T. Buchen u.a. (Hrsg.): Eliten im Vielvölkerreich

Cover
Titel
Eliten im Vielvölkerreich. Imperiale Biographien in Russland und Österreich-Ungarn (1850–1918)


Herausgeber
Buchen, Tim; Rolf, Malte
Reihe
Elitenwandel in der Moderne 17
Erschienen
Anzahl Seiten
X, 411 S.
Preis
69,95 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Dietrich Beyrau, Institut für osteuropäische Geschichte und Landeskunde, Universität Tübingen

Der Sammelband ist hervorgegangen aus einem Projekt an der Universität Bamberg über imperiale Biographien in den östlichen Monarchien. Der „imperial turn“ wird hier erweitert um die Dimension subjektiver Erfahrungen, in der Hoffnung, einen neuen Zugang und einen neuen Blick auf die im Ersten Weltkrieg untergegangenen Reiche zu gewinnen. Dabei begegnen sich zwei Trends: einerseits das nach wie vor anhaltende Interesse an der inneren Struktur, Schichtung, an interethnischen Beziehungen und Herrschaftspraktiken in den östlichen Imperien und andererseits das Interesse an Personen, die in besonderer Weise durch das Imperium geprägt wurden. Hierfür bieten sich Personen aus Schichten an, die den Eliten zugerechnet werden: Politiker und hohe Staatsbeamte, Militärs, Juristen, Unternehmer, Experten und Akademiker. Nach diesen Gruppen ist der Band auch gegliedert.

Eingangs betonen die Herausgeber ihr Interesse am Wandel, der sich in allen Reichen seit Mitte des 19. Jahrhunderts vollzog. Diesem Wandel, der vor allem am Bedeutungszuwachs nationaler Bewegungen festgemacht wird, ist sicher auch die Auswahl des Personenkreises geschuldet, das heißt die Einbeziehung von Unternehmern, Experten, Akademikern und besonders von Angehörigen, die zum Teil ihrer Herkunft nach nicht den bisher dominanten Ethnien angehörten. Die Analyse von Verhaltensmustern der ausgewählten Personen dient als Medium zur Erkundung subjektiver Erfahrungen und des sozialen Umfeldes: die Imperien als Erfahrungsraum.

Wie Aust und Schenk finden auch die Herausgeber dieses Bandes Gefallen an dem Begriff der „imperialen“ Persönlichkeit.1 Wenn man den Bereich unmittelbarer Herrschaft und der Repräsentanten des Reiches einmal außer Acht lässt, finde ich den Begriff nicht besonders glücklich und den von Norris / Sunderland gewählten Titel „people of empire“ zutreffender.2 Denn die meisten der hier vorgestellten Personen hatten sich irgendwie in den Strukturen und im Raum des Imperiums zurechtzufinden, oft fern ihrer Herkunftsorte. Ob sie deshalb „imperiale“ Persönlichkeiten oder Subjekte sind, ist eine andere Frage.

Imperiales Verhalten lässt sich aus naheliegenden Gründen am ehesten bei Personen ausmachen, welche die Politik des Reiches maßgeblich beeinflussten oder sie in leitenden Positionen exekutierten. In diesen Kreis gehört Konstantin von Kaufmann, russischer Generalgouverneur des so genannten Nordwestgebietes (Litauens, Weißrusslands) und dann selbstherrlicher Statthalter in Turkestan, vorgestellt von Ulrich Hofmeister. Jörg Ganzenmüllers Beitrag über den Vorgänger Kaufmanns im Nordwestgebiet, M. N. Murawjow, betont exemplarisch den Wandel des politischen Blicks auf die ehemals polnischen Gebiete, wie er sich an der langen Tätigkeit seines Helden von den 1830er- bis in die 1860er-Jahre ablesen lässt. Murawjow und von Kaufmann sind durchaus typische Beispiele für die (russischen) Eliten im Zarenreich, die sich zunehmend am Ideal des Nationalstaates orientierten. Die administrative Modernisierung wurde zur Russifizierung des Reiches in den westlichen Grenzgebieten benutzt. Am Beispiel der Familie Schulgin in der Ukraine demonstriert Faith Hills, wie die amtliche antipolnische Politik von lokalen Eliten zumindest teilweise mitgetragen und forciert wurde.

Das Gegenbeispiel zur teils latenten, teils offenen Nationalisierung der Eliten der eigentlich supranationalen, auf Kaiser und Hof fixierten Imperien liefert der Beitrag von Fredrik Lindström: In Robert Musils Verständnis von Kakanien und in Hans Kelsens reiner Rechtslehre (der Staat sei nichts als eine praktizierte Rechtsordnung) erkennt er das Weiterleben einer a-nationalen Tradition, wie sie Joseph II. in Österreich etablieren wollte. Dass die Praxis etwas anders aussah, erläutert Marion Wullschleger am Beispiel der Statthalter von Triest mit ihrem unterschiedlichen Verständnis von „österreichischer Gesinnung“.

Ein anderer Typus imperialer Persönlichkeit wird nicht primär über seine Funktion, sondern eher über politische Einstellungen und Gesinnungen definiert. Dies erleichterte eine Identifizierung mit dem Reich, ohne dass die nationale Herkunft oder die Anhänglichkeit an das eigene Volkstum verleugnet werden mussten. Hierin wird ein wesentlicher Vorzug der Imperien gegenüber den Nachfolgestaaten gesehen, die sich fast alle zwanghaft als Nationalstaaten definierten. Am Beispiel Gustaf Mannerheims erläutert Bradley D. Woodworth, dass eine erfolgreiche Karriere – ähnlich wie bei vielen Baltendeutschen – über eigene ständisch-ethnische (schwedisch-finnische) Netzwerke und Protektion im Russischen Reich funktionierte. Dies war möglich, obwohl das Verhältnis zwischen Finnland und Petersburg seit Ende des Jahrhunderts nicht mehr konfliktfrei war.

Noch spannungsreicher gestaltete sich das Verhältnis zwischen Polen und dem Russischen Reich. Angesichts der sehr repressiven Verhältnisse in Kongresspolen nach 1863 boten sich polnischen Experten und Akademikern außerhalb Polens im Russischen Reich gute Berufschancen. Am Beispiel polnischer Militärärzte beschreibt Ruth Leiserowitz ihr vergleichsweise konfliktloses Arbeiten in der russischen Armee, die immerhin die Unfreiheit Polens sicherte. Nach 1918 musste das eigene Verhalten dann irgendwie patriotisch legitimiert werden. Wie Martin Müller-Butz am Fall des Rechtsanwalts Alexander Lednicki zeigt, waren ein Engagement für die Polonia in Moskau mit einem politischen Engagement (bis 1917) in der Partei der (russischen) Konstitutionellen Demokraten in der Duma vereinbar. Nach seiner Emigration nach Polen wurde ihm seine vermeintlich unpatriotische Haltung als Verrat angekreidet. Viele Entfaltungsmöglichkeiten boten sich ebenso dem polnischen Sprachwissenschaftler Jan Baudouin de Courtenay, ein Kosmopolit, der sich im polnischen Nationalstaat eher beengt fühlte, wie Theodore R. Weeks schreibt.

Dass der Einsatz für die nationale Sache und Loyalität zum Reich, das heißt zum national eher repressiven Königreich Ungarn möglich war, exemplifiziert Irina Marin am Beispiel des rumänischen Generalmajors Trajan Doda. Er besaß vor Ort genügend Autorität und in Budapest ausreichende Verbindungen, um die rumänische Sache in Budapest vertreten zu können, wenigstens eine Zeit lang.

Einen anderen Typus stellt Christoph Herzog mit dem griechischen Bankier Yorgo Zarifi vor. Er stieg zum Hofbankier des Sultans Abdülhamid II (1876–1909) auf, hielt aber an seiner griechischen Staatbürgerschaft fest, ohne sich für die finanziellen Interessen Griechenlands einzusetzen. Als unmittelbarer Diener gehörte er zur imperialen Sphäre, er verstand sich aber zugleich als Vertreter der griechischen Diaspora, deren Aktionsraum international und zugleich imperial war.

Michael Khodarkovsky diskutiert die Biographie eines Angehörigen der subalternen Kolonialelite: Durch russische Bildungsanstalten, manchmal als Gefangene oder Geiseln, gegangene Angehörige muslimischer Völker im Kaukasus oder auch in Mittelasien hatten für die russische Obrigkeit Vermittlungsdienste zu leisten. Dabei nutzten sie wohl mitunter ihre Position, um Wissen über ethnische Minderheiten zu sammeln. Manche fungierten in russischen Diensten mithin als „nationale Erwecker“. Ihre doppelte Funktion konnte auch tragisch enden, da man ihnen von beiden Seiten misstraute.

Jan Surman hat sich zwei Persönlichkeiten vorgenommen, die er als „go-betweeners“ oder „passeurs culturels“ (S. 336) charakterisiert: den polnischen Arzt und Medizinprofessor (in Krakau) Józef Dietl und T. G. Masaryk. Beide machten nach 1918 „nationale“ Karrieren. Ihre Tätigkeiten und Orientierungen vor 1914 ließen auch andere Optionen als möglich erscheinen, sie liefen jedenfalls nicht zielgerichtet auf den Einsatz für den Nationalstaat hinaus.

Katja Bruisch diskutiert in ihren Beitrag russische Agrarexperten, die sich als Gegenelite sahen. Am Beispiel dieser Gruppe wird ein zentraler Aspekt imperialer Ordnung angesprochen – die immer noch wirkmächtige ständische und kulturelle Differenz innerhalb der russischen Bevölkerung. Die Agrarexperten glaubten, das „Volk“ zu repräsentieren und den Bauern eine Stimme zu geben. Tatsächlich war ihre Distanz zur Landbevölkerung nicht geringer als die der alten Oberschichten. Ob und in welchem Maße sie einen neuen „Reichszusammenhang“ (S. 258) oder eher einen in sich paradoxen russischen „Reichsnationalismus“ praktizierten oder stiften wollten, wird leider nicht erörtert.

Worin liegt das Verdienst des Sammelbandes? Ich sehe es vor allem in der per se interessanten Schilderung der Lebenswege und Identitätskonstruktionen der hier vorgestellten Personen, in der Vielfalt der Funktionen, der Lebensläufe und Orientierungen von Angehörigen der Eliten oder Subeliten. Die Biographien als Schnittstelle vieler Varianten imperialer Erfahrung zeigen die noch einigermaßen funktionierende Koexistenz ethnisch-nationaler Identitäten und reichspatriotischer Loyalitäten. Sie belegen auch, dass mit der Entstehung und partiellen Kooptation neuer Eliten die Imperien in unterschiedlichem Maße wandlungsfähig waren. Die mit dem Wandel angeblich verbundene „Provinzialisierung“ der Zentren (S. 22) kann ich allerdings nicht erkennen, es sei denn, man verstünde darunter die höchst problematische Nationalisierung der alten wie der neuen Eliten.

Aber lassen sich aus den Biographien weitere Schlussfolgerungen über die Entwicklungschancen und Reformfähigkeit der alten Reiche ziehen? Ich glaube nicht. Einfache Antworten verbieten sich angesichts der enormen Unterschiede zwischen Russland und Österreich-Ungarn wie den verschiedenen Ländern und Regionen in den Imperien selbst. Die hier präsentierte Kooptation von Aufsteigern blendet notwendigerweise die Diskriminierung und Schwierigkeiten anderer Gruppen, Schichten und Ethnien aus – man denke an Polen (im Weichselgebiet) und an die Juden im Zarenreich oder an die nicht-ungarischen Ethnien im Königreich Ungarn. Biographien, und das macht dieser Band in anschaulicher Weise deutlich, erschließen die fast unendliche Vielfalt von Lebenswelten, sie kombinieren individuelle Erfahrungen und soziale Bedingungen. Gegen die ältere Sozial- und die neuere Kulturgeschichte, die sich häufig nur mit den unteren Schichten beschäftigte, belegt dieser Band die Notwendigkeit sich mit Eliten zu befassen, die in vergleichsweise friedlichen Zeiten Politik und Gesellschaft maßgeblich beeinflussten.

Anmerkungen:
1 Schenk, Frithjof Benjamin / Aust, Martin (Hrsg.), Imperial Subjects. Autobiographische Praxis und die Vielvölkerreiche der Romanows, Habsburger und Osmanen, Wien 2015.
2 Norris, Stephen M / Sunderland, Willard (Hrsg.), Russia’s People of Empire. Life Stories from Eurasia 1500 to the Present, Bloomington 2012.

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