M. Gabowitsch (Hrsg.): Replicating Atonement

Cover
Titel
Replicating Atonement. Foreign Models in the Commemoration of Atrocities


Herausgeber
Gabowitsch, Mischa
Reihe
Palgrave Macmillan Memory Studies
Erschienen
Anzahl Seiten
XII, 353 S.
Preis
$ 149.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christina Ullrich, Fachbereich Geschichte und Kulturwissenschaften, Philipps-Universität Marburg

Bevor man dieses Buch aufschlägt, um in gewohnter Manier einen Blick in das Inhaltsverzeichnis zu werfen, sollte man kurz beim Titelbild verharren, visualisiert es doch treffend den Gegenstand des Sammelbandes „Replicating Atonement. Foreign Models in the Commemoration of Atrocities“. Es zeigt nicht einfach Willy Brandts Warschauer Kniefall von 1970 als Fotografie, sondern die Plakette, die zum Andenken an den Akt des Gedenkens seit dem Jahr 2000 den Willy-Brandt-Platz in Warschau ziert – ein Symbol, das mit Bedeutungen gefüllt und mit Erwartungen im Sinne eines „replicating atonement“ verknüpft werden kann: sei es als Hintergrundbild auf Mobiltelefonen von MitarbeiterInnen einer Nichtregierungsorganisation ehemaliger jugoslawischer Staaten (S. 135) oder als politisch-moralische Vorhaltung an den japanischen Premierminister durch die offizielle chinesische Nachrichtenagentur Xinhua (S. 13).

Dass das bundesdeutsche Beispiel einer Wiedergutmachungs- oder Vergangenheitspolitik – nicht nur, aber durchaus an prominenter Stelle – in Transitional-Justice-Prozessen vielfach eine Modellrolle einnimmt, bildet als Beobachtung den Ausgangspunkt des vorliegenden Bandes und verweist zugleich auf dessen weiter gefasstes Erkenntnisinteresse: die Ausformungen von „atoning by analogy“ (S. 2). Wie es zur positiven Rezeption der bundesdeutschen Vergangenheitspolitik kam und welche dynamischen Wechselbeziehungen mit der US-amerikanischen Holocaust-Erinnerung bestanden, wird in der Einleitung nicht entwickelt. Stattdessen nimmt der Herausgeber Mischa Gabowitsch die Verweise auf die Bundesrepublik als „master atoner“ (S. 9) zum Anlass, die Versäumnisse eben dieser Vergangenheitspolitiken nochmals nachzuerzählen und auf die Historizität und Besonderheit des (west)deutschen Falles zu verweisen. Es scheint, als seien diese Selbstverständlichkeiten an all jene Akteure gerichtet, denen das bundesdeutsche Beispiel einer Vergangenheitspolitik als idealisierte Vorstellung dient.

Neben „atonement“ („Buße“, „Abbitte“) wird synonym der im Englischen mittlerweile fest verankerte Begriff „Vergangenheitsbewältigung“ in den Beiträgen benutzt. Warum speziell der religiös konnotierte Begriff „atonement“ gewählt wurde, wird nicht dezidiert erläutert. Gabowitsch möchte „atonement“ verstanden wissen als umfassende Bezeichnung für alle Formen von Anerkennung, Aufarbeitung, Erinnerungspraktiken und performativen Akten, wie sie aus dem Bereich der Transitional Justice bekannt sind. Diese Herangehensweise erscheint sinnvoll, um vielfältige Varianten des Umgangs mit Vergangenheit in den Blick zu bekommen, doch hätte es dafür des gewichtigen Begriffs „atonement“ nicht zwingend bedurft.

Was bedeutet es nun im Sinne eines beobachtbaren „atoning by analogy“, wenn der Umgang mit vergangenen Gewalttaten und -erfahrungen auf Analogien beruht? Welche (Aus-)Wirkungen können sich daraus ergeben, wenn einzelne Fälle bzw. Konstrukte oder Phantasien davon als Modell, Referenz oder Ideengeber herangezogen werden, und welche Intentionen verfolgen unterschiedliche Akteure damit? Wie verhalten sich universalistische Normen beispielsweise der Holocaust-Erinnerung zu nationalen oder lokalen Erinnerungspraktiken und umgekehrt? Warum sind beispielsweise in Ruanda Holocaust-Bezüge so verbreitet, und welchem Zweck dienen sie? Warum wurden sie umgekehrt in Kanada von der dort eingesetzten Wahrheits- und Versöhnungskommission vermieden, wenngleich man sich durchaus intensiv damit beschäftigte, wie die Shoa Foundation und Gedenkstätten weltweit Genozide repräsentieren (S. 175)?

Der Soziologe und Historiker Gabowitsch vereint zur Beantwortung dieser Fragen länderspezifische Fallbeispiele (Japan, Libanon, Ex-Jugoslawien, Türkei, Kanada, Argentinien, Sowjetunion, Ruanda und US-Bundesstaat Mississippi) zum Umgang mit gewaltvoller Vergangenheit in einer Art zusammenführender Metastudie. Der verbindende theoretische Bezugsrahmen der Autor/innen – in der Mehrzahl aus Politik- und Kulturwissenschaft, Kultur- bzw. Sozialanthropologie und Soziologie, vereinzelt aus der Psychologie und der Geschichtswissenschaft stammend – sind die „Memory Studies“. Ausgehend von empirischen Untersuchungen und Quellenarbeit diskutieren die Beiträge solche Phänomene, die als globale, transnationale, kosmopolitische (in Anlehnung an Daniel Levy und Natan Sznaider1) oder multidirektionale Erinnerungen (Michael Rothberg2) beschrieben worden sind. Gabowitsch rückt nun aber gleich zu Beginn den Blick wieder auf den Nationalstaat als Erinnerungsrahmen, der seine Bedeutung nicht eingebüßt habe, wenn es beispielsweise um öffentliche Entschuldigungen geht – trotz aller Erkenntnisse über die globalen und transnationalen Relationen und Wirkungen von Erinnerungspraktiken (S. 3). Die Frage nach dem komplexen Zusammenwirken globaler Akteure, Vorstellungen, Rhetoriken und Erwartungen mit nationalen und lokalen Akteuren und Faktoren durchzieht mehr oder weniger explizit beinahe sämtliche Beiträge des Bandes.

So kann, um ein Beispiel zu nennen, Sune Haugbolle am Fall Libanon zeigen, wie in einem solchen Zwischenraum Erwartungen lokaler Akteure und Wissen über Konzepte und „richtige“ Praktiken auf Seiten transnationaler Akteure zusammentreffen. Damit ist aber bereits eine Schwierigkeit angesprochen, die sich aus dem Ziel ergibt, auf den „nexus between local und global discourse“ (S. 48) zu schauen, klingt hier doch die nicht unproblematische Vorstellung an, beides getrennt voneinander denken zu können. Die vorgestellten empirischen Beobachtungen laufen dem entgegen, weil die lokalen Akteure im Libanon vornehmlich aus der global vernetzten Intellektuellen- und Kunstszene stammen. In der spezifischen Umsetzung der Erinnerungsprojekte, so ein Fazit, zeige sich schließlich deutlich der Einfluss durch „scripts“, Logiken und Finanzierung von „außen“ (S. 48, S. 68). Diese Beobachtung findet sich – mit Blick auf die Wirkmächtigkeit von Ermöglichungsstrukturen, auf die lokale Akteure oftmals angewiesen sind – in fast allen Beiträgen des Bandes.

Aus den vorliegenden Studien entwickelt Gabowitsch in seiner Einleitung vier „ideal-typical uses of foreign models in debates about atonement“ (S. 6): erstens als „yardstick“ (Japan, Libanon; Türkei, Ex-Jugoslawien), der sich dadurch auszeichnet, dass das Modell unerreichbar erscheint oder sein soll; zweitens als „springboard“ (Ex-Jugoslawien, Kanada), bei dem das Beispielmodell im besten Falle eingehend analysiert wird und zu maßgeschneiderten eigenen Lösungen inspiriert; drittens als „foil“, wobei im Gegensatz zum ähnlichen „yardstick“ völliges Unwissen über das Modell herrscht bzw. konkretes Wissen nicht einmal notwendig ist, weil der Verweis ausschließlich einem bestimmten Zweck dienen soll (Sowjetunion/Russland); viertens als „screen“ im Sinne einer externalisierten „screen memory“ (Ruanda), wobei der englische Begriff über den von Sigmund Freud geprägten Terminus „Deckerinnerung“ hinausweist (S. 6ff.).

Gabowitsch schwächt seine Überlegungen leider dadurch, dass die Gliederung des Bandes nicht – wie man nach der Einleitung erwartet hätte – konsequent der zuvor entwickelten Typologie folgt. Zudem ergeben sich inhaltliche Widersprüche, wenn beispielsweise der Fall Libanon einleitend als Beispiel für eine Aneignung fremder Geschichte im Sinne eines „springboard“ erwähnt, in der Gliederung aber unter „yardstick“ aufgeführt wird. Zwar widmet sich Kapitel 1 „Norms and Yardsticks“, Kapitel 3 greift „Atonement Models as Springboards“ explizit auf, und Gabowitschs eigener Beitrag trägt „Foils and Mirrors“ im Titel. Die restlichen Fallbeispiele werden allerdings unter thematischen Überschriften subsumiert wie „The European Union and the Politics of Atonement“ (Kapitel 2) oder „Occidentalist Entanglements“ (Kapitel 5). Das ist, wie die einzelnen Beiträge zeigen, zwar in sich plausibel, lenkt den Fokus aber eher auf politische Rahmenbedingungen oder Intentionen als auf die Modelle selbst. Dass beide Kapitel (2 und 5) noch dazu jeweils einen Beitrag zur Türkei verzeichnen, zeigt, wie problematisch sich die Kategorisierung gestalten kann, und wirft die Frage auf, zu welchem Nutzen oder mit welchem Erkenntnisinteresse sie erfolgt. Es ließe sich nämlich argumentieren, dass gerade dieses offensichtliche und komplexe Nebeneinander von Akteuren, Intentionen, Machtverhältnissen und Deutungen anderer Beispiele in unterschiedlichen Aushandlungsprozessen eine genauere Betrachtung verdient. Der Typus „screen memory“ wird letztlich allein aus dem Beispiel Ruanda entwickelt (Kapitel 4, „Distorted Representations“).

Vielleicht muss man dieser Schwäche aber auch nicht allzu viel Gewicht beimessen, wenn man Mischa Gabowitschs Intention oder besser Motivation betrachtet, mit der er die empirisch fundierten Einzelbeispiele in dem Band unter einer fraglos wichtigen und relevanten Leitfrage zusammengeführt hat. Die analysierten Fälle sollen Akteure aus dem Feld der Transitional Justice für die Komplexität und Historizität herangezogener „Modelle“ und deren Konstruktivität sensibilisieren, im Sinne eines kritischen, reflektierten und kreativen „replicating atonement“ (S. 16f.).

Anmerkungen:
1 Daniel Levy / Natan Sznaider, Memory Unbound. The Holocaust and the Formation of Cosmopolitan Memory, in: European Journal of Social Theory 5 (2002), S. 87–106.
2 Michael Rothberg, Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization, Stanford 2009.