H.-C. Jasch u. a.: Der Holocaust vor deutschen Gerichten

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Titel
Der Holocaust vor deutschen Gerichten. Amnestieren, Verdrängen, Bestrafen


Autor(en)
Jasch, Hans-Christian; Wolf Kaiser
Erschienen
Ditzingen 2017: Reclam
Anzahl Seiten
XI, 263 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Felz, Rheinbach

Das Verhältnis von „allgemeiner Geschichtswissenschaft“ und Rechtsgeschichte/Rechtswissenschaft ist häufig als verbesserungsbedürftig beschrieben worden.1 Der Jurist Hans-Christian Jasch und der Historiker Wolf Kaiser (beide Gedenkstätte Haus der Wannseekonferenz) haben diesen Befund widerlegt und eine mustergültige Synthese aus historischer Darstellung der Ahndung von NS-Verbrechen und juristischer Analyse der völkerrechtlichen und strafrechtlichen Probleme bei deren Verfolgung vorgelegt.

Im ersten Kapitel beschreiben Jasch und Kaiser zunächst die Verfolgung und gerichtliche Ahndung des Holocaust vor alliierten Gerichten. Dazu gehören der Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess, die zwölf Nachfolgeprozesse vor den „Nürnberger Militärtribunalen“ sowie weitere Prozesse auf Grundlage des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 (KRG Nr. 10). Die dortige Weichenstellung blieb in den folgenden Jahrzehnten in fataler Weise richtungsweisend.

Der Holocaust galt nur als ein Teil der Kriegsverbrechen und Genozidhandlungen des NS-Staates. Auch wurde der Kreis der Haupttäter auf die NS-Führung (Hitler, Himmler, Göring, Heydrich usw.) verengt. Dies wirkte sich entlastend auf andere Mittäter aus Verwaltung, Wehrmacht, Wirtschaft und Wissenschaft aus. Selbst hochrangige Angehörige der SS oder der Polizei, die insbesondere in Osteuropa umfassende Machtbefugnisse hatten, galten vor deutschen Gerichten ab 1949 häufig nur als „Gehilfen“. Mittlere und niedere Ränge sahen sich nur dann verfolgt, wenn sie als „sadistische Intensivtäter“ eingestuft worden waren. Bürgerliche, akademisch ausgebildete und häufig gut in die bundesrepublikanische Nachkriegsgesellschaft integrierte Täter aus SS, Wehrmacht, Justiz, Verwaltung und Wirtschaft blieben häufig ohne strafrechtliche Ahndung.

Im zweiten Kapitel behandeln Jasch und Kaiser die Zeit zwischen 1945 und 1958, die vor allem durch die vollständige Übernahme der Gerichtsgewalt durch die deutsche Judikative gekennzeichnet war. Allerdings wurde zur Grundlage der Prozesse gegen Beteiligte nicht das KRG Nr. 10, das unter anderem Verbrechen gegen die Menschlichkeit sanktionierte, sondern das Reichsstrafgesetzbuch von 1871, das für alltägliche Kriminalität einer bürgerlichen Marktgesellschaft angelegt und nicht für die Regierungs- und Staatskriminalität einer totalitären Diktatur geschaffen worden war. Prozesse gegen lokale Verwaltungsangehörige wegen der Deportation der jüdischen Bevölkerung nach Osteuropa standen im Fokus der Gerichtstätigkeit. Vor dem Landgericht Würzburg fand Anfang 1950 der erste Prozess gegen Angehörige der Einsatzgruppen statt. Diesem Prozess folgten Verhandlungen wegen Taten in Sobibor (1950: LG Frankfurt am Main und LG Berlin) sowie Treblinka (1951: Frankfurt am Main). Diese Gerichtsverhandlungen fanden kaum Interesse in der bundesrepublikanischen Gesellschaft, in der eine Schlussstrichmentalität vorherrschte. Das 1951 verabschiedete Gesetz zur Rückkehr „amtsverdrängter Beamter“ in den öffentlichen Dienst (sogenanntes 131er-Gesetz), die Amnestie von 1949, das Straffreiheitsgesetz von 1954 und der Überleitungsvertrag von 1955, der die Strafverfolgung der NS-Verbrechen endgültig in die Hände der deutschen Justiz legte, unterstützten diese Entwicklung. Die ostdeutsche Justiz verhängte auf Grundlage des KRG Nr. 10 zum Teil drakonische Strafen. Die „Waldheimer Prozesse“, in denen etwa 3.400 Personen – häufig auf Grundlage von Verhören durch die sowjetische Geheimpolizei – abgeurteilt worden sind, entbehrten jeglicher rechtsstaatlicher Garantien.

Die Verhandlungen des Ulmer Einsatzgruppenprozesses (1958) und des Frankfurter Auschwitz-Prozesses (1963–1968) begrenzen das dritte Kapitel. Die Urteile im Ulmer Einsatzgruppenprozess führten in der Regel auch bei Vorgesetzen und Befehlsgebern aus den Reihen der SS und Polizei häufig zur Verurteilung als „Gehilfen“ der Haupttäter Hitler, Himmler und Heydrich. Die Gerichte folgten den Ausführungen der Angeklagten, welche vorgaben, die Morde nicht als eigene Taten ausgeführt und damit innerlich abgelehnt zu haben. Die häufig direkt an Mordtaten Beteiligten hätten auf Befehl zur „reinen Pflichterfüllung“ gehandelt, die Tatherrschaft sei bei Hitler oder Himmler verblieben. Strafmildernd rechneten die Gerichte den Angeklagten zusätzlich auch ihre gute Integration in die Nachkriegsgesellschaft an. Selbst Angeklagte, die ihre Opfer eigenhändig durch Genickschuss exekutierten, stufte die Rechtsprechung als bloße „Gehilfen“ ein. Das Strafmaß bestand aus geringen (statt lebenslanger) Freiheitsstrafen. In 50 Prozessen gegen Mitglieder der Einsatzgruppen kam zwischen 1958 und 1983 jeder fünfte Angeklagte mit einem Freispruch davon. Von den Verurteilten wurden 70 Prozent als „Gehilfen“ verurteilt.

Eine weitere Weichenstellung betraf die Frage, ob die Taten der Angeklagten als ein einheitlicher Tatkomplex oder eine Vielzahl von Einzeltaten einzustufen wären. Bei Tateinheit lassen sich alle Einzelhandlungen zusammenfassen, sodass alle Beteiligten nicht nur für die eigenen, individuell nachweisbaren Taten, sondern auch wegen Beihilfe zum gesamten Tatgeschehen während ihrer Dienstzeit in einem Vernichtungslager hätten verantwortlich gemacht werden können. Bei Tatmehrheit, also der Betrachtung der einzelnen und konkreten Tat, konnten nur konkret nachweisbare Handlungen zur Verurteilung führen. Die Gerichte werteten die Taten in den Lagern allerdings als in Tatmehrheit begangen. Diese Rechtsprechungslinie, so resümieren Jasch und Kaiser auf Fritz Bauer zurückgreifend, habe sowohl die Justiz, die aufgrund hoher personeller Kontinuität oft selbst sehr belastet war, als auch die bundesdeutsche Nachkriegsgesellschaft von den Verbrechen des Holocaust entlastet, da die Hauptschuld auf Hitler und andere Spitzen des NS-Regimes verschoben wurde. Auch die 1958 erfolgte Gründung der Zentralen Stelle der Landesjustizverwaltungen zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg konnte dieser Entwicklung nicht entgegenwirken.

Die Darstellung der Verjährungsdebatten in den 1960er-Jahren verklammert das zweite mit dem dritten Kapitel. Der Bundestag setzte 1965 den Beginn der 20-jährigen Verjährungsfrist für Mord auf den 31. Dezember 1949 fest, 1969 verlängerten die Parlamentarier die Verjährungsfrist auf 30 Jahre und 1979 schließlich verankerte der Bundestag den Mordtatbestand als nicht verjährbar im Strafgesetzbuch. Allerdings beschreiben Jasch und Kaiser auch die „kalte Amnestie“ durch die Novellierung des Einführungsgesetzes zum Ordnungswidrigkeitengesetz. Dort versteckte sich eine Änderung, die das Verhältnis von „Haupttäter“ und „Gehilfen“ bei Mord regelte und zu einer Strafmilderung führte, wenn dem Teilnehmer, also dem „Gehilfen“, „besondere persönliche Merkmale“ fehlten, die beim Täter die Strafbarkeit begründeten. Das Mordmerkmal der „niederen Beweggründe“ gilt als subjektives, dem Täter zuzurechnendes Motiv. Die Mordmerkmale „grausam“ oder „heimtückisch“ beschreiben nach der Rechtsprechung objektiv die Tatbegehung. Wer Beihilfe zu einem grausamen Mord leistet, wird als Gehilfe zu einem Mord bestraft. Es gelten damit die oben beschriebenen Verjährungsfristen. Diese objektiven Tatumstände sahen die Gerichte aber selten als erfüllt an. Wem als „Gehilfen“ subjektive Mordmerkmale fehlten, was die Landgerichte häufig annahmen, dessen Strafe war nach der neuen Gesetzeslage ab 1968 zwingend zu mildern. Die „Gehilfen“ wurden nämlich nicht als Teilnehmer eines Mordes, sondern eines Totschlages verurteilt. Die dafür geltende Verjährungsfrist von 15 Jahren war seit 1960 ausgelaufen. In der Literatur wird kontrovers diskutiert, ob die Gesetzesänderung als eine „Panne“ oder eine vorsätzliche „kalte Amnestie“ einzustufen ist. Jasch und Kaiser verweisen allerdings darauf, dass die Rechtsprechung immer sehr „täterfreundlich“ judizierte, indem sie zum Beispiel die Tatbestandsmerkmale „Grausamkeit“ und „Heimtücke“ sehr eng auslegte, sodass häufig eine Verjährung der Taten als Verfahrenshindernis die Verurteilung unmöglich machte. Der Prozess gegen die Mitglieder des Reichssicherheitshauptamtes, der umfangreich vorbereitet worden war, konnte aufgrund der nunmehr eingetretenen Verjährung nicht mehr durchgeführt werden. Der nächste große NS-Prozess fand 1981 vor dem Landgericht Düsseldorf wegen Tötungen im Konzentrationslager Majdanek statt. Begleitet von großer nationaler und internationaler medialer Öffentlichkeit, die durch die Ausstrahlung der 1979 gezeigten Serie „Holocaust“ sensibilisiert worden war, wurden die milden gerichtlichen Entscheidungen mit Empörung aufgenommen, obwohl sie sich in die Rechtsprechungstradition einfügten. Auch in der DDR kam es zu letzten „Auschwitz-Prozessen“.

Das fünfte Kapitel schließt mit den „letzten Prozessen wegen Holocaustverbrechen“ gegen John Demjanjuk in München 2011 und Oskar Gröning 2015 in Lüneburg. Das Landgericht Lüneburg bewertete die Mordtaten in Auschwitz als „heimtückisch“ und „grausam“. Außerdem reichte nun irgendeine Funktion im arbeitsteilig organisierten Vernichtungsgeschehen aus, um Gehilfenvorsatz und Beihilfehandlung zu bejahen.

In der Gesamtschau bestechen die 200 Seiten dieses Buches durch die Komplementarität historischer Darstellung und juristischer Analyse deutsch-deutscher Politik-, Gesellschafts- und Rechtsgeschichte sowie entsprechender Diskurse über den Umgang mit der NS-Vergangenheit, insbesondere der nationalsozialistischen Gewaltverbrechen.

Anmerkung:
1 Vgl. bspw. Barbara Stollberg-Rilinger, Verfassungsgeschichte als Kulturgeschichte, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung. Germanistische Abteilung 127 (2010), S. 1–33.

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