F. Mercier u.a. (Hrsg.): Aux marges de l’hérésie

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Titel
Aux marges de l’hérésie. Inventions, formes et usages polémiques de l’accusation d’hérésie au Moyen Âge


Herausgeber
Mercier, Franck; Rose, Isabelle
Anzahl Seiten
384 S.
Preis
€ 26,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Burdich, Thomas-Institut, Universität zu Köln

An die Ränder der Häresie führt in diesem Sammelband nicht die Erforschung der marginalisierten oder bislang vernachlässigten Bereiche der Ketzerthematik, sondern die grundsätzliche Einsicht, dass es sich bei Häresie um ein „concept évolutif, à géometrie variable“ (S. 355) handelt, ein Konzept also, das Entwicklungen durchläuft und eine variable Gestalt besitzt. Wie die Herausgeber Franck Mercier und Isabelle Rosé im Vorwort hervorheben, sind statt der historischen Realität religiös devianter Gruppen die Transformation des Häresiekonzeptes und die Fabrikation des antihäretischen Diskurses durch kirchliche und weltliche Autoritäten Untersuchungsgegenstand des Bandes. Erkennen lässt sich der Konstruktionscharakter und die Wandlungsfähigkeit des Konzeptes „Häresie“ – das ist die einsichtige Überzeugung der Autorinnen und Autoren – insbesondere an Verschiebungen der Ränder dessen, was als häretisch betrachtet wird. Eine ganze Reihe an Beiträgen des Sammelbandes befasst sich daher mit Prozessen, innerhalb derer Häretiker und andere gesellschaftlich ausgeschlossene Gruppen in ihrer Wahrnehmung durch das Christentum aneinander angenähert wurden. So bietet Valentina Toneatto eine Genealogie der Parallelen in der bestialischen Darstellung von Juden und Häretikern seitens der christlichen Apologetik und der Patristik. In Folge des Annäherungsprozesses erfahren beide Gruppierungen eine Charakterisierung als animalische Wesen, die durch Triebhaftigkeit und die Unfähigkeit, die göttlichen Geheimnisse zu verstehen, gekennzeichnet sind.

Clément Lenoble zeichnet in seinem Überblick nach, wie zwischen dem 9. Jahrhundert und dem Konzil von Vienne (1311) die enge Beziehung zwischen Häresie und Wucher (usura) zustande kam. Die Pointe seines Aufsatzes ist die plausible These, dass die Beweggründe für die Verbindung zwischen Wucher und Häresie weniger in der Verteidigung eines ethisch-ökonomischen Ideals oder dem Angriff auf die Ökonomie der Häretiker zu suchen seien als vielmehr in der Sicherung kirchlicher Einkünfte und in der Möglichkeit zur wirtschaftlichen Kontrolle. Auch der Beitrag von Isabelle Rosé untersucht eine Ausweitung des Häresiekonzeptes, die als politische Strategie verstanden werden kann. Durch die Erfindung der simoniaca heresis erhielt der Papst ein Instrument zur Kontrolle der Kirche, während er in Abgrenzung zu den geächteten Simonisten zugleich den positiven Gegenentwurf eines idealen Episkopats entwickeln konnte.

In den Aufsätzen von Martine Ostorero, Sylvain Parent und Florian Mazel werden die unterschiedlichen Geschwindigkeiten offenbar, mit denen neue Aspekte das Konzept der Häresie transformierten. Die päpstlichen Dekrete zur Zauberei besitzen zwischen 1409 und 1459 einen durchweg reaktiven Charakter, der nach Ostoreros überzeugender Interpretation die Skepsis des Papsttums gegenüber angeblichen Pakten mit Dämonen widerspiegelt. Bei Inquisitoren ist dagegen – so der interessante Befund Parents auf Basis inquisitorischer Buchhaltungsakten – die Tendenz zu beobachten, sich neue Gesetze, die das Häresiekonzept auf weitere Anwendungsfelder ausdehnten, äußerst schnell zunutze zu machen. Mazel sieht ein weiteres Beispiel für ein frühzeitiges Aufgreifen der päpstlichen Gesetzgebung in der antihäretischen Politik des Rektors von Orvieto Pietro Parenzo. Aus seiner Analyse einer hagiographischen Quelle zieht Mazel den nachvollziehbaren Schluss, dass sich Parenzo bei der Enteignung und Entmachtung rebellischer lokaler Eliten unter dem Vorwand der Ketzerbekämpfung auf die gerade erst promulgierte Bulle Vergentis in senium stützte. Der in dieser Dekretale gestiftete Nexus zwischen Häresie und Majestätsbeleidigung, durch den sich die politische Dimension der Ketzerei vergrößerte, ist in genau umgekehrter Perspektive Thema im Beitrag von Mercier. Eng verbunden mit dem Vorwurf der Rebellion und der Majestätsbeleidigung, der gegen Herzog Johann II. von Alençon erhoben wurde, waren Beschuldigungen, die Häresie und Zauberei unterstellten. Bemerkenswert ist dabei die Feststellung Merciers, dass die umfassende Inkulpation, die den Herzog zu einem geradezu diabolischen Feind des französischen Königs stilisierte, sich nur in den Zeugenbefragungen entfaltete und nicht Eingang in die offizielle Anklage wegen Hochverrats erhielt. Neben Mazel und Mercier hebt besonders Dumézil den politischen Aspekt der Häresie stark hervor. Nach Dumézil lieferte die Bekämpfung der bonosianischen Häresie die Legitimation für die columbanische Missionierung und für die königliche Intervention im Juragebiet. Die Existenz von bonosianischen Ketzern in Burgund während des 7. Jahrhunderts wird von Dumézil in Zweifel gezogen. Informationen über diese häretische Gruppe finden sich fast ausschließlich in hagiographischen Quellen, in denen Dumézil überzeugend eine nachträgliche Verzerrung der Ereignisse zugunsten Luxeuils nachweist.

Einzelnen zentralen Aspekten bei der Fabrikation des antihäretischen Diskurses widmen sich die Beiträge von Alessia Trivellone, Uwe Brunn und Emmanuel Bain. Trivellone, die Spezialistin für die visuelle Repräsentation von Häretikern ist1, legt eine Fallstudie zu Monte Cassino im 11. Jahrhundert vor, wo die Auseinandersetzung mit der Ketzerthematik vor allem in bildlichen Darstellungen stattfindet. Dabei verdienen neben der Illustration patristischer Ketzerstereotypen zwei Themenfelder besondere Aufmerksamkeit, nämlich die Warnung vor einer Überschätzung der dialektischen Methode und die Parteinahme für das gregorianische Reformpapsttum. Zum einen verweist Trivellone auf Fälle, in denen pagane Philosophie in die Nähe zur Häresie gerückt wird. Zum anderen sieht sie in der Abbildung eines päpstlichen Triumphes über Häresiarchen eine Anspielung auf die Niederwerfung dreier Gegenpäpste. Bei einem der untersuchten Beispiele, im Falle des Codex Vat. Ottob. Lat. 1406, stellt sich die Frage, ob die orientalisierende und exotisierende Darstellung heidnischer Philosophen als Muslime tatsächlich primär als typische Ketzerikonographie zu begreifen ist, wie Trivellone in ihrem Fazit suggeriert. Uwe Brunns Anliegen ist es, in verschiedenen Genera, Medien und Kontexten christliche Visionen ontologischer und ekklesiologischer Einheit aufzuzeigen, gegenüber denen das Bild des Manichäismus als Antithese fungierte. Die Abgrenzung gegenüber dualistischen Häretikern erfolgte, wie Brunn selbst einräumt, im Zeitraum zwischen Gregor VII. und Innozenz III. aus unterschiedlichen Motiven. Dies wird beim Vergleich von zweien der drei untersuchten Bereiche deutlich, dem antidialektischen Diskurs des späten 11. und des 12. Jahrhunderts einerseits und den Schriften Hugos von Amiens und Eckberts von Schönau andererseits, die Brunn im Kapitel über monistische Ekklesiologie beleuchtet. In den Bildquellen des dritten Bereichs ist der Aspekt der Einheit so dominant, dass keine Häretiker sichtbar sind. Brunn deutet jedoch zwischen einigen der visuellen Weltentwürfe und Texten, die von dem antimanichäischen Feindbild Gebrauch machen, Beziehungen an. Emmanuel Bain untersucht das Ketzerbild, das Bibelkommentare des 12. Jahrhunderts bei der Exegese einiger zentraler Verse entwerfen, die traditionell auf Häretiker bezogen werden. Auf Basis seiner Untersuchung gelangt Bain zu dem Schluss, dass in der Bibelexegese keine Anzeichen für die Entstehung einer „persecuting society“2 zu erkennen seien. Die zunächst vielleicht wenig überraschende Beobachtung Bains fügt zu den zahlreichen Beiträgen, in denen die politische Dimension der Häresie und dessen Instrumentalisierung betont wird, einen wichtigen Aspekt hinzu: Trotz aller Variabilität wies das Konzept der Häresie auch beträchtliche Kontinuitäten auf, insbesondere im Bereich der Exegese; vor allem aber war es vielgestaltig und artikulierte sich in verschiedenen Diskursen, die nicht immer eng miteinander verflochten waren.

Der Sammelband orientiert sich bewusst stark an einem Forschungszweig, bei dem der Konstruktionscharakter der Häresie im Zentrum steht.3 Die wohlüberlegte Ausrichtung des Buchs rechtfertigt es, die Frage nach dem tatsächlichen Wesen als Häretiker verfolgter religiöser Gruppen weitgehend auszuklammern.4 Die Herausgeber Isabelle Rosé und Franck Mercier haben einen innovativ konzipierten und durch seine Vielseitigkeit bestechenden Sammelband vorgelegt. Ihr Fazit bündelt die heterogenen Forschungsergebnisse in einer gelungenen Synthese zur Variabilität des Häresiekonzeptes und umreißt dessen Entwicklung anhand von drei Wendepunkten: der Erfindung der simoniaca heresis, der Verstärkung der politischen Dimension im Zuge von Vergentis in senium und des Wandels im Verhältnis von Häresie und Zauberei.

Anmerkungen:
1 Alessia Trivellone, L'hérétique imaginé. Hétérodoxie et iconographie dans l'Occident médiéval, de l'époque carolingienne à l'inquisition (Collection d'études médiévales de Nice 10), Turnhout 2009.
2 Vgl. Robert I. Moore, The Formation of a Persecuting Society. Power and Deviance in Western Europe, 950–1250, Oxford u.a. 1987; The Formation of a Persecuting Society. Authority and Deviance in Western Europe, 950–1250, 2. überarb. Aufl., Oxford u.a. 2007.
3 Wichtige Referenzwerke sind für die Autorinnen und Autoren beispielsweise Dominique Iogna-Prat, Ordonner et exclure. Cluny et la société chrétienne face à l'hérésie, au judaïsme et à l'islam 1000–1150, Paris 1998; und Monique Zerner (Hrsg.), Inventer l'hérésie? Discours polémiques et pouvoirs avant l'Inquisition (Collection du Centre d'Études Médiévales de Nice 2), Nice 1998.
4 Im Beitrag von Dumézil ist die Auseinandersetzung mit dieser Frage gleichwohl nicht von der Analyse des Häresiediskurses zu trennen. Nur am Rande gestreift wird die immer noch heftig geführte Debatte über die „Katharer“; siehe hierzu Antonio Sennis (Hrsg.), Cathars in question (Heresy and inquisition in the Middle Ages 4), York 2016. Als Beitrag zu dieser Debatte von einem der Autoren des vorliegenden Bandes siehe Uwe Brunn, Des contestataires aux "Cathares". Discours de réforme et propagande antihérétique dans les pays du Rhin et de la Meuse avant l'Inquisition, Paris 2006. Berührungspunkte zur Waldenserforschung gibt es in dem hier betrachteten Sammelband fast nur im Beitrag von Martine Ostorero.

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