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Titel
Kolonial bewegte Jugend. Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik


Autor(en)
Heyn, Susanne
Reihe
Histoire 133
Anzahl Seiten
352 S.
Preis
€ 39,99
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Annika Dörner, Forschungszentrum Gotha der Universität Erfurt

Mit dem deutschen Kolonialismus setzt sich die historische Forschung seit einiger Zeit sehr intensiv auseinander.1 Längst wird der deutsche Kolonialismus nicht mehr nur als ein Projekt des männlichen Bürgertums untersucht, auch Frauen und lange ignorierte Interessensgruppen wie Missionare bilden nun einen nicht mehr wegzudenkenden Bestandteil des Forschungsfeldes, das Kolonie und Metropole als miteinander verflochtenes Beziehungsgeflecht betrachtet. Doch Studien, die sich dezidiert mit der Kategorie Jugend und jugendlichen Akteuren im deutschen Kolonialismus beschäftigen, fehlten bislang. Diese Lücke schließt Susanne Heyn nun mit ihrer Dissertation „Kolonial bewegte Jugend. Beziehungsgeschichten zwischen Deutschland und Südwestafrika zur Zeit der Weimarer Republik“. Sie untersucht sowohl die Diskurse der erwachsenen als auch die Perspektiven der jugendlichen Akteure selbst, wozu sie erstmals jugendeigene Zeitschriften besonders der Kolonialpfadfinder und auch den Briefwechsel einer Großfamilie zwischen Südwestafrika und Deutschland auswertet und dies nicht nur im Deutschland der Weimarer Republik, sondern auch für die deutschen Siedler in Südwestafrika. Heyn tritt an, eine Beziehungsgeschichte zu schreiben. Eine erste wichtige Erkenntnis ist, dass diese Beziehungen unterschiedlich eng waren. Während in Deutschland zunehmend von den realen Gegebenheiten in Südwestafrika, aber auch von der Lebenswelt der deutschen Jugendlichen losgelöste koloniale Phantasmen eine Rolle spielten, hatte Deutschland wiederum für die Siedler in Südwestafrika eine reale Bedeutung als Ressourcenraum für Bildung und Zukunftsgestaltung. Die Arbeit gliedert sich daher im Wesentlichen in zwei Teile, wobei sich der erste mit der kolonialen Jugend in Deutschland und der zweite mit der deutschen Jugend in der ehemaligen Kolonie Deutsch-Südwest-Afrika beschäftigt.

Heyn ordnet zu Beginn ihrer Studie zunächst die Jugendarbeit in die Geschichte der Kolonialbewegung der Weimarer Republik ein, indem sie im ersten Teil ihrer Studie rekapituliert, dass und wie die Kolonialbewegung in Deutschland erst spät und zögerlich begann, eine eigene Jugendarbeit zu entwickeln. Entsprechende Strukturen wurden nur schleppend geschaffen, die Einflussnahme auf die Institution Schule blieb das wichtigste Betätigungsfeld. Gründe für den nie ganz durchschlagenden Erfolg dieser kolonialen Jugendarbeit kann Heyn in einem instrumentellen Verständnis der Jugendarbeit identifizieren. Die Jugendlichen waren für die Erwachsenen hauptsächlich eine Projektionsfläche für die eigene Forderung nach Kolonialrevision und für die der Vergangenheit verhafteten, wenig zukunftsweisenden Vorstellungen. Sie schufen koloniale Mythen, die wenig mit den realen Interessen und Problemen von Jugendlichen in der Weimarer Republik zu tun hatten. Demgegenüber offenbart Heyns Blick auf die Kolonialpfadfinder jugendeigene koloniale Perspektiven. In der Tradition bündischer Jugend schufen sie durch Praktiken wie Fahrt und Lager in Deutschland zumindest temporär koloniale Räume. Wie etwa in ihren Zeitschriften deutlich wird, vereinten sie koloniale und jugendbewegte Mythen. Zudem relativierten sie durch zukunftsweisende Raumforderungen wie die Forcierung der „Ostkolonisation“ kolonialrevisionistische Vorstellungen, was sie anschlussfähig an nationalsozialistische Vorstellungen machte.

Im zweiten Teil ihrer Arbeit zeigt Heyn mit analytischer Schärfe für die kolonialen Jugendgruppen in Deutschland, wie in kolonialen Präsentationen, beispielsweise von Jugendlichen aufgeführten Theaterstücken, Weiß-Sein konstruiert und zudem durch die Zuweisung von Schwarzen in dienende Rollen rassistische Hierarchen geschaffen und verfestigt wurden. Die Sozialisationsentwürfe der kolonialen Jugendgruppen orientierten sich wie auch die der bürgerlichen Jugendbewegung insgesamt an einem bürgerlich-konservativen Geschlechtermodell, wie besonders die Untersuchung der Mädchengruppen zeigt. Über die Ausübung typisch weiblicher Aktivitäten konnten die Mädchen sich vereinzelt neue Bereiche erschließen, so ermöglichte etwa das Zubereiten von Proviant die Teilnahme am Lager der Jungengruppe.

Umkämpft war ferner die Konstruktion des „Deutschseins“, dessen die Siedler in Südwestafrika sich selbst und Deutschland immer wieder versichern mussten. Degenerationszenarien, z.B. Vorstellungen von Annäherung an und Vermischung mit der burischen Bevölkerung, gefährdeten das „Deutschsein“ der Siedler. Neben diesen rassisch begründeten Ängsten wurde in Deutschland auch der vermeintlich schädliche Einfluss des afrikanischen Klimas auf die Entwicklung deutscher Kinder diskutiert. Diese Ängste waren besonders akut für in Afrika geborene Nachkommen deutscher Siedler, die keine persönliche Beziehung zu Deutschland hatten und zugleich die Zukunft einer deutschen Bevölkerung sowie deutscher Kultur in Südwestafrika darstellten. Daher wurden Degenerationsängste besonders über die Jugend verhandelt. Sie gestalteten den Diskurs über zeitlich begrenzte Bildungsaufenthalte in Deutschland maßgeblich mit. Diese vor allem in Deutschland diskutierten rassischen Ängste empfanden die Siedler als weniger dringlich, die klimatischen Argumente griffen sie überhaupt nicht auf. Sie bedienten sich ihrer jedoch partiell, um Zugang zur Möglichkeit der transnationalen Mobilität nach Deutschland zu erlangen. Ein zeitlich begrenzter Aufenthalt in Deutschland wurde aus pragmatischeren Ängsten und Hoffnungen heraus angestrebt. Eine deutsche Handwerksausbildung und der Besuch einer deutschen Schule oder Universität wurden als wichtige Ressourcen in der Siedlergemeinschaft angesehen, um gerade in Konkurrenz zur Südafrikanischen Union wettbewerbsfähig zu bleiben.

Aus diesen Diskursen entstand in einem stetigen Aushandlungsprozess zwischen deutschen Siedlern und der Kolonialbewegung in Deutschland die Infrastruktur, die Kindern den zeitlich begrenzten Aufenthalt in Deutschland ermöglichen sollte. Der Zugang zu dieser Mobilität blieb jedoch ungleich verteilt, woran Heyn die Heterogenität des Siedlerkollektivs – trotz der heraufbeschworenen, vermeintlichen Homogenität – eindrücklich nachzeichnen kann. Die Siedlernachkommen, die diese Infrastruktur für ihre Bildungsaufenthalte nutzten, wurden von den deutschen kolonialen Verbänden in national-konservativen Bildungs- und Heim-Einrichtungen untergebracht. Die Absicht, diese Jugendlichen zu Trägern deutscher Kultur zu erziehen, deckte sich jedoch nicht mit den Interessen der Jugendlichen selbst, wie die Autorin mit der Analyse von Briefen dreier Brüder der Familie Hälbich verdeutlicht. Für diese und ihre Familien stand vor allem eine gute Schul- und Berufsbildung im Mittelpunkt, Fluchtpunkt blieb das zukünftige Leben in Südwestafrika. Dies zeigt sich darin, wie die Jugendlichen ihren beiden Bezugsräumen spezifische Bedeutungen zuwiesen und sich selbst positionierten. Deutschland blieb dabei ambivalent, einerseits wurden die Landschaft sowie die Kultur- und Bildungschancen als positiv empfunden, andererseits werteten sie gesellschaftliche Entwicklungen wie die großstädtische Vergnügungskultur und Teile der Bevölkerung ab. Um ihren sozialen Status zu festigen, bemühten sich die Siedlernachkommen um Abgrenzung und eine Vereindeutigung ihrer kolonialdeutschen Identität.

Den Abschluss der Studie bildet eine Fallanalyse der Siedlerfamilie Hälbich, deren Angehörige sowohl in Südwestafrika als auch Deutschland lebten, wo sie über ein eigenes Haus verfügten, das für Bildungsaufenthalte genutzt werden konnte. Anhand von Briefen lässt sich hier die Bedeutung dieser Deutschlandaufenthalte für individuelle und familiäre Zukunftsplanungen aufzeigen. Interessant ist, wie sich die jungen Männer zwischen den Ansprüchen der Familie und ihren eigenen Wünschen nach Qualifizierung verorteten und versuchten, eigene Vorstellungen umzusetzen. Die Briefe erlauben auch Inneneinsichten der Familienmitglieder. Während der christliche Glaube und eine christliche Erziehung mitausschlaggebend für Aufenthalte in Deutschland waren, wurde Deutschland insbesondere in seiner Staatsform als demokratische Republik kritisch gesehen, eine Einschätzung, die die Hälbichs mit anderen Siedlerfamilien teilten. Mit anderen Siedlernachkommen hatten die jungen Hälbichs ferner die Verunsicherung der Zugehörigkeit durch die erlebte Mobilität gemein: So problematisierten sie etwa das Wiederankommen in Südwestafrika.

Das Fallbeispiel zeigt, dass gerade an den Stellen, wo Heyn dicht an ihrem Material arbeitet, ihre theoretischen Konzepte und methodischen Zugänge überzeugen. Die Studie hätte daher ihren Fokus ruhig stärker auf die Arbeit mit den zum Großteil von Heyn erstmals bearbeiteten Quellen legen können und etwas an den teilweise recht langen Bezügen zur bisherigen Forschung sparen können, zumal diese vereinzelt aktueller hätten sein können.2 Insgesamt gelingt es der Autorin, eine Vielzahl verschiedener Aspekte kolonialer Jugendarbeit in Deutschland und der hiesigen Bildungsaufenthalte deutscher Siedlernachkommen zu beleuchten. Sie analysiert die Aushandlung verschiedener sozialer Kategorien und kann Beziehungen und Abgrenzungen zwischen Kolonie und Metropole ebenso aufzeigen wie zwischen den Generationen. Es ist das nicht genug zu betonende Verdienst der Studie, die Kategorie Jugend in die Geschichte des deutschen Kolonialismus eingeführt und dieses Forschungsfeld erstmals systematisch und umfassend bearbeitet zu haben.

Anmerkungen:
1 In fruchtbarer und differenzierter Weise gebündelt in: Deutsches Historisches Museum (Hrsg.), Deutscher Kolonialismus. Fragmente seiner Geschichte und Gegenwart, Darmstadt 2016.
2 Heyn gesteht ein, dass ihre Arbeit bspw. von der Rezeption von Rüdiger Ahrens, Bündische Jugend. Eine neue Geschichte 1918–1933, Göttingen 2015 profitiert hätte, vgl. S. 17.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/