G. Maier u.a. (Hrsg.): Archive heute

Cover
Titel
Archive heute - Vergangenheit für die Zukunft. Archivgut - Kulturerbe - Wissenschaft


Herausgeber
Maier, Gerald; Clemens Rehm
Reihe
Werkhefte der staatlichen Archivverwaltung Baden-Württemberg. Serie A, 26
Erschienen
Stuttgart 2018: Kohlhammer Verlag
Anzahl Seiten
500 S.
Preis
€ 49,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tobias Herrmann, Abteilung für Fachliche Grundsatzangelegenheiten, Bundesarchiv in Koblenz

Wohl kaum ein zweiter Archivar seiner Generation dürfte einen ähnlich hohen Bekanntheitsgrad in der Archivwelt und weit darüber hinaus erreicht haben wie Robert Kretzschmar. Das ist zum einen durch seine bemerkenswerte Publikationstätigkeit begründet, von der das 16seitige Schriftenverzeichnis in dem zu besprechenden Band Zeugnis abgibt. Zum anderen wird man ihn schon rein ämterbedingt als Musterbeispiel eines „Netzwerkers“ bezeichnen dürfen – beispielsweise war der als Präsident des Landesarchivs Baden-Württemberg in den Ruhestand getretene Kretzschmar zwischen 2005 und 2009 auch Vorsitzender des Vereins Deutscher Archivarinnen und Archivare (VdA). Die vielen weiteren Funktionen in seinem beruflichen Leben zählen die Herausgeber Gerald Maier und Clemens Rehm in ihrem Geleitwort auf.

Der Rezensent erlebte Robert Kretzschmar unter anderem als Vorsitzenden des Wissenschaftlichen Beirats der Außenstelle Ludwigsburg des Bundesarchivs, und zahlreiche Kolleginnen und Kollegen werden den Eindruck teilen, es bei Robert Kretzschmar mit einem umsichtigen, verlässlichen und konstruktiven Fachmann zu tun gehabt zu haben, mit dem die Zusammenarbeit eine Freude war. So erstaunt es nicht, dass in der Festschrift – die offiziell nicht als solche bezeichnet wird – nicht weniger als 34 Beiträge von teils hochrangigen beruflichen Weggefährten versammelt sind.

Das Ergebnis ist freilich ambivalent. Nehmen wir mehr oder weniger willkürlich fünf Aufsätze heraus: Das „Plädoyer für eine ästhetische Überlieferungsbildung“ von Albrecht Ernst, Andreas Hedwigs Blick auf die „Herausforderungen der betriebswirtschaftlichen Steuerung“ im deutschen Archivwesen, der Abriss über „Standards im Museumswesen“ von Günther Schauerte und Monika Hagedorn, Volker Trugenbergers Beitrag zur Burg Wildenstein in den Jahren 1490–1497 und die Geschichte der „Archivberatungsstelle der Preußischen Provinz Sachsen im Zweiten Weltkrieg“ von Ulrike Höroldt haben faktisch nicht mehr miteinander gemeinsam, als dass ihre Autorinnen und Autoren eine berufliche Verbindung zu Robert Kretzschmar hatten. Notdürftig gliedern die Herausgeber die heterogenen Beiträge in die drei zwangsläufig offen formulierten Kapitel „Aspekte archivischer Fachaufgaben“, „Erhalten und Bereitstellen des kulturellen Erbes“ und „Archive als Partner der Geschichtswissenschaft“, doch ergibt sich auch innerhalb dieser Gliederung kein rechter roter Faden.

Die Aufsätze unterscheiden sich nicht nur im Hinblick auf den Inhalt, sondern – und das ist leider ein Merkmal vieler Sammelbände – auch im Hinblick auf ihren Charakter und Neuigkeitswert teilweise erheblich. Einige Beiträge aus dem Landesarchiv Baden-Württemberg bieten methodisch vergleichbare Standortbestimmungen und strategische Überlegungen zur künftigen Wahrnehmung zentraler Fachaufgaben, etwa der Erschließung (Andreas Neuburger), der historischen Bildungsarbeit (Clemens Rehm), der Archiv-IT (Wolfgang Krauth) oder der Digitalisierung on demand (Gerald Maier und Thomas Fricke). Am weitesten blickt Wolfgang Zimmermann in seinem Essay „Archiv 3.0: Archive nach der Digitalisierung“ voraus. Dem zweifellos ausgereiften Text über „Risikomanagement für Archivgebäude“ von Udo Herkert ist eine im Prinzip sicher auch für andere Archivverwaltungen brauchbare mehrseitige Checkliste beigefügt, die ein am Thema Interessierter aber kaum hier erwarten und nur schlecht nutzen können dürfte – eine Internet-Publikation wäre hierfür natürlich zweckmäßiger. Der Beitrag „Dreißig Jahre Stiftung Kulturgut Baden-Württemberg“ von Ursula Bernhardt hat bei allem Respekt eher den Charakter eines Info-Flyers.

Diese eher strukturelle Kritik am Gesamtwerk impliziert selbstverständlich nicht, dass die einzelnen Texte nicht anregend oder nicht von hoher fachlicher Qualität wären. Da die Nennung aller 34 Beiträge unter Beschränkung auf die Titel aber den Rahmen einer Rezension sprengen würde und gleichzeitig wenig ergiebig wäre, sollen hier nur noch die Kerngedanken vier weiterer Aufsätze exemplarisch vorgestellt werden.

Kurt Hochstuhl stellt in seinem Artikel „Vom zukünftig leichteren Auffinden der Akteure“ zunächst kenntnisreich die Besonderheiten der Entnazifizierungspolitik in der französischen Besatzungszone dar und leitet dann über zu der absehbaren virtuellen Zusammenführung der Akten der Spruchkammer Südbaden. Diese werden zum größeren Teil im Staatsarchiv Freiburg, soweit sie sich auf in den Lagern Altschweier-Bühl, Lahr-Dillingen und Freiburg internierte Personen beziehen hingegen in den französischen Archives diplomatiques in La Courneuve aufbewahrt. Durch die generelle Verkürzung der ursprünglichen Schutzfrist auf 50 Jahre ist seit Ende 2015 auch die Nutzung der in Frankreich befindlichen Akten dort ohne weiteres möglich. Als Ergebnis eines gemeinsamen deutsch-französischen Digitalisierungsprojekts sollen die Überlieferungslücken im Freiburger Bestand perspektivisch online gefüllt und der Zugang so weiter erleichtert werden.

Eine Vielzahl bedenkenswerter und diskussionswürdiger Thesen enthält der Essay „Archivierung als kulturelle Praxis von Demokratie und Rechtsstaat“ von Andreas Kellerhals. Der ehemalige Direktor des Schweizerischen Bundesarchivs unterstreicht den Primat des gesellschaftlichen Auftrags von Archiven gegenüber ihrer Funktion als Bewahrer von Kulturgut und Dienstleister für die (historische) Forschung. Nicht ohne Grund sei das Archivierungsgesetz in der schweizerischen Rechtssystematik im Kapitel der Grundrechte und nicht etwa – wie die Rechtsgrundlage der Nationalbibliothek – im Kapitel Dokumentation eingereiht. Kellerhals plädiert für eine „demokratisch breitere Abstützung“ (S. 167) von Bewertungsentscheidungen, erwägt aber auch, inwiefern künftig eine vollständige Überlieferung „staatspolitisch notwendig“ wäre (S. 169). Eingeordnet wird auch das strategische Ziel des Schweizerischen Bundesarchivs, die Benutzung möglichst vollständig digital zu ermöglichen, oder in anderen Worten: „den Primat der Erhaltung auf Kosten der Nutzung aufzuheben“ (S. 170).

Eine Vergleichsfolie zu diesen Überlegungen bietet der Zwischenbericht von Christina Wolf über „Kulturgutdigitalisierung in Schweden“. Dort wird die Überlieferung des Reichsarchivs unmissverständlich als Teil des nationalen Kulturguts betrachtet und dessen vollständige Digitalisierung als realistisches Ziel in Angriff genommen. Eine zentrale Rolle für die Erarbeitung, Vermittlung, Umsetzung und kontinuierliche Evaluierung der nationalen Digitalisierungsstrategie nimmt das zunächst beim Reichsarchiv angesiedelte „Koordinierungssekretariat für Digitalisierung, digitale Erhaltung und digitale Bereitstellung von Kulturgut“ (S. 252; schwedische Abkürzung: Digisam) ein, dessen Betrieb zum Januar 2017 nunmehr als Organisationseinheit beim Zentralamt für Denkmalpflege verstetigt werden konnte. Digisam hat sich unter anderem durch die Unterstützung in juristischen, vor allem Urheberrechts-Fragen verdient gemacht und zwei bemerkenswerte Vorschläge erarbeitet, die die Zustimmung der schwedischen Regierung fanden: die Kooperation mit dem nationalen Universitätsnetz zum Aufbau einer IT-Infrastruktur für das digitale Kulturerbe und den Ausbau des Medienkonvertierungszentrums des Reichsarchivs zum Digitalisierungszentrum für alle staatlichen „Kulturerbeeinrichtungen“.

Nach dem dreifachen Blick über die Grenzen soll noch der Beitrag von Rainer Hering unter dem Titel „Archive und Universitäten“ Erwähnung finden, in dem völlig zu Recht das herausragende Engagement Robert Kretzschmars für einen fruchtbaren Austausch zwischen Archivaren und Historikern gewürdigt wird. Nicht nur durch eigene wissenschaftliche Publikationen, sondern auch durch die Organisation archivischer Sektionen auf den Historikertagen, die Mitwirkung im VdA-Arbeitskreis „Aktenkunde des 20. und 21. Jahrhunderts“ und die regelmäßige Durchführung von Lehrveranstaltungen an den Universitäten Stuttgart und Tübingen, die in einem Anhang zusammengestellt sind, hat er sich um die Vermittlung archivischen Know-hows in die historische „Community“ hinein verdient gemacht. Ob man mit Rainer Hering und Robert Kretzschmar tatsächlich von einer „Archivwissenschaft“ sprechen und dieser den Rang einer historischen Grundwissenschaft beimessen möchte, sei einmal dahingestellt.

Ohne die Autorinnen und Autoren, die Herausgeber oder gar den Jubilar verärgern zu wollen, ist aus Sicht des Rezensenten zu hoffen, dass zumindest in der Archivwelt die Ära der gedruckten, teuren Festschriften ihrem Ende zugeht und durch zeitgemäße Formen der Anerkennung ersetzt wird. Zu denken wäre etwa an eintägige Kolloquien aus Anlass von besonderen Geburtstagen oder Verabschiedungen herausragender Vertreterinnen und Vertreter der Branche, die sich inhaltlich eingegrenzt einem „Herzensthema“ der zu ehrenden Person widmen und deren Beiträge im unmittelbaren Anschluss auf der Internetseite der veranstaltenden Einrichtung veröffentlicht werden.

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