Cover
Titel
Wo ein Genosse ist, da ist die Partei!. Der innere Zerfall der SED-Parteibasis 1979–1989


Autor(en)
Pannen, Sabine
Reihe
Kommunismus und Gesellschaft 7
Erschienen
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 40,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Malycha, Institut für Zeitgeschichte München-Berlin

Nachdem die DDR-Staatspartei SED lange Zeit keine angemessene zeitgeschichtliche Aufmerksamkeit gefunden hat, widmet sich die Forschung nunmehr auch der Entwicklung, dem Wandel und dem Niedergang der SED. Erfreulicherweise rückt jetzt die Parteibasis in den Fokus wissenschaftlicher Analysen. Bereits Johannes L. Kuppe hat in seinem noch immer aktuellen Essay darauf verwiesen, dass die SED kein monolithischer Organismus mit autoritär verordneten Denkmustern, sondern „ein im Wortsinn lebendiges Gefüge von Menschen war, die in ihren Rollen als Partei- und als Gesellschaftsmitglieder agieren mussten und beide Rollen selten immer deckungsgleich ausfüllen konnten“.1 Sabine Pannen zeigt nun mit ihrer eindrucksvollen Studie, dass die SED ihr grundlegendes Dilemma, mit dem sie seit ihrer Gründung zu tun hatte, auch bis zu ihrem Ende im Jahr 1989 nicht aufzulösen vermochte: Sie sollte nach den Vorstellungen ihrer kommunistischen Gründer wie eine elitäre Kaderpartei agieren und wurde dementsprechend geleitet. Jedoch besaß sie in ihren über zwei Millionen Mitgliedern eine überaus heterogene Basis, in der unterschiedliche Motivationen, Auffassungen und Verhaltensweisen wirkten.

Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete Version ihrer Dissertationsschrift, die 2017 an der Philosophischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin erfolgreich verteidigt wurde. Sabine Pannen untersucht darin hauptsächlich den inneren Erosionsprozess an der SED-Parteibasis in den 1980er-Jahren, der die innere Stabilität des politischen Systems bedrohte. Sie rückt dabei die Mitglieder der Partei und deren Stellung in der SED selbst und in der Gesellschaft in den Mittelpunkt. Sie stützt sich bei ihren Aussagen über die soziale Praxis des Parteilebens und deren Wandlungen überwiegend auf Schriftgut der SED-Grundorganisation des Stahlwerks Brandenburg. Als aussagekräftige Quellen dienen ebenso Protokolle der Kreisparteikontrollkommission Brandenburg, Berichte über die Lage der Mitgliedschaft aus dem Bezirk Potsdam und der Kreisstadt Brandenburg. Ferner bilden Stimmungsberichte des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) eine zentrale Quellengruppe, die im Hinblick auf innerparteiliche Konfliktfelder der 1980er-Jahre analysiert werden. Darüber hinaus führte Sabine Pannen Interviews mit ehemaligen Beschäftigten des Stahlwerks, die der SED angehörten. Mit dieser insgesamt gelungenen Kombination aus überliefertem Schriftgut der Region und retrospektiv geschilderten Erfahrungen ist sie dem Anspruch gerecht geworden, die Mitglieder der SED als soziale Akteure zu untersuchen, um auf diesem Weg sowohl Kohäsions- als auch Erosionskräften innerhalb der Staatspartei auf die Spur zu kommen. Damit verbindet Sabine Pannen zugleich eine dezidierte Abgrenzung zur struktur- und institutionengeschichtlichen Perspektive auf die Geschichte der SED, der von ihr ein eher begrenzter Wert für das Verständnis von Partei und Gesellschaft beigemessen wird.

Nach einer theoretisch-methodischen Standortbestimmung widmet sich die Untersuchung in vier Kapiteln der Frage nach den Kohäsions- und Erosionsprozessen im innerparteilichen Leben der SED. Obgleich die 1980er-Jahre den Schwerpunkt der Studie bilden, werden ebenso für die 1950er- und 1960er-Jahre die Rekrutierungspraktiken sowie die Motive für den Parteieintritt dargestellt. Dabei lotet Sabine Pannen die Handlungsspielräume aus und spürt Verflechtungen der Mitglieder mit dem Berufsalltag nach. Am Beispiel der Parteimitglieder im Stahlwerk Brandenburg kann Sabine Pannen zeigen, wie die Grundorganisation der SED als Steuerungsinstanz sowie als zentrale Schnittstelle zwischen Parteiherrschaft und Lebenswelt vor Ort funktionierte. Für die ersten Jahrzehnte schloss diese Steuerungsinstanz demnach auch Partizipation und Mitwirkung mit ein, sodass von der aktiven Teilhabe am Parteileben durchaus Kohäsionskräfte ausgingen, die zur Stabilität der Parteiherrschaft beitrugen. Dabei kann Sabine Pannen auf der Grundlage unterschiedlicher politischer Milieus sowie Erfahrungen und Wertvorstellungen Erklärungen für differenzierte Formen der Parteibindung liefern, die dann auch die Staatspartei in den 1980er-Jahren prägten. So waren die Vorstellungen der älteren Mitglieder, also der sogenannten Aufbaugeneration, noch von einem vereinfachten Freund-Feind-Denken sowie von einem starken hierarchischen politischen Denken geprägt. Die jüngeren Parteimitglieder, also die zwischen 1954 und 1961 Geborenen, empfanden dagegen ihre Parteizugehörigkeit in der Regel als eine Art von Normalität im staatlich geordneten Lebenslauf, der für sie allerdings zunehmend weniger berufliche Aufstiegschancen zuließ. Für sie bedeutete politische Partizipation nicht allein die strikte Umsetzung von Führungsbeschlüssen, sondern die aktive Mitgestaltung des politischen Alltags. So kann Sabine Pannen in ihrer Studie überzeugend aufzeigen, wie die politischen Alltagserfahrungen, nämlich die empfundene Ohnmacht gegenüber dem von der herrschenden Parteispitze verordneten politischen Kurs einerseits sowie eingeschränkte Karrierechancen andererseits, maßgeblich zum Loyalitätsverlust und zur innerparteilichen Erosion beitrugen.

Größeren Umfang nimmt die Analyse über die abnehmenden Integrationskräfte der SED im Laufe der 1980er-Jahre ein, die von wirtschaftlichem Niedergang, wachsender Präsens des Westens und seiner Konsumwelt sowie den Auseinandersetzungen über die Reformpolitik Gorbatschows in der Sowjetunion gekennzeichnet waren. Neben den offenkundigen Konfliktpotentialen im Betriebs- und Versorgungsalltag der Industriearbeiter räumt Sabine Pannen dem Phänomen der „Desintegration der von Westreisen Ausgeschlossenen“ (S. 226), also derjenigen, die aufgrund fehlender Westverwandtschaft nicht in die Bundesrepublik bzw. nach Berlin-West reisen konnten, einen bedeutenden Stellenwert in der sozialen Praxis des Parteilebens ein. Sie sieht darin einen bislang wohl unterschätzten Aspekt der schwindenden Erosionskräfte innerhalb der Staatspartei und der zunehmenden Resignationserscheinungen in der Mitgliedschaft. Hier folgt sie den Berichten der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe des MfS (ZAIG), die allerdings mit etwas mehr kritischer Distanz gedeutet werden müssten. Denn das MfS hatte ein besonderes Eigeninteresse daran, in seinen Berichten den Aspekt der „Westreisen“ ausdrücklich herauszuheben.

Deutlich plausibler wird dagegen ihre Erklärung, wie die Abwehr der Reformen Gorbatschows durch die Parteiführung die Rolle der SED-Grundorganisation als Steuerungsinstanz zunehmend verringerte. Denn die Reformblockade der Parteiführung und die Diskreditierung der Reformbefürworter als „Meckerer“ und „Nörgler“ machten es zunehmend schwieriger und schließlich gänzlich unmöglich, die Politik der Führung in den Grundorganisationen der Partei zu vertreten und zu rechtfertigen. Die daraus resultierende Resignation und der Unmut über die starrsinnige Reformverweigerung der Parteispitze bewerte Sabine Pannen letztlich als eine der zentralen Faktoren des innerparteilichen Zerfallsprozesses, die den Massenaustritten im Herbst 1989 vorausgingen.

Schließlich widmet sich die Darstellung dem Zerfall der Staatspartei im Herbst 1989, der von Loyalitätsentzug und Massenaustritten geprägt war. Hierfür werden unter anderem die Überlieferungen des im November 1989 gebildeten Konsultations- und Informationszentrums der SED genutzt, die Aufschluss über die verschiedenen Verhaltens- und Denkweisen der Mitglieder innerhalb einer zerfallenen Staatspartei liefern. Das war eben jener Zeitpunkt, als die Führung den Rückhalt nicht nur in der Gesellschaft endgültig und umfassend, sondern auch in der Parteibasis verloren hatte und sich zeigte, dass die SED eben nicht ausschließlich ein Instrument ihrer Führung war.

Das Verdienst des Buches besteht insbesondere darin, ein gängiges Verständnis der Parteiherrschaft hinterfragt zu haben, in dem die SED gewissermaßen wie eine Herrschaftsglocke isoliert über der Gesellschaft agierte. Die SED war, wie es resümierend heißt, „keine außerhalb der Gesellschaft stehende Gruppe mit ganz eigenen Konflikten, Themen und Wertvorstellungen“ (S. 325). Sabine Pannen kann anschaulich nachweisen, wie insbesondere die Grundorganisationen der SED in den Industriebetrieben eine vorpolitische Vermittlerrolle in den alltäglichen Abläufen des gesellschaftlichen Lebens einnahmen und wie sie diese Rolle im Laufe der 1980er-Jahre vollständig einbüßten. Der Verlust dieser Steuerungs- und Vermittlungsfunktion, so ihr überzeugendes Fazit, destabilisierte das politische System der DDR und trug maßgeblich zum Machtzerfall der SED bei.

Anmerkung:
1 Johannes L. Kuppe, Die SED. Avantgarde der Arbeiterklasse, Instrument der Parteiführung oder Teil einer deutschen Geschichte?, in: Gerd-Rüdiger Stephan u.a. (Hrsg.), Die Parteien und Organisationen der DDR. Ein Handbuch, Berlin 2002, S. 269-283, hier S. 270f.

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