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Titel
Governing Bodies. American Politics and the Shaping of the Modern Physique


Autor(en)
Moran, Rachel Louise
Reihe
Politics and Culture in Modern America
Erschienen
Anzahl Seiten
224 S.
Preis
€ 42,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Stefan Scholl, Institut für deutsche Sprache, Mannheim

In den letzten Jahren hat sich rund um die historische Erforschung der Themen Ernährung, Gesundheit und Körper ein innovatives Forschungsfeld aufgetan.1 Von den Forschungsprojekten, die an den Universitäten Erfurt, Leipzig, Hamburg und München angesiedelt sind, können in nächster Zeit für diesen Themenkomplex wichtige Erkenntnisse erwartet werden.2 Eine Folie, an der sich kommende Arbeiten kritisch orientieren können, liefert die hier zu besprechende Studie von Rachel Louise Moran. Mit geografischem Fokus auf die USA untersucht sie staatliche Initiativen und Projekte, die sich im 20. Jahrhundert auf die körperliche Figur („physique“), das Körpergewicht und die Fitness der Bürger/innen richteten.

Für Moran sind diese Projekte Teil einer Geschichte des advisory state. Dieser zeichnete sich durch die Entwicklung und Anwendung von Regierungstechniken der Quantifizierung, der (Be-)Werbung und der freiwilligen Mitarbeit aus sowie durch das grundlegende Ziel, Bürger/innen zu erwünschten Verhaltensweisen zu bewegen, die sich nicht gesetzlich regeln ließen. Der advisory state funktionierte laut Moran subtil, aber machtvoll. Außerdem agierte er in hohem Maße gender-, class- und race-spezifisch, was an mehreren Stellen der Arbeit verdeutlicht wird. Obwohl sich bei dieser Beschreibung des advisory state die Einbeziehung von analytischen Konzepten wie „Gouvernementalität“ oder „Biopolitik“ geradezu aufdrängt3 – und nach Ansicht des Rezensenten durchaus zum besseren Verständnis seiner Funktionsweise beigetragen hätte –, bleibt dies in der gesamten Arbeit aus. Das überrascht speziell angesichts der leider in einer Endnote (Endnote 36, S. 9) versteckten Information, dass für die Regierungstechniken des advisory state die Freiheit und Freiwilligkeit der Bürger/innen konstitutiv war.

Die figur- und gewichtsbezogenen Projekte des advisory state verfolgt Moran in sechs Kapiteln vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis in die 1970er-Jahre. Dabei bietet sie in der Einleitung zwar ein chronologisches Narrativ an, allerdings werden in den einzelnen Kapiteln recht unterschiedliche Projekte, Institutionen und Diskurse eher schlaglichtartig in den Blick genommen. Das gestaltet die Lektüre zwar höchst abwechslungsreich, erschwert jedoch insgesamt ein Erkennen der Zusammenhänge zwischen den einzelnen untersuchten Beispielen.

Im Zentrum des ersten Kapitels stehen Genese und Verbreitung kombinierter Größen- und Gewichtstabellen für Kinder und damit einhergehende Vermessungspraktiken in den ersten beiden Dekaden des 20. Jahrhunderts, die im staatlichen Children’s Bureau ihr institutionelles Zentrum besaßen. Ausgangspunkt war die Sorge vor den gesundheitlichen Folgen von Unterernährung für Säuglinge und Kleinkinder. Basierend auf „wissenschaftlichen Erkenntnissen“ über Nahrungsmittelaufnahme, Körpergröße und -gewicht sowie Gesundheitszustand führte das 1912 gegründete Children’s Bureau in Zusammenarbeit mit Frauenvereinen groß angelegte Vermessungsaktionen (Baby Weeks 1916 und 1917, Children’s Year 1919) durch, die zum einen der Datensammlung dienten, zum anderen jedoch die Bedeutung von regelmäßiger und richtig ausgeführter Messung auf Grundlage von „wissenschaftlichen“ Tabellen im Bewusstsein der Bevölkerung, vor allem von Frauen, verankern sollte. Die Aktivitäten des Children’s Bureau etablierten so die Praxis des Vermessens als „intime Technik“ des advisory state (S. 22).

Im zweiten Kapitel erfolgt ein zeitlicher und thematischer Sprung in den Kontext der Weltwirtschaftskrise und die Aktivitäten des Civilian Conservation Corps. Diese New-Deal-Organisation bot männlichen, mehrheitlich „weißen“ Wohlfahrtsempfängern auf freiwilliger Basis Aufenthalte in Arbeitscamps an, meist in den weiten Waldgebieten des westlichen Teils der USA. Entscheidend ist nun laut Moran, dass in der Funktionsweise dieser Camps wie auch in der zeitgenössischen Außendarstellung die körperliche Wiederherstellung – vor allem die Gewichtszunahme – mit der Wiederherstellung von Männlichkeit, Arbeitsfähigkeit und staatsbürgerlicher Eignung verbunden wurde. In Sprache (Werbung für das Corps, Selbstzeugnisse von Teilnehmern) und Visualisierungen (etwa Fotos) bildete die in den Camps erfolgende Gewichtszunahme und „Härtung“ des Körpers den Kontrastpunkt zu einer als verweichlichend und abhängig machend beschriebenen Sozialhilfe.

Gegenüber der luziden Argumentation der ersten beiden Kapitel fällt das dritte Kapitel, in dem die Rolle von Gewichtsmessungen bei der Einberufung zum Militärdienst im Zweiten Weltkrieg untersucht wird, etwas ab. Das liegt zum einen daran, dass angesichts von lediglich zwei bis drei Prozent Untauglichkeitserklärungen wegen Unter- oder Übergewicht (S. 65) die Relevanz dieses Phänomens nicht wirklich deutlich wird, auch wenn Moran betont, dass diese zwei bis drei Prozent einen überproportionalen Anteil der medialen Aufmerksamkeit auf sich zogen. Zum anderen jedoch erschließt sich nicht, warum die Gewichtsmessungen bei der militärischen Musterung mehrfach als besonders „aggressive“ körperpolitische Intervention bezeichnet werden (z.B. S. 65f., S. 80), wurde in den vorausgehenden Kapiteln doch auf die Popularität und Verbreitung dieser Praxis in der Zwischenkriegszeit hingewiesen.

Weitaus überzeugender gelingt dann wieder das vierte Kapitel. Während die Bedeutung körperlich-sportlicher Bewegung in der Darstellung bis hierhin wenig expliziert wurde, richtet Moran das Augenmerk nun auf die Aktivitäten des 1956 unter Eisenhower gegründeten President’s Council on Youth (später: Physical) Fitness. Dabei bewegt sie sich weitgehend auf bereits ausgetretenen Pfaden, speziell was die Entstehungsgeschichte des Council anbelangt sowie dessen Problemstellung, die Bevölkerung vor dem Hintergrund von nationalen Besorgnisdiskursen des Kalten Krieges zu körperlicher Bewegung zu animieren, dabei aber jeglichen Zwang abzulehnen.4 Im Ergebnis geriet der Council zum Paradebeispiel des advisory state, da er sich weitgehend auf Vernetzungsarbeit, die Bereitstellung von Informationsmaterial und das Durchführen von Werbekampagnen spezialisierte. Über ältere Darstellungen hinaus geht Morans Analyse da, wo sie tiefer auf die einzelnen Produkte (Radiospots, Filme, Lieder) des Council eingeht (S. 100ff.), wo sie die geschlechtsspezifische Dimension des neuen Fokus auf weibliche Fitness offenlegt (S. 104ff.) und wo sie den Zusammenhang von Fitness und Arbeitsfähigkeit betont (S. 108ff.).

Die letzten beiden Kapitel bilden schließlich eine gelungene thematische Einheit. Sie behandeln die Projekte und Diskurse, die sich seit Mitte der 1960er-Jahre bis Ende der 1970er-Jahre um Unter- und Fehlernährung (meist „schwarzer“) unterer Bevölkerungsschichten entfalteten. Gegen das Bild abgemagerter und unterernährter „schwarzer“ Kinderkörper aufgrund mangelnder Lebensmittelversorgung, das durch Reisen der Senatoren Robert Kennedy und Joseph Clark ins Mississippi-Delta im Frühjahr 1967 sowie besonders die Filmdokumentation Hunger in America (1968) transportiert wurde, setzten Demokraten aus den Südstaaten das Narrativ mangelnder Verantwortung speziell „schwarzer“, übergewichtiger Mütter. Das Problem – sofern die medial übermittelten Bilder nicht per se angezweifelt wurden – sei kein soziales, das durch wohlfahrtsstaatliche Maßnahmen gelöst werden könne, sondern ein individuelles beziehungsweise ethnisches. An diese Deutung schlossen die Republikaner an, die 1969 mit Nixon wieder ins Weiße Haus einzogen. Das Women, Infants, and Children-Programm, das Anfang der 1970er-Jahre aufgelegt wurde, war Moran zufolge weniger ein Wohlfahrts- als ein Gesundheitsprogramm, das materielle Zuwendungen an die Bereitschaft band, an Bildungsmaßnahmen zu Ernährung- und Konsumverhalten sowie regelmäßigen Kontrollen teilzunehmen. Möglich war diese direkte und bevormundende körperpolitische Intervention, weil die meist als „schwarz“ und arm adressierte Klientel sowieso als irrational und unverantwortlich wahrgenommen wurde. Sehr deutlich wird in diesem Teil erneut die Verknüpfung ethnischer, sozialer und geschlechtlicher Zuschreibungen in den untersuchten Beispielen.

Morans Buch bietet insgesamt eine facettenreiche Sammlung körperbezogener staatlicher Projekte, die in den einzelnen Kapiteln äußerst anschaulich und argumentativ überzeugend behandelt werden. Was jedoch Gewichtsmessungsaktionen von Babys zu Beginn des 20. Jahrhunderts mit der Verknüpfung von Maskulinität, Unabhängigkeit und körperlicher Figur im Civilian Conservation Corps des New Deal und dies wiederum mit der Zuschreibung unverantwortlicher Ernährungsgewohnheiten an „schwarze“ Unterschichtenmütter thematisch vereint, bleibt zu diskutieren. Für Moran bilden die körperpolitischen Charakteristika des advisory state die Klammer. Dieser bleibt aber zum einen theoretisch unterbestimmt. Zum anderen erscheint es begründungsbedürftig, warum für die einzelnen chronologischen Phasen gerade diese Beispiele ausgewählt wurden. Zu fragen wäre in weiteren Untersuchungen, ob es sich beim advisory state um eine spezifische US-amerikanische Erscheinung handelte oder ob dessen Regierungstechniken nicht auch in anderen Ländern verbreitet waren beziehungsweise mitunter eine transnationale Dimension besaßen. Ebenso wäre die Rolle nicht-staatlicher Akteure in den diversen Körperprojekten zu spezifizieren, die bei Moran aufgrund des Themenzuschnitts lediglich an einzelnen Stellen Erwähnung finden.

Anmerkungen:
1 Detlef Briesen, Das gesunde Leben. Ernährung und Gesundheit seit dem 18. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2010; Jürgen Martschukat, Fitness and Fatness. Über Körper und Ausnahmezustände in der Zeitgeschichte, in: Hannah Ahlheim (Hrsg.), Gewalt, Zurichtung, Befreiung? Individuelle „Ausnahmezustände“ im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 2017, S. 186–200; Nina Mackert, „I want to be a fat man / and with the fat men stand“ – U.S.-Amerikanische Fat Men’s Clubs und die Bedeutungen von Körperfett in den Dekaden um 1900“, in: Body Politics 2, 3 (2014), S. 215–243; dies., Feeding Productive Bodies: Calories, Nutritional Values and Ability in Progressive Era US“, in: Peter-Paul Bänziger / Mischa Suter (Hrsg.), Histories of Productivity: Genealogical Perspectives on the Body and Modern Economy, London 2016, S. 117–135; Maren Möhring, Essen, in: Netzwerk Körper (Hrsg.), What Can a Body Do? Praktiken des Körpers in den Kulturwissenschaften, Frankfurt am Main 2012, S. 47–56; Stefanie Büttner / Laura-Elena Keck, „The Great American Love Affair“. US-amerikanische Kochbücher der 1960er- und 1970er-Jahre, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 15 (2018), S. 143–158, <https://zeithistorische-forschungen.de/1-2018/id=5568> (10.10.2018).
2 Forschungsverbund „Ernährung, Gesundheit und soziale Ordnung in der Moderne: USA und Deutschland“, <https://www.ego.soziologie.uni-muenchen.de/index.html> (10.10.2018); „The eating self: a history of the political in the United States from the 19th to the 21st century“, <https://www.uni-erfurt.de/index.php?id=23359&L=1;L=1> (10.10.2018). Siehe außerdem den Blog „Food, Fatness and Fitness. Critical Perspectives“, <http://foodfatnessfitness.com> (10.10.2018).
3 Vgl. hierzu etwa Jürgen Martschukat, The Pursuit of Fitness. Von Freiheit und Leistungsfähigkeit in der Geschichte der USA, in: Geschichte und Gesellschaft 42 (2016), S. 409–440; Stefan Scholl, Einleitung: Biopolitik und Sport in historischer Perspektive, in: ders. (Hrsg.), Körperführung. Historische Perspektiven auf das Verhältnis von Biopolitik und Sport, Frankfurt am Main 2018, S. 7–40.
4 Vgl. Shelly McKenzie, Getting Physical: The Rise of Fitness Culture in America, Lawrence 2013, S. 14–53; Jeffrey Montez de Oca, „‚The muscle gap‘: physical education and US fears of a depleted masculinity“, in: Stephen Wagg / David L. Andrews (Hrsg.), East Plays West. Sport and the Cold War, London 2007, S. 123–148.

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