F. Lenger: Globalen Kapitalismus denken

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Titel
Globalen Kapitalismus denken. Historiographie-, theorie- und wissenschaftsgeschichtliche Studien


Autor(en)
Lenger, Friedrich
Reihe
Studien zur Geschichte und Theorie des Kapitalismus
Erschienen
Tübingen 2018: Mohr Siebeck
Anzahl Seiten
215 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roman Köster, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Das vorliegende Werk ist als erster Band einer Schriftenreihe zur Geschichte und Theorie des Kapitalismus konzipiert. Letztere soll eine Plattform sowohl für Beiträge zur Geschichte des globalen Kapitalismus wie zu dessen Theoriegeschichte bieten, wobei dieser umfassende Anspruch die Heterogenität der drei Beiträge rechtfertigt, die Friedrich Lenger in dem vorliegenden Buch zusammengefasst hat: nämlich einen Überblick über neuere Forschung zur Geschichte des globalen Kapitalismus, einen Beitrag über Adam Smith und schließlich eine ausführliche Geschichte des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“, der bis zu ihrer durch die Nationalsozialisten erzwungenen Einstellung 1934 wahrscheinlich wichtigsten sozialwissenschaftlichen Fachzeitschrift im deutschsprachigen Raum.

Den Anfang macht dabei ein umfangreicher Forschungsüberblick zur Geschichte des globalen Kapitalismus, die Lenger anhand der Debatten um Handelskapitalismus und Sklaverei in der Frühen Neuzeit sowie der Frage globaler Verflechtungen und Entwicklungsunterschiede seit dem 18. Jahrhundert diskutiert. Am Ende geht der Autor auch noch auf die Frage möglicher Periodisierungen bzw. Abgrenzung verschiedener Phasen der Entwicklung des globalen Kapitalismus ein, wobei er Überlegungen Werner Sombarts zur Unterscheidung von Hoch- und Spätkapitalismus aufgreift. Das ist interessant, wenn auch wenig überraschend, hat sich Lenger doch mit einer vielgelobten Arbeit über Sombart habilitiert.1

Der Forschungsüberblick wirft allerdings einige Fragen auf. Zunächst sind Lengers Gewichtungen zumindest diskussionswürdig. Während vieldiskutierte Bücher wie etwa das von Angus Deaton über „The Great Escape“ oder von Sven Beckert über das „Empire of Cotton“2 mit wenigen lapidaren Sätzen abgetan werden, verwendet er viel Platz darauf, die neueste Weiterführung von Immanuel Wallersteins Weltsystem-Ansatz zu diskutieren, der in der Forschung bereits seit längerer Zeit – und das mit guten Gründen – als „erledigt“ gilt. Das liegt vor allem daran, dass Wallerstein die Entstehung eines kapitalistischen Weltsystems im Wesentlichen im 16. Jahrhundert verortet. Das aber nötigt ihn dazu, die Bedeutung der Industrialisierung systematisch herunterzuspielen, weshalb dieser Ansatz zu den wirtschaftlichen und sozialen Umwälzungen des globalen Kapitalismus seit dem 18. Jahrhundert nur noch wenig zu sagen hat.

Eine weitere „Merkwürdigkeit“ ist zudem Lengers vehemente Verteidigung der Forschungen von Kenneth Pomeranz. Letzterer hatte in seiner äußerst einflussreichen Arbeit über die „Great Divergence“ aus dem Jahr 2000 die These aufgestellt, dass Großbritannien und das Yangtse-Delta um 1750 mehr oder weniger die gleichen Voraussetzungen für die Industrialisierung gehabt hätten. Dann jedoch hätte die Verfügbarkeit organischer Brennstoffe (Kohle) und von Rohstoffen aus den Kolonien letztlich den Ausschlag dafür gegeben, dass Großbritannien die durch Ressourcenengpässe gezogenen natürlichen Wachstumsgrenzen durchbrechen konnte. Gerade die durch Pomeranz angeregte Forschung konnte jedoch überzeugend zeigen, dass diese These nicht haltbar ist: Nicht nur hatte Großbritannien bereits um die Mitte des 18. Jahrhunderts einen ökonomischen Entwicklungsvorsprung, sondern auch auf anderen Gebieten – etwa dem Finanzsystem oder dem Stand des „Nützlichen Wissens“ (Joel Mokyr) – hatte es Vorteile gegenüber China.3 Angesichts dieses Forschungsstandes erstaunt zumindest der scharfe Ton, den Lenger gegenüber den Kritikern von Pomeranz anschlägt.

Der zweite Text über Adam Smith repliziert vor allem bereits bekannte Ergebnisse der Forschung und bietet insofern wenig Neues. Dass etwa das sog. „Adam Smith-Problem“ (also der angebliche Gegensatz zwischen dem empathischen Menschen in der „Theory of Moral Sentiments“ und dem eigennützigen im „Wealth of Nations“) in Wirklichkeit gar kein Problem ist, hat man beispielsweise schon oft gelesen. Auch Lengers Ausführungen zu den moralphilosophischen Grundlagen vom Smiths Denken bieten im Wesentlichen bereits Bekanntes, was angesichts der sehr differenzierten Smith-Forschung aber vielleicht auch gar nicht anders geht.

Schließlich ist Lengers umfangreicher Aufsatz zur Geschichte des „Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik“ sehr gut gelungen. Hier rekonstruiert der Autor detailliert die Entwicklung dieser Zeitschrift, in der zahlreiche programmatische Aufsätze erschienen sind. Lenger betrachtet sie mit gutem Recht als konstitutiv für eine eigenständige deutschsprachige Tradition der Sozialwissenschaft. Dabei verfolgt er die Geschichte des „Archivs“ gegliedert nach ihren Herausgebern Rudolf Braun, Max Weber und Werner Sombart sowie Emil Lederer und Joseph Schumpeter und verknüpft dabei geschickt institutionelle mit inhaltlichen Schwerpunktsetzungen und fachlichen Trends der sich damals noch hauptsächlich unter dem Dach der Nationalökonomie befindlichen Soziologie. Insgesamt leistet Lenger damit einen wichtigen Beitrag zu der bislang noch viel zu wenig bearbeiteten Geschichte der sozialwissenschaftlichen bzw. nationalökonomischen Fachzeitschriften im 20. Jahrhundert.

Die Forschung zur Geschichte des Kapitalismus hat Konjunktur, wobei der gewaltige Umfang dessen, was der Begriff des Kapitalismus umfassen kann, analytisch sowohl Vorteile als auch Nachteile hat. Der Vorteil besteht meines Erachtens darin, dass er ein Label für eine synthetisierende Gesamtschau wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen bietet. Das ist nicht nur von gesellschaftspolitischem Interesse, sondern kann tatsächlich neue und weiterführende Perspektiven für die Wirtschaftsgeschichte eröffnen. Der Nachteil besteht allerdings eventuell doch darin, dass gerade die Breite dessen, was unter den Begriff des Kapitalismus gefasst werden kann, die Gefahr einer gewissen Beliebigkeit mit sich bringt. Es wird darum wichtig sein, im Rahmen der Forschung zum Kapitalismus präzise Probleme zu identifizieren, die Anschlussmöglichkeiten für zielführende Debatten eröffnen. Es ist zu wünschen, dass die neue Schriftenreihe dazu einen Beitrag leistet.

Anmerkungen:
1 Friedrich Lenger, Werner Sombart 1863–1941. Eine Biographie, München 1994.
2 Angus Deaton, The Great Escape. Health, Wealth, and the Origins of Inequality, Princeton 2013; Sven Beckert, Empire of Cotton. A Global History, New York 2014.
3 Vgl. Peter Kramper, Warum Europa? Konturen einer globalgeschichtlichen Forschungskontroverse, in: Neue Politische Literatur 54 (2009), S. 9–46; Bozhong Li / Jan Luiten van Zanden, Before the Great Divergence? Comparing the Yangzi Delta and the Netherlands at the Beginning of the Nineteenth Century, in: The Journal of Economic History 72 (2012), S. 956–989.