A. Komlosy: Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf

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Titel
Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf


Autor(en)
Komlosy, Andrea
Erschienen
Anzahl Seiten
247 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Zilla, Stiftung Wissenschaft und Politik, Berlin

Nicht nur wenn eine Geflüchtete abgeschoben wird, wirkt eine Grenze, sondern auch wenn ein Altberliner (der BRD) noch heute sagt: „Am Wochenende fahre ich nach Westdeutschland.“ Bereits den Bezeichnungen „Geflüchtete“ und „Altberliner“ liegen Grenzziehungen zugrunde. Grenzen gehen aber über das Politische hinaus; sie gehören zum Alltag. „Grenzen sind kein Ausnahmezustand, sondern eine Grundkonstante im Zusammenleben von Menschen und Gemeinwesen“ (S. 9). Es gibt Grenzen verschiedenster Natur; sie sind jedoch nicht naturgegeben. Grenzen sind Konstrukte und somit kontextabhängig. Die Voraussetzungen und Implikationen von Grenzen sind deswegen nicht weniger faktisch oder spürbar. Grenzen bedingen beispielsweise den Grad der Anerkennung und des Selbstwertgefühls; sie können aber auch schlichtweg über Leben und Tod entscheiden. Grenzen fungieren identitätsstiftend sowie als Grundlage für Fremdzuschreibungen und Stigmatisierungen. Grenzen operieren als Inklusions- und Exklusionsmechanismen. Grenzen erlauben Unterscheidungen, die sich häufig auf soziale, ökonomische, kulturelle oder machtpolitische Ungleichheiten gründen, aber auch diese zementieren oder erst generieren können.

Das Buch der Historikerin Andrea Komlosy, „Grenzen. Räumliche und soziale Trennlinien im Zeitenlauf“ schärft unsere Wahrnehmung für die Identifizierung solcher Grenzphänomene. Es liefert die begriffliche Differenzierung, um sie zu analysieren, sowie die historische Perspektive, um deren Entwicklung zu verstehen.

Der Schrift liegt ein weiter, raumbezogener Grenzbegriff zugrunde, der es erlaubt, die Wirkungsweise politischer, kultureller, sozialer und wirtschaftlicher Grenzen im Raum zu untersuchen (S. 13). Es geht also um die Grenze als Strukturelement von Raum und sozialer Ordnung – wohlwissend, dass sie nicht nur in der physischen Welt existiert, sondern auch in den Köpfen und Emotionen (S. 9). Das Interesse gilt vordergründig der Territorialität des Menschen und von Gemeinwesen.

Eine kombinierte diachronisch-typologische Systematik bildet das Ordnungskriterium des Buches. Dieses beginnt mit dem Abschnitt „Chronologie der Territorialität“, der einen historischen Abriss der Beziehung zwischen Gemeinwesen und Gebiet darlegt. Ausgangspunkt der nachgezeichneten Entwicklung ist die Frage, „ob der Mensch ein territoriales Wesen ist“ (S. 18). Abgeschlossen wird sie mit einer Diskussion um „Clouds und virtuelle Räume (seit 2000)“, die von den digital domains handelt.

Der zweite Abschnitt „Typologie der Grenzen“, dessen Strukturprinzip qualitative Ausprägungen bilden, präsentiert acht verschiedene Typen von Grenzen, die dann jeweils in ihren verschiedenen räumlichen wie zeitlichen Variationen abgehandelt werden.

Der dritte und letzte Abschnitt des Hauptteils ist dem Thema „Grenzregime und Politik der Grenze“ gewidmet. Im Mittelpunkt stehen Regeln und Gepflogenheiten bei der Pflege von und dem Umgang mit Grenzen. Diese werden in Bezug auf den Waren- und Kapitalverkehr und den Personenverkehr jeweils im Zeitablauf analysiert. Dem folgt die Auseinandersetzung mit dem sozialen Auf- und Abstieg sowie mit den kulturellen Grenzen, zwei Phänomene, die mit dem Räumlichen verknüpft werden.

Unter dem Titel „Vom Gebrauch der Grenze: Rückblick und Ausblick“ fasst Komlosy die vorangegangene Analyse auf einer höheren Abstraktionsebene zusammen, reflektiert den eigenen, europäischen Standpunkt und bezieht zur Politik der Grenze klar Stellung.

Komlosy setzt sich gleichermaßen gegen die Romantisierung wie auch die Verteufelung von Grenzen und somit gegen ihre Überbewertung ein. Sie nimmt Abstand von der Illusion der Grenzenlosigkeit, aber auch vom panischen Rückgriff auf neue und stärkere Grenzziehungen. Sie argumentiert empirisch und äquidistant gegen die polarisierten, ideologisch wie interessengeleiteten Positionen „Grenzen zu“ vs. „No border“ (S. 7f.). Sie deckt aber auch den Widerspruch einer selektiven Offenheit auf, die je nach dinglichem oder personellem Bezug in einigen Bereichen die ungestörte Zirkulation fordert und sich zugleich in anderen gegen die Freizügigkeit sperrt. Der Blick ist nüchtern aber problematisierend.

Von den Erfahrungen des industrialisierten Globalen Nordens geprägt, was u.a. die Provenienz der Literatur und der meisten Beispiele belegt, nimmt die Schrift eine (selbst-)kritische Haltung ein. Die verwendeten Konzepte lenken den Fokus auf die westliche Dominanz sowie die globalisierte kapitalistische Wirtschaftsordnung mit ihren asymmetrischen Interdependenzen und bedingen somit die Betrachtungs- und Bewertungsperspektive. Ausgehend vom Verständnis der Grenze als Differenz wird die Auseinandersetzung mit Ungleichheiten – von Ungleichgewichten über Abhängigkeiten bis hin zu Ungerechtigkeiten – insbesondere auf der Nord-Süd-Achse und in ökonomischer Hinsicht privilegiert. Dagegen rücken Regimefragen (etwa ob Demokratien und Autokratien sich in ihrem Umgang mit Grenzen unterscheiden) sowie im Allgemeinen horizontale Unterschiede eher in den Hintergrund.

Besondere Aufmerksamkeit verdient Komlosys These der Mitverantwortung der Politik für die Erosion des Staates durch die globalisierte Wirtschaft: „Wenn der staatliche Raum durchlöchert wird, so bedeutet dies keineswegs, dass dies jenseits des Staates oder gar gegen dessen Willen passiert. Konstitutiv im Übergang von der einheitlichen Territorialität des Staates zur durchbrochenen Territorialität der globalen Organisationslogik ist die Tatsache, dass der Wandel von den Staatsapparaten ausgeht, von ihnen durchgesetzt wird und ihre Institutionen bei der Entnationalisierung als Akteure führend beteiligt sind“ (S. 69). Diese Betrachtung des Staates als Subjekt und nicht nur Objekt der Globalisierung wird im Verlauf des Textes um das Schicksal der Gesellschaft ergänzt: „Entgegen der häufig geäußerten Ansicht der Souveränität des Staates sehen wir nicht den Zerfall des Staates, sondern der Gesellschaft“ (S. 89). „Der Staat hat seine Form verändert. Er hat sich an die Globalisierung angepasst, allerdings kam ihm dabei die Gesellschaft abhanden.“ (S. 90) Da die politische Verfasstheit des Staates eine nachgeordnete Rolle in Komlosys Analyse spielt, bleibt in diesem Zusammenhang die Frage offen, inwiefern in Demokratien die Wählerschaften diese Entwicklung mitbeeinflusst haben.

Auf der Suche nach den „Grenzen“ von Komlosys Ansatz gerät man auf die Mesoebene nationaler Unterschiede innerhalb des Globalen Südens sowie auf die Mikroebene handelnder Akteure innerhalb von Staaten. Sie verschwimmen unter der dichotomen Linse der vertikalen Konfliktlinie auf der Makroebene. So werden Leserinnen und Leser mit außereuropäisch-regionalspezifischer sowie politikwissenschaftlicher Fachexpertise vermutlich manche Aussagen als kühne, etwas unterkomplexe Verallgemeinerungen ansehen, die viele Gegenbeispiele ins Gedächtnis rufen. In der Erzählung wirken Staaten bisweilen als monolithische Akteure; die Kohärenz und das strategische Moment ihres Handelns scheinen an manchen Stellen überschätzt. Die Breite der Analyse geht notwendigerweise auf Kosten ihrer Tiefe. Dies ist jedoch kein eigentümlicher Mangel des Buches, sondern der Preis des globalgeschichtlichen Zugangs, der darauf abzielt, weniger nationale Spezifika als weltweite Verflechtungen bzw. große Zusammenhänge aufzuzeigen. Und Komlosy ist sich dessen auch bewusst, wenn sie klarstellt: „[H]ier [stehen] nicht regional und zeitlich begrenzte Fallstudien im Vordergrund, sondern eine breite Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Grenze“ (S. 12). Von den Stärken des globalgeschichtlichen, also mehrperspektivischen und zeitlich umfassenden Zugriffs profitiert die Sprache: Sie ist genderinklusiv und etymologisch bewusst.

Der problematisierende Blick und die kritische Haltung führen zu einem eher pessimistischen Bild aktueller Entwicklungen. Indem Prozesse der Globalisierung und Fragmentierung des Raumes hinterfragt werden und dabei die Mitverantwortung des Staates für diese aufgezeigt wird, eröffnet sich wiederum ein optimistisches Fenster: Was „gemacht“ ist, kann auch – zumindest teilweise – anders gemacht werden. Deshalb schließt Komlosy mit einem an den Norden gerichteten Plädoyer ab: Die Einmischungen zu beenden, die die Akteure des Südens daran hindern, die Grenze im eigenen Interesse zu gebrauchen, und sie zugleich antreibt, diese gen Zentrum zu überqueren.

Mit „Grenzen“ hat Andrea Komlosy eine extrem lesenswerte historische Analyse eines zeitlosen Phänomens vorgelegt, die zur sachlichen und fundierten Reflexion und Diskussion über ein hochaktuelles Thema stark beiträgt.