T. Vonyó: The Economic Consequences of the War

Cover
Titel
The Economic Consequences of the War. West Germany's Growth Miracle after 1945


Autor(en)
Vonyó, Tamás
Reihe
Cambridge Studies in Economic History - Second Series
Erschienen
Anzahl Seiten
XX, 272 S., 27 b/w Abb., 26 Tab.
Preis
£ 75.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Streb, Abteilung Volkswirtschaftslehre, Universität Mannheim

Es hat die Zeitgenossen und auch nachfolgende Generationen immer wieder erstaunt, dass das in Trümmern liegende Westdeutschland nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg in der Lage war, so schnell in den Kreis der führenden Industrienationen zurückzukehren. So betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf zwischen 1948 und 1960 über neun Prozent und zwischen 1961 und 1973 immer noch mehr als zufriedenstellende 3,5 Prozent. Über die maßgeblichen Ursachen dieses „Wirtschaftswunders“ wird unter Wirtschaftshistorikern schon lange gestritten. Eine insgesamt durchaus diverse Gruppe eint die Vorstellung, dass der anhaltende Wirtschaftsaufschwung erst durch einen grundlegenden Strukturbruch möglich gemacht wurde. Zu den angeführten Diskontinuitäten gehören der institutionelle Wandel im Zuge der Einführung der Sozialen Marktwirtschaft1, die als Amerikanisierung bezeichnete Übernahme überlegener amerikanischer Produktionstechnologien und Managementtechniken2 und die Zerschlagung von vormals mächtigen Lobbyverbänden durch die Nationalsozialisten.3 Eine andere Gruppe deutet das „Wirtschaftswunder“ hingegen als erwartungsgemäße Rückkehr auf den langfristigen Wachstumspfad der (west-)deutschen Wirtschaft und damit als einen Rekonstruktionsprozess, der an längerfristige Kontinuitäten anschloss, die durch den Zweiten Weltkrieg und die Besatzungszeit nur kurzfristig unterbrochen worden waren.4 Dieser Auffassung zufolge ist das Wachstumspotential einer Volkswirtschaft langfristig determiniert, weil es auf Elementen beruht, die nur sehr langsam verändert werden können. Hierzu zählten im Nachkriegsdeutschland der weitgehend intakte Kapitalstock, die ausgereiften Produktionstechnologien und die eingeübten wirtschaftlichen Verhaltensweisen und Vorlieben.

Tamás Vonyó rechnet sich selbst zu den Vertretern dieser Rekonstruktionshypothese, die er im vorliegenden Buch durch „quantitative substance“ (S. XV) zu unterstützen sucht. Zusammenfassend entwickelt er drei prägnante Hypothesen: Erstens war seiner Auffassung nach der Mangel an städtischem Wohnraum infolge der Kriegszerstörungen der alles entscheidende Engpassfaktor der westdeutschen Nachkriegswirtschaft, weil dieser zunächst verhinderte, dass die Millionen von Vertriebenen und Flüchtlingen ihre ländlichen Erstaufnahmegebiete wieder verließen und in die Städte zogen, wo die Industriearbeitsplätze auf sie warteten. Als die städtische Wohnungsnot schrittweise behoben wurde, begann Ende der 1940er-Jahre eine Phase vorwiegend extensiven Rekonstruktionswachstums durch Reallokation der Arbeitskräfte. Produktivitätssteigerungen im Zuge von Innovationen und einer Verbesserung des Humankapitals spielten hingegen erst ab der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre eine größere Rolle. Zweitens hatte die nationalsozialistische Außenwirtschaftspolitik offensichtlich keine nachhaltige Veränderung der deutschen Außenhandelsstruktur bewirkt. Westdeutsche Exporteure kehrten nach 1948 schnell auf ihre schon seit dem Kaiserreich bevorzugten Auslandsmärkte zurück, auch wenn Großbritannien seine Rolle als größter Markt für deutsche Maschinenbauprodukte an die USA verlor. Das westdeutsche „Exportwunder“, das nach Einschätzung von Vonyó zumindest in den frühen 1950er-Jahren einen wichtigen Antriebsmotor des Wirtschaftswunders bildete, war demnach ebenso der Rekonstruktion unterworfen wie die übrige Volkswirtschaft auch. Ein echter Strukturbruch erfolgte hier erst durch die Einführung des europäischen Binnenmarktes, der die deutschen Exporte insbesondere in das bisher vernachlässigte Frankreich umlenkte. Drittens vollzog sich nach Ansicht von Vonyó das “Wirtschaftswunder” nicht wegen, sondern trotz der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik der Regierungen Konrad Adenauer und Ludwig Erhard, die in weiten Bereichen durch staatlichen Interventionismus geprägt blieb. Er kritisiert insbesondere die fehlgeleitete staatliche Investitionspolitik, welche trotz vorhandener Überkapazitäten die immer noch politisch einflussreichen Sektoren Bergbau und Landwirtschaft subventionierte.

Seinem Anspruch, die Debatte um die Ursachen des deutschen Wirtschaftswunders mit besseren Daten und genaueren empirischen Analysen zu bereichern, wird Vonyó umfassend gerecht, wenn er zur Begründung seiner These über den Zusammenhang von Wohnraummangel, Arbeitskräfteallokation und Wirtschaftswachstum umfangreiche Datensätze zur regionalen deutschen Entwicklung neu zusammenstellt und überzeugend auswertet. Diese Untersuchungen beruhen auf langjährigen Forschungsarbeiten, die er in mehreren Aufsätzen insbesondere im European Review of Economic History veröffentlicht hat. Die statistischen Übersichten zur geografischen Struktur des deutschen Außenhandels sind hingegen vorwiegend deskriptiver Natur und bestätigen zum Teil Beobachtungen, die bereits von anderen Autoren gemacht wurden, wie beispielsweise die durch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft verursachten Handelsverzerrungen.5

Die Ausführungen zur bundesdeutschen Wirtschaftspolitik geben schließlich einen kurzen qualitativen Überblick über die zentralen ordnungspolitischen Weichenstellungen der Wirtschaftswunderjahre, die von Vonyó in ihrer Gesamtwirkung als dirigistisch und nicht als ordoliberal bewertet werden. Diese zusammenfassende Einschätzung hängt natürlich maßgeblich davon ab, wie die einzelnen wirtschaftspolitischen Maßnahmen beurteilt und in der Gesamtschau gewichtet werden. Beispielsweise deutet Vonyó die Einführung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) im Jahr 1957, das man auch als wichtige liberale Reform im ehemaligen „Land der Kartelle“ interpretieren könnte, als Fehlschlag, wobei seine Aussage, Kartelle seien in Deutschland erst 1998 verboten worden (S. 188), inhaltlich nicht nachzuvollziehen ist. Unabhängig von diesem Detail bleibt die geringschätzende Interpretation des GWB der Wirtschaftswunderjahre im Kern ein persönliches Werturteil des Autors, das im Gegensatz zu seiner Hypothese über die verzögerte Reallokation der Arbeitskräfte keinen rigorosen quantitativen Tests unterzogen wird. Und selbst wenn das GWB tatsächlich weitgehend wirkungslos geblieben wäre, wäre immer noch zu fragen, wie dieses ordnungspolitische Versagen im Rahmen der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik gegenüber anderen Maßnahmen wie etwa der partiellen Preisfreigabe im Jahr 1948 genau zu gewichten ist. Es liegt genau an diesen methodischen Untiefen, dass es den Fürsprechern der Sozialen Marktwirtschaft nicht schwerfällt, das von Vonyó stark kritisierte Gesamtpaket wirtschaftlicher Maßnahmen der Nachkriegszeit als gelungene Umsetzung einer liberalen Wirtschaftsordnung zu deuten.

Mark Spoerer hat darauf hingewiesen, dass die Entwicklung der französischen und westdeutschen Volkswirtschaften in den Nachkriegsjahrzehnten trotz unterschiedlicher wirtschaftspolitischer Ansätze (Planification versus Soziale Marktwirtschaft) überraschend ähnlich verlief.6 Vonyó würde zur Erklärung dieser Beobachtung vielleicht einwenden, dass die Unterschiede zwischen den beiden Nachbarländern in der wirtschaftspolitischen Praxis gar nicht so groß waren. Vielleicht waren die Rekonstruktionskräfte in Westeuropa aber auch so stark, dass sie sich ganz unabhängig von konkreter Wirtschaftspolitik entfalteten, sobald nur die wesentlichen Grundlagen einer Marktwirtschaft wie Privateigentum und Marktpreisbildung wieder hergestellt waren. Zusammenfassend leistet das vorliegende Buch einen wichtigen und unbedingt lesenswerten Beitrag zur Debatte um die Ursachen des Wirtschaftswunders.

Anmerkungen:
1 Michael von Prollius, Deutsche Wirtschaftsgeschichte nach 1945, Göttingen 2006.
2 Ludger Lindlar, Das missverstandene Wirtschaftswunder. Westdeutschland und die westeuropäische Nachkriegsprosperität, Tübingen 1997.
3 Mancur Olson, Aufstieg und Niedergang von Nationen. Ökonomisches Wachstum, Stagflation und soziale Starrheit, Tübingen 1985.
4 Werner Abelshauser, Wirtschaft in Westdeutschland 1945-1948. Rekonstruktion und Wachstumsbedingungen in der amerikanischen und britischen Zone, Stuttgart 1975.
5 Herbert Giersch / Karl-Heinz Paqué / Holger Schmieding, The Fading Miracle. Four Decades of Market Economy in Germany, Cambridge 1992, S. 166.
6 Mark Spoerer, Wohlstand für alle? Soziale Marktwirtschaft, in: Thomas Hertfelder / Andreas Rödder (Hrsg.), Modell Deutschland. Erfolgsgeschichte oder Illusion?, Göttingen 2007, S. 28–34.

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