Gesellschaft (community), jeweils in Bezug auf „the good citizen“. In allen vier Dimensionen wird das Verhalten des guten Bürgers, der guten Bürgerin implizit oder explizit mit dem ländlichen Raum verknüpft. Am Beispiel der Dimension Arbeit lässt sich die Vielfalt dieser Verknüpfung besonders gut zeigen: In den 1930er-Jahren wurde Arbeit und Citizenship in den Begriffen von Arbeitslosigkeit verhandelt; während des Zweiten Weltkriegs ging es darum, dass auch städtische Jugendliche mit ihrer Hände Werk zur Lebensmittelversorgung der Nation beitragen sollten („digging for victory“, S. 162). Und spätestens nach dem Krieg, zur Zeit der Modernisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft, bemühten sich die Jugendorganisationen um Training und Wissensvermittlung, um einerseits ausreichend landwirtschaftliche Arbeitskräfte zu rekrutieren, andererseits durch Kurse und Projekte so viel Wissen über die Landwirtschaft zu vermitteln, dass die wahrgenommene Kluft zwischen Stadt und Land überbrückt werden konnte.

Die „landscaped citizenship“ der britischen Jugendorganisationen war keineswegs homogen oder homogenisierend, sondern entlang von Klassen- und Geschlechtergrenzen organisiert. Diese Differenzen wurden im Reden und Schreiben über Citizenship und Countryside gemacht und verstärkt, doch auch immer wieder überkreuzt und in Frage gestellt. Zudem betont die Autorin, dass gerade die hochgradig binäre Geschlechtermatrix nicht nur als Übermächtigung der Jugendlichen verstanden werden dürfe; so wurde etwa die Schulung in Haushaltsfragen durchaus auf Nachfrage der (weiblichen) Jugendlichen ausgebaut. Hier zeigt sich jenseits aller Machtverhältnisse auch eine gewisse Agency der Mitglieder in den Organisationen, so Edwards.

Eine solche Zeitschriftenauswertung, wie Edwards sie vornimmt, hat unbestreitbare Vorteile, etwa die lange Dauer, die mithilfe der gleichen Quellen untersucht werden kann. So wurden die Zeitschriften der Scouts und des Young Farmers‘ Club für jeden einzelnen Monat des Untersuchungszeitraums ausgewertet. Dennoch bleibt eine solche Analyse auch unbefriedigend, vor allem, wenn lediglich die Texte, nicht aber die materiellen Seiten der Medien analysiert werden. So geht Edwards weder auf die Form noch auf Produzentinnen und Produzenten der Zeitschriften ein. Auch über die Finanzierung, die materielle Produktion der Hefte, die Leserschaft etc. hätte die Rezensentin gerne mehr gewusst; vor allem hätte eine solche Perspektive auf die Materialität der Zeitschriften der Analyse möglicherweise gut getan. So bleibt die dichte Lektüre der Zeitschriftentexte häufig etwas freischwebend und wird auf Dauer etwas ermüdend.

Nichtsdestotrotz: Bei dem Buch handelt es sich um eine lesenswerte Studie, der auch in Deutschland eine breite Leserschaft zu wünschen wäre. Doch der hohe Preis des Buches ist für eine Einzelstudie hochgradig prohibitiv. Wer kauft für mehr als einhundert Euro eine Dissertation von knapp 250 Seiten, die nicht einmal besonders ausgestattet ist (Bilder fehlen beispielsweise völlig)? Und auch Bibliotheken werden angesichts der knappen Mittel für Neuanschaffungen von einem solchen Buch eher die Finger lassen. Das ist verständlich – für die hier besprochene Studie ist der hohe Preis aber eine Katastrophe.

Anmerkungen:
1 Beispielsweise Peter Brassley / Jeremy Burchardt / Lynne Thompson (Hrsg.), The English Countryside between the Wars. Regeneration or Decline?, Woodbridge 2006; Jeremy Burchardt, State and Society in the English Countryside: The Rural Community Movement 1918–39, in: Rural History 23 (2012), S. 81–106.
2 Beispielsweise John Springhall, The Boy Scouts, Class and Militarism in Relation to British Youth Movements 1908-1930, in: International Review of Social History 16 (1971), S. 125–158; Paul Wilkinson, English Youth Movements, 1908–30, in: Journal of Contemporary History 4 (1969), S. 3–23. Dagegen betont Tammy Proctor, dass die Scouts und Guides sich gerade in der Zwischenkriegszeit gesellschaftlich stark öffneten. Dies., On my Honour. Guides and Scouts in Interwar Britain, Philadelphia 2002.