Cover
Titel
Alle in Bewegung. Räumliche Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland 1980–2010


Autor(en)
Dorn, Raphael Emanuel
Reihe
Nach dem Boom
Erschienen
Göttingen 2018: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
397 S., 25 z.T. farb. Abb., 2 Tab.
Preis
€ 60,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christopher Banditt, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

In seiner 2016 an der Universität Trier angenommenen Dissertation untersucht Raphael Dorn bundesdeutsche Mobilitätsbewegungen in der Zeit „nach dem Boom“. Im Kern fragt die Studie, ob „die Bedeutung räumlicher Mobilität in den letzten Jahrzehnten in Deutschland tatsächlich deutlich angestiegen [ist]“ (S. 11). Dafür arbeitet sich Dorn zum einen an gängigen medialen Narrativen ab, denen zufolge der Mobilitätsdruck in jüngster Vergangenheit immer mehr zugenommen habe. Zum anderen werden die in den Wirtschaftswissenschaften lange Zeit dominierenden Rational-Choice-Ansätze, die basierend auf einer neoklassischen Mikrofundierung die Maximierung des monetären bzw. materiellen Nutzens als maßgeblich für Wanderungsentscheidungen ansehen, einer kritischen Prüfung unterzogen. Der Autor kommt dabei – so viel sei vorweggenommen – zu dem Schluss, dass als sogenannte Push-/Pull-Faktoren für räumliche Mobilität neben soziokulturellen und raumstrukturellen Determinanten auch je persönlich-individuelle Motive eine Rolle spiel(t)en.

Unter räumlicher Mobilität werden sowohl Umzüge (über administrative Grenzen) als auch das Arbeitswegpendeln (von mindestens 20 Kilometern) verstanden. Als Hauptquellen zur Eruierung ebendieser residenziellen und zirkulären Mobilitätsprozesse nutzt Dorn amtliche Statistiken sowie Daten aus Haushalts- und Personenbefragungen, womit er dem Ruf nach stärkerer Einbeziehung solchen Materials in zeithistorische Forschungen nachkommt.1 Für die Umsetzung eines „lebenslaufbezogene[n] Mobilitätsansatz[es]“ (S. 17) ist hierbei insbesondere der Datensatz des Sozio-oekonomischen Panels (SOEP) hervorzuheben, der von Dorn explorativ ausgewertet wird. Als Wiederholungsbefragung erhebt das SOEP seit 1984 Jahr für Jahr eine Vielzahl an Informationen zur Lebenssituation immer derselben Haushalte und Personen in Deutschland (inklusive einiger Stichprobenauffrischungen). Hieraus ergibt sich schließlich auch der Anfangspunkt des Untersuchungszeitraums, wenngleich dieser eher als grobe Vorgabe dient und in den Betrachtungen regelmäßig überschritten wird.

Neben der Formulierung der Zielstellung und Methodik der Arbeit enthält die Einleitung eine ausführliche Beschreibung des SOEP-Datensatzes, seiner Möglichkeiten wie auch Einschränkungen und Grenzen, womit Dorn zugleich den Implikationen der Quellenarbeit der „Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften“2 gerecht wird. Daran anknüpfend nimmt der Autor im zweiten Kapitel didaktisch geschickt die wesentlichen Begriffsbestimmungen und -erläuterungen vor, indem er die beiden untersuchten Mobilitätsphänomene bereits anhand ihrer großen Entwicklungslinien im 20. Jahrhundert vorstellt. So schafft er gleichsam beim Leser das Fundament zum besseren Verständnis der fünf weiteren, jeweils thematisch unterschiedlich ausgerichteten Kapitel.

Das dritte Kapitel nimmt Mobilität zwischen Ost- und Westdeutschland – vornehmlich, aber nicht nur – nach der deutschen Vereinigung in den Blick. Hier werden die medialen Diskurse und Skandalisierungen, insbesondere über den ostdeutschen Brain-Drain, mit den empirischen Befunden abgeglichen, was insofern ertragreich und erfreulich zu lesen ist, als ja von manchen Autoren die Diskurs- mitunter noch vor der Realgeschichte erzählt wird. Zwar revidiert Dorn nicht grundsätzlich das Bild von den jungen, gut ausgebildeten und oftmals weiblichen Abgewanderten aus Ostdeutschland. Er zeigt aber auf, dass die Gemengelage wesentlich komplexer war, als sie medial zumeist wiedergegeben wurde. Zugrunde lag zum einen eine Peripherie-Zentrum-Wanderung. Zum anderen erreichten die Wegzugsraten der ostdeutschen Landkreise keine höheren Ausmaße als ihre westdeutschen Pendants. Problematisch war vielmehr, dass es Ostdeutschland weit weniger gelang, Menschen zum Zuzug zu bewegen.

Daran anschließend wird im vierten Kapitel, das sich mit Geld als möglichem Movens fürs Pendeln auseinandersetzt, dargestellt, dass in Ostdeutschland Wohnhafte, die ihre Erwerbstätigkeit in den westdeutschen Bundesländern ausübten, durchschnittlich zwar mehr als die ostdeutschen, aber dennoch weniger als westdeutsche Arbeitnehmer verdienten. Solche Entwicklungen werden in der Regel datengesättigt, jedoch oftmals nur verbal-textlich abgebildet. Insgesamt wäre mehr in Tabellenform zusammengefasste bzw. illustrierende Unterstützung sinnvoll gewesen, um die vorhandenen, sehr hochwertigen Abbildungen noch zu ergänzen. Unter Einbeziehung von pseudonymisierten Fallbeispielen gelingt es Dorn immer wieder, individuelle Motivlagen für Mobilitätsverhalten aufzuzeigen, wie etwa, dass Arbeitspendeln nicht allein pekuniären Anreizen folgte. Dabei hätten stellenweise noch mehr Informationen, beispielsweise über die Art der Beschäftigung oder das (Aus-)Bildungsniveau von Pendlern, aus dem SOEP-Datenschatz gezogen werden können: Pendelt der Pendler weil er es kann oder weil er es muss?

Während das fünfte Kapitel wieder stärker mediale und auch politische Diskurse aufnimmt, indem es die Auswirkungen von „Faulheits- und Zumutbarkeitsdebatten“ auf die Mobilität von Arbeitslosen misst, zeigt das sechste Kapitel, dass man es sich materiell und familienorganisatorisch tatsächlich leisten können musste, räumlich mobil zu sein. Untersucht wird die Mobilität von Frauen aus der Geburtskohorte 1965–69 mittels Längsschnitt-Analysen. Neben dem Einfluss des Qualifikationsniveaus, des Ausbildungs- und beruflichen Werdegangs, der von Frauen ohne Abschluss und Akademikerinnen überaus verschiedene mobile Anpassungsleistungen erforderte, werden das jeweilige Geburtenverhalten und schließlich der innerfamiliäre Zusammenhang – also die Rolle möglicher Partner – miteinbezogen. Hierbei offenbaren die SOEP-Daten ihre Reichhaltigkeit, indem Dorn mit ihnen gewissermaßen eine prosopographische Anschauung der „kleinen Leute“ generiert.

Das siebente Kapitel unternimmt einen exkurshaften Blick auf das Wanderungs- und Pendlerverhalten zur Zeit der Hochindustrialisierung im Deutschen Kaiserreich um 1900. Neben zeitgenössisch produziertem Daten- und Studienmaterial dienen lokale Neubürgerlisten und Unterlagen zu Wohnungsanmeldungen als Quellen. Mit letzteren – sozusagen als Äquivalent zu den biografischen SOEP-Daten – lassen sich ebenfalls einzelne Lebenswege und Wanderungen rekonstruieren. Dieser fernere Rückblick dient Dorn dazu, abschließend zu prüfen, inwieweit es sich bei den jüngsten Dekaden um ein neues Mobilitätszeitalter handelt oder ob auch Kontinuitäten hinsichtlich räumlicher Mobilität in den letzten 100 Jahren auszumachen sind.

Die inhaltlich unterschiedlich gelagerten Teile der Arbeit bieten Ansatzpunkte für verschieden interessierte Leser: zum Beispiel für solche, die hinter politische und mediale Mobilitätsdiskurse blicken möchten, oder für jene, die stärker familiensoziologischen Perspektiven verhaftet sind. Zugleich vermisst man beim Lesen bisweilen den berühmten roten Faden. So verdecken gelegentlich die Ausführungen in den Teilkapiteln das die Arbeit durchziehende Forschungsinteresse. Methodisch arbeitet Dorn nicht allein mit statistisch fundierten quer- und längsschnittlichen Betrachtungen. Die entsprechenden Ergebnisse werden durchweg sozial- und wirtschaftshistorisch kontextualisiert, mit mikrohistorischen Elementen angereichert und in die Geschichte des Raumes eingebettet. Damit gelingt es ihm nicht nur, regionale Differenzierungen vorzunehmen, die über eine bloße Ost-West-Dichotomie hinausgehen. Auch werden Bestimmungsfaktoren räumlicher Mobilität und deren Rückwirkungen dargestellt sowie die Interdependenzen zwischen beiden untersuchten Phänomenen beleuchtet; so trat etwa das Pendeln „sowohl als Ersatz, als Vorbote, aber auch als Nachwirkung eines Umzugs in Erscheinung“ (S. 83). Mit der Monografie von Raphael Dorn liegt eine mit vielen Befunden gesättigte Arbeit vor, die geeignet ist, nicht zuletzt in methodischer Hinsicht auf dem Feld der raumbezogenen geschichtlichen Forschung Impulse zu setzen.

Anmerkungen:
1 Lutz Raphael / Gert G. Wagner, Das Potential von Mikrodaten sozial- und wirtschaftswissenschaftlicher Erhebungen und amtlicher Statistiken für die zeithistorische Forschung, in: Schmollers Jahrbuch 135 (2015), S. 335–342.
2 Jenny Pleinen / Lutz Raphael, Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), S. 173–195.

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