P. Vonnard u.a. (Hrsg.): Beyond Boycotts

Cover
Titel
Beyond Boycotts. Sport during the Cold War in Europe


Herausgeber
Vonnard, Philippe; Sbetti, Nicola; Quin, Grégory
Reihe
Rethinking the Cold War 1
Erschienen
Anzahl Seiten
VIII, 234 S.
Preis
€ 79,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Robin Streppelhoff, Brühl

Was für ein Timing: Kurz bevor die Olympischen Winterspiele von Pyeongchang im Februar 2018 eine breite Diskussion über die Rolle des Sports in internationalen Beziehungen entlang der alten Demarkationslinien des Kalten Krieges erzeugten, eröffnete der Verlag De Gruyter seine Reihe „Rethinking the Cold War“, herausgegeben von Kirsten Bönker und Jane Curry.1 Eine solche Serie mit einem Werk zum Sport zu beginnen, wäre vor zehn Jahren kaum denkbar gewesen. Inzwischen aber ist die Sportgeschichte ihren Kinderschuhen längst entwachsen und erfreut sich eines zunehmenden Interesses auch unter „Allgemeinhistorikern“.2 Sportliche Großveranstaltungen avancierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts regelmäßig zu Brenngläsern des Ost-West-Konflikts, sodass es kaum verwundert, dass die beiden einschlägigen Datenbanken sportbezogener Wissenschaften eine Vielzahl an Publikationen dazu ausweisen. So führt der kommerziell von EBSCO betriebene SPORTDiscus für das Suchstichwort „Cold War“ 241 wissenschaftliche Fundstellen auf, während das Bundesinstitut für Sportwissenschaft (BISp) in seinem frei zugänglichen Sportinformationsportal SURF sogar auf 287 Treffer kommt (beide Datenbanken mit Stand 22. Juni 2018).3

Vor diesem Hintergrund bespielt der vorliegende Sammelband zwar kein gänzlich neues Feld, vermeidet aber gekonnt die bisherigen Standards: Wie der Titel „Beyond Boycotts“ bereits erkennen lässt, sind die Autoren der taktischen Anweisung der Herausgeber gefolgt, Großveranstaltungen, explizit „Olympische Spiele“ (S. 5), zu umdribbeln. Hinter dieser Idee steckt die generelle Absicht, nicht das Trennende, sondern das Verbindende zu betonen, das den Sport als gesellschaftliches Feld auszeichnen kann. Um dieses Ziel zu erreichen, soll die Komplexität des Sports in internationalen Beziehungen stärker hervorgehoben werden (S. 7). Die dafür aufgebotene Mannschaft hat ein beeindruckendes Potential. So laufen die 13 Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler für akademische Einrichtungen Belgiens, Deutschlands, Frankreichs, Großbritanniens, Italiens, Schwedens, der Schweiz und Spaniens auf. Zudem wurde mit Martin Polley (De Montfort University, Leicester) einer der international renommiertesten Sporthistoriker für das Nachwort verpflichtet. Die zehn Beiträge, die der vorliegende Sammelband umfasst, sind drei Oberthemen zugeordnet: erstens Fallstudien zur europäischen Sportdiplomatie, zweitens Erkenntnisse zum blockübergreifenden innereuropäischen Austausch und drittens Beiträge zu transkontinentalen Beziehungen.

Nicola Sbetti stellt im Auftaktkapitel die Rolle des Sports im italienischen Triest der unmittelbaren Nachkriegszeit (1945–1948) dar – der Kalte Krieg hatte also noch nicht begonnen, ließ seine Konfliktzonen aber schon erahnen. Sportaktivitäten spiegelten hier nicht nur politisch-ideologische Linien zwischen Sozialisten und liberalen Demokraten, sondern beeinflussten auch selbst das politische Leben der Stadt (S. 32). Einen gänzlich anderen Blick auf das Phänomen Sport richtet ein Autoren-Duo: Daniel Svensson und Anna Åberg vergleichen die Entwicklung der trainingswissenschaftlichen bzw. leistungsphysiologischen Expertise im Skisport sowie deren Verbreitung in Schweden und der Sowjetunion, vor allem in der Zeit von 1940 bis 1970. Historische Studien zur Trainingswissenschaft sind ein relativ wenig beackertes Feld, sodass es nicht verwundert, dass die Autoren schließlich mehr Fragen als Antworten haben. Als zentrales Desiderat machen sie Untersuchungen zur nationalen Entwicklung und internationalen Verbreitung sportwissenschaftlicher Erkenntnisse aus (S. 52f.). Wie in vielen Diktaturen, so wurde auch in Spanien unter Franco der Sport für politische Zwecke genutzt. Juan Antonio Símon konzentriert sich in seiner Analyse auf die Instrumentalisierung des Sports durch das Ministerium für Auswärtige Angelegenheiten während der 1960er-Jahre. Seine Bilanz: „sport was not the defining factor in the Franco dictatorship’s foreign policy“ (S. 66). Gleichzeitig unterstreicht er für Spanien jedoch die Bedeutung bilateraler Sportbeziehungen, deren Normalisierung in einigen Fällen dem Austausch von Botschaftern vorangegangen sei.

Im Abschnitt zur blockübergreifenden europäischen Perspektive belegt Sylvain Dufraisse anhand zahlreicher Quellen aus sowjetischen Archiven, wie sich unter den Volksrepubliken vor allem in den 1950er-Jahren ein Sport-Netzwerk entwickelte. Während dabei die Sowjetunion als staatlicher Akteur im Mittelpunkt steht, stellen Philippe Vonnard und Kevin Marston die ebenfalls verbindende Wirkmacht des europäischen Fußballverbandes UEFA als nichtstaatliche Institution heraus (1955–1964). Hier mussten sich Nationen aus Ost und West an einem Tisch auf Regularien verständigen. Auch die Turniere an sich stellten eine Möglichkeit dar, persönlich mit Menschen von der anderen Seite des Eisernen Vorhangs in Kontakt zu treten, woraus wiederum ein Beziehungsgeflecht resultierte, das die politischen Differenzen der Staatsführungen überbrücken konnte. Einem ähnlichen Ansatz folgt Stefan Scholl, der die Europäischen Sportkonferenzen (ESC) in Bezug auf „Cooperation and conflict“ prüft und sie schließlich als „important platform of communication in sports between East and West during the 1970s and 1980s“ charakterisiert (S. 131). Wie eine kurze Recherche mit der Archivsuchmaschine ARGUS zeigt, lagern auch im Bundesarchiv (Stiftung Archiv und Parteien der Massenorganisationen der DDR, SAPMO) noch Dokumente für weiterführende Studien zu den ESC.

Vor dem Hintergrund allgemeiner Literatur zur öffentlichen Diplomatie der Vereinigten Staaten gibt François Doppler-Speranza einen Einblick in die Wirkung der US-amerikanischen „Basketball Ambassadors on US Military Bases in France (1916–1961)“. Die hier im Untertitel angegebene große Zeitspanne und die damit verbundenen unterschiedlichen politischen Settings erlauben allerdings gemeinsam mit den wenigen Originalquellen bestenfalls einen Überblick mit Schwerpunkt auf der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Nahezu ohne Quellenkritik stützt sich der Autor fast ausschließlich auf zwei Oral-History-Interviews mit dem ehemaligen Basketballer Robert E. Sisk sowie auf Artikel der US-amerikanischen Stützpunktzeitung „Chambley Sabre“. Sisk spielte für die „Desert Rats“, die unter anderem Kontakte zur lokalen Bevölkerung herstellen sollten, um das Ansehen der USA in Frankreich zu stärken (S. 150). Claire Nicolas verfolgt mit „The Ghana Young Pioneers“ eine „African grounded perspective“ (S. 157), die verdeutlicht, wie die ghanaische Jugend unter Präsident Kwame Nkrumah in den 1960er-Jahren Mittel der Entwicklungshilfe dazu nutzte, Großbritannien, die Sowjetunion und China zu bereisen, um die neu gewonnene Unabhängigkeit ihres Landes zu verdeutlichen und sportpraktisches Know-how zu erwerben. Mit Recht fordert Nicolas abschließend, die Forschung zu südlichen Staaten in den Cold War Studies zu vertiefen. In seiner medienhistorischen Betrachtung zu dem berühmten Stellvertreterwettkampf im Schach zwischen Bobby Fischer und Boris Spasskij (Reykjavik, 1972) kommt Souvik Naha ohne Archivgut aus. Mit einigen Belegen aus englischsprachigen Zeitungen zeigt er – wenig überraschend –, dass die Presse das Duell politisch konnotierte. Russische Berichte werden dabei leider nur aus zweiter Hand wiedergegeben. Abschließend schildern Quentin Tonnerre und Grégory Quin die ebenfalls 1972 durchgeführten Demonstrationswettkämpfe chinesischer Tischtennisspieler in der Schweiz. Damit verdeutlichen sie vor allem die Neuordnung schweizerischer Sportdiplomatie in den 1970er-Jahren.

Nahezu auf allen Positionen werden die Autorinnen und Autoren dem Anspruch gerecht, Fallstudien mit bislang nicht berücksichtigten Quellen zu präsentieren, die teilweise noch kaum oder gar nicht bekannten Archivbeständen entstammen. Ein Personenregister und eine Auswahlbibliographie bereichern die Nachspielzeit des Sammelbandes. Kleinere redaktionelle Ungenauigkeiten fallen kaum auf und sollen die insgesamt hervorragende Leistung nicht schmälern – für Erbsenzähler sei dennoch darauf hingewiesen: Die deutsche Sporthistorikerin Evelyn Mertin heißt mal Evelyne (S. 7), mal Martin (S. 186), und eine Jahresangabe fehlt in der Auswahlbibliographie für den Beitrag von Kevin Witherspoon (S. 228). Wichtiger aber: Nach dem Spiel ist vor dem Spiel, und so wären weitere Studien zu dem vorgelegten Thema zu begrüßen. Martin Polley liefert dafür in seinem Nachwort Anregungen. So könnten etwa politisch orientierte Sportveranstaltungen wie die Makkabiaden ins Visier genommen werden. Ebenso wären die Rolle des Sports in Städtepartnerschaften und die sozialen Kontakte unter international reisenden Fans lohnende Spielbälle für die nächste Partie.

Anmerkungen:
1https://www.degruyter.com/view/serial/495549 (29.06.2018).
2 Vgl. z.B. Wolfram Pyta, Sportgeschichte aus der Sicht des Allgemeinhistorikers: methodische Zugriffe und Erkenntnispotentiale, in: Andrea Bruns / Wolfgang Buss (Hrsg.), Sportgeschichte erforschen und vermitteln. Jahrestagung der dvs-Sektion Sportgeschichte vom 19.-21. Juni 2008 in Göttingen, Hamburg 2009, S. 9–21.
3 Im Sportinformationsportal SURF (Sport und Recherche im Fokus) wurde die Suche mit dem Schlagwort „Ost-West-Konflikt“ um eine freie Suche nach „Kalter Krieg“ ergänzt. Die aktuellen Ergebnisse können hier eingesehen werden: https://www.bisp-surf.de/Search/Results?join=OR&bool0%5B%5D=AND&lookfor0%5B%5D=Ost-West-Konflikt&type0%5B%5D=Subject&bool1%5B%5D=AND&lookfor1%5B%5D=%22Kalte%2A+Krieg%22&type1%5B%5D=AllFields&sort=year+descAllFields&sort=year+desc (29.06.2018).