Cover
Titel
Dance in Chains. Political Imprisonment in the Modern World


Autor(en)
Kenney, Padraic
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 330 S.
Preis
€ 21,42
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lucia Herrmann, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Wer oder was ist ein politischer Gefangener? Diese Frage ist umstritten, da Regierungen in der Regel die Existenz von politischen Gefangenen in den Gefängnissen des eigenen Landes leugnen. Es ist dieser Streit, der den politischen Gefangenen bis heute zu einer wirkmächtigen Figur in politischen Auseinandersetzungen macht. In „Dance in Chains“ versucht der Historiker Padraic Kenney diese Figur zu entziffern, indem er die Proteste und Erzählungen von Gefangenen untersucht, die seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert aus politischen Gründen inhaftiert wurden. Dazu untersucht er politische Haft als ein Phänomen der Moderne und nimmt das Gefängnis als Ort politischer Aushandlungsprozesse zwischen Regierungen und ihren politischen Gegnern in den Blick (S. 5). Er zeigt nicht nur, wie moderne Staaten durch Inhaftierungspraktiken versuchten, ihre Kritiker/innen zu unterdrücken oder zum Schweigen zu bringen. In „Dance in Chains“ geht es vor allem um die konkreten Praktiken, mit denen politische Häftlinge die Macht des inhaftierenden Regimes immer wieder herausfordern, infrage stellen oder gar unterminieren konnten.

Kenney stützt sich auf ein breites Quellenmaterial zu Fällen von politischer Haft in (Nord-)Irland, Südafrika und Polen aus den letzten knapp 150 Jahren. Ihn interessieren die politischen Beziehungen im Gefängnis, unter Gefangenen sowie zwischen Gefangenen und dem inhaftierenden Regime, die er als zeitlich und geographisch übergreifendes Phänomen betrachtet. Besondere Aufmerksamkeit schenkt er den Erzählungen von politischen Gefangenen und der Frage nach ihrer Handlungsmacht.

Die Studie ist in neun Kapitel gegliedert, wovon die ersten fünf Kapitel den politischen Gefangenen „in der modernen Welt situieren“ und die restlichen vier auf „neue politische Wirklichkeiten“ eingehen. Die einzelnen Kapitel behandeln verschiedene Facetten dessen, was der Autor als „politisches Gefängnis“ (political prison) bezeichnet: Es geht um den Eintritt ins Gefängnis und die Frage, wie man zu einem politischen Gefangenen wird (Kap. 3), um verschiedene Formen des Protests, mit denen Gefangene die Kontrolle eines Regimes herausfordern (Kap. 6, Kap. 7, Kap. 8), sowie um die Bedeutung des Gefängnisaufenthalts für die politische Bewegung außerhalb der Institution und für die Weiterentwicklung der politischen Sache, für die die Gefangenen kämpfen (Kap. 4, Kap. 9).

Auch wenn die Gliederung der Studie keinem geradlinigen zeitlichen Ablauf folgt, arbeitet Kenney doch mit einer bestimmten Chronologie. Die Geschichte des modernen politischen Gefangenen begann laut Kenney in den 1860er-Jahren und entwickelte sich seither in drei Phasen. In der ersten Phase zwischen 1860 und dem Ersten Weltkrieg entstand der moderne politische Gefangene; aus „inhaftierten Politischen“ (imprisoned politicals) wurden „politische Häftlinge“ (political prisoners). Im Unterschied zu den „inhaftierten Politischen“, für die die Zeit der Inhaftierung, ähnlich einem inneren Exil, ein Hindernis für die politische Tätigkeit war, wussten „politische Häftlinge“ den Aufenthalt im Gefängnis für ihre Aktivitäten und Protestformen zu nutzen. Aus einer Politik gegen das Gefängnis wurde eine Politik im und mit dem Gefängnis. Als Gründe für diese Verschiebung nennt Kenney unter anderem die gewandelte Praxis von Staaten, ihre Gegner nicht mehr in die Verbannung zu schicken, die Herausbildung von Parteien und sozialen Bewegungen, die eine Öffentlichkeit über das Schicksal von Oppositionellen im Inneren von Haftanstalten informierten, sowie neue Kommunikationstechnologien, die es ermöglichten, viele Menschen zu erreichen.

In einer zweiten Phase, die Kenney im Zeitraum zwischen dem Ende des Ersten Weltkriegs und den 1950er-Jahren verortet, veränderte sich die Praxis politischer Inhaftierung: Eine größere Zahl Oppositioneller wurde eingesperrt, sowohl in Gefängnissen als auch in Lagern; rechtliche Privilegien wurden aufgehoben; politische Häftlinge wurden zunehmend schikaniert, gefoltert, gar entmenschlicht (Kap. 2). Gleichzeitig gründeten sich neue, auch transnational operierende Organisationen und Bewegungen außerhalb des Gefängnisses, die sich primär für politische Gefangene einsetzten. In dieser Zeit entstand sowohl die Internationale Rote Hilfe als auch das weniger bekannte Internationale Komitee für Politische Gefangene in New York, das politisch unabhängig agierte.

Wie wichtig solche Organisationen und Gruppen für die Möglichkeiten von Gefängnisprotest waren, zeigt sich in der dritten Phase. In der Zeit ab den 1960er-Jahren wurde politische Haft mit dem aufkommenden Menschenrechtsaktivismus zu einem internationalen Thema, wobei Kenney insbesondere die Arbeit von Amnesty International und das Konzept des „prisoner of conscience“ hervorhebt (Kap. 5). In diesem Zusammenhang zeigt er auf, wie Amnestys intensive Publikationstätigkeit dazu beitrug, dass die erzählten Geschichten von politischen Gefangenen zu einem übergreifenden und in gewisser Weise vereinheitlichten Narrativ über die Figur des politischen Gefangenen geformt wurden.

Kenney möchte die Gemeinsamkeiten der Erfahrung des „politischen Gefängnisses“ herausarbeiten, ist dabei aber auch um die Vielstimmigkeit der Gefangenen bedacht. Er rekurriert auf eine Vielzahl an Erinnerungen, Berichten, Briefen und Notizen von politischen Gefangenen, die von unterschiedlichsten Haftbedingungen betroffen waren (vom nationalsozialistisch besetzten Polen über Südafrika unter dem Apartheid-Regime bis zu den H-Blocks, in denen Mitglieder der IRA untergebracht wurden). Dabei kommen neben einigen bekannten Namen wie Nelson Mandela und Bobby Sands auch viele weniger bekannte Stimmen zu Wort. Kenney geht Fragen der Selbst- und Fremdwahrnehmung von politischen Gefangenen nach und zeigt, wie die Identität des „politischen Gefangenen“ immer wieder erkämpft und performativ ausgedrückt wurde (Kap. 3, Kap. 6, Kap. 7). Er widmet sich auch der dramatischsten aller Protestformen im Gefängnis: dem Hungerstreik. Ohne zu romantisieren, versucht er zu erklären, wie die Gefangenen mit dieser eigentlich „irrationalen“ Protestform (S. 206), der Selbstzerstörung und der Inkaufnahme des eigenen Todes, umgingen und sie legitimierten.

Die breit angelegte Studie schließt mit einem Nachwort, in dem Kenney auf die aktuelle Debatte rund um das amerikanische Gefängnis in Guantánamo Bay eingeht. Sind die dort Inhaftierten als politische Gefangene zu verstehen? Wie in seiner historischen Untersuchung betont Kenney auch hier die Bedeutung von Häftlingserzählungen und schließt mit der Bemerkung, dass es diese Geschichten sind, die in der Zukunft mehr Gewicht haben werden als die offizielle Geschichte der amerikanischen Regierung. Der Versuch, politische Gegner durch Einsperren zum Schweigen zu bringen, verfehle in der Regel sein Ziel.

Das Anliegen der Studie, das Gefängnis als Ort politischer Konflikte und Auseinandersetzungen in vergleichender und transnationaler Perspektive zu untersuchen, ist im Hinblick auf das wachsende Interesse der historischen Forschung an Gefängnissen und Gefangenen im 20. Jahrhundert begrüßenswert und trägt einem Forschungsdesiderat Rechnung.1 Gleichwohl ergibt sich aus dem in „Dance in Chains“ gewählten Zugang eine Problematik, auf die abschließend hingewiesen sei. Es wird nicht immer klar, wie Kenney den Begriff des „politischen Gefangenen“ verwendet, da dieser bei ihm sowohl Analysebegriff als auch historischer Untersuchungsgegenstand ist. Zwar weist er mehrfach auf die Historizität und die Umstrittenheit des Begriffs hin, doch wenn Gefangene, die das Gefängnis für politischen Protest nutzen, als „politische Gefangene“ bezeichnet werden, dann bezieht sich diese Bezeichnung immer nur auf inhaftierte Regimekritiker und Oppositionelle. Aus dieser heuristischen Vorentscheidung ergeben sich drei Konsequenzen: Erstens wird das Gefängnis nur als Ort politischer Aushandlungsprozesse zwischen Regimegegnern und Behörden untersucht, Beziehungen zu anderen Akteuren und Protesten wie jene von „gewöhnlichen Strafgefangenen“ geraten aus dem Blick.2 Zweitens wirken „gewöhnliche Gefangene“ im Gegensatz zu politischen Gefangenen als statischer Block; dem Wandel der Wahrnehmung von Kriminalität und Verbrechen im 20. Jahrhundert trägt Kenney keine Rechnung. So ist auch nicht immer klar, welche der beschriebenen Erfahrungen spezifisch für Regimegegner waren oder der allgemeinen Gefängnisinstitution entsprachen. Drittens bleibt Kenneys Analysebegriff des „politischen Gefangenen“ auch deshalb unscharf, weil er die Motive seiner Akteure bewusst ausklammert. So weist er am Beginn der Studie zwar darauf hin, dass politische Gefangene nicht bloß als „good people held by bad regimes“ (S. 3) angesehen werden sollten, und nennt namentlich Adolf Hitler und Sadam Hussein, die das Gefängnis politisch zu nutzen wussten. Auf die symbolische Bedeutung der Kategorie und die Problematik von dezidiert antidemokratischen Häftlingen, die als „politische Gefangene“ anerkannt werden wollten, geht die Studie aber leider nicht ein.

Nichtsdestotrotz bietet „Dance in Chains“ einen guten Einstieg in die Auseinandersetzung mit dem „politischen Gefängnis“ im 20. Jahrhundert. Kenneys große Leistung besteht darin, das Thema von einem konkreten Fall und der Geschichte eines einzelnen Regimes zu lösen und als übergeordnetes Phänomen im 20. Jahrhundert zu begreifen. Die Studie lädt zum Weiterdenken und kritischen Hinterfragen einer Problematik ein, die, wie der Autor ebenfalls zeigt, nicht an Aktualität verloren hat.

Anmerkungen:
1 Vgl. Mary Gibson, Global Perspectives on the Birth of the Prison, in: American Historical Review 106 (2011), S. 1040–1063, hier S. 1046.
2 Zur Geschichte von Gefangenenprotest und Aktivismus siehe Perry Zurn / Andrew Dilts (Hrsg.), Active Intolerance. Michel Foucault, the Prison Information Group and the Future of Abolition, Basingstoke 2016.

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