S. Haas u.a. (Hrsg.): Die Zählung der Welt

Cover
Titel
Die Zählung der Welt. Kulturgeschichte der Statistik vom 18. bis 20. Jahrhundert


Herausgeber
Haas, Stefan; Schneider, Michael C.; Bilo, Nicolas
Reihe
Studien zur Alltags- und Kulturgeschichte 32
Erschienen
Stuttgart 2019: Franz Steiner Verlag
Anzahl Seiten
261 S., 25 SW-Abb.
Preis
52,00 €
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Anne Lammers, Berlin

Vor mittlerweile 15 Jahren veröffentlichte Adam Tooze einen programmatischen Aufsatz zur kulturhistorischen Einordnung von Wirtschaftsstatistiken.1 Er zielte darauf ab, die Konstruktionsleistung solcher Statistiken (z. B. Definition „der“ Volkswirtschaft), die für ihre Erstellung zugrunde gelegten Messeinheiten (z. B. Geldwerte), die in ihnen eingeschriebenen Ordnungsvorstellungen, ihre öffentliche Wahrnehmung sowie ihre (grafischen) Repräsentationsformen zu hinterfragen. Diese Aspekte bettete Tooze in die Geschichte der Personen und Institutionen ein, die an der Datenproduktion beteiligt waren. Stefan Haas, Michael C. Schneider und Nicolas Bilo haben nun einen Sammelband herausgegeben, der ausdrücklich an Tooze anknüpft (S. 9) und über Wirtschaftsstatistiken hinausreicht.

Der Band umfasst verschiedenste Themen, die von der Medizinalstatistik in Deutschland über die Schul- und Bildungsstatistik in der Schweiz und in China bis zur internationalen Wirtschaftsstatistik reichen. Das breite Spektrum resultiert aus einer Tagung an der Georg-August-Universität Göttingen im September 2015. Die vielfältigen Forschungsperspektiven reflektieren zudem die Interessen und Vorarbeiten der Herausgeber. Michael C. Schneider hat die Statistik in einem Buch von 2013 vor allem aus Sicht der sie produzierenden preußischen Behörde untersucht.2 Stefan Haas (und auch sein Mitarbeiter Nicolas Bilo) haben sich eingehender mit den sinngebenden Praktiken der preußischen Verwaltung3 sowie mit der Frage nach Wirklichkeitsbeschreibungen der Vergangenheit durch Historiker und Historikerinnen beschäftigt.4

Die Herausgeber fassen „Statistiken als eine spezifische Wissenspraxis […], die Phänomene ordnet und kategorisiert, um damit Vergleiche sowie Ein- und Ausgrenzungen zu ermöglichen“. In dieser Lesart sind Statistiken „Bestandteile komplexer Entscheidungsfindungs- und Kommunikationsprozesse“ (S. 11). Datensammlungen seien auch ein zentrales Medium öffentlicher Debatten, die dadurch „zunehmend in statistischen Bahnen gedacht“ wurden und konsequenterweise „einen wirklichkeitskonstruierenden Charakter“ erhielten (ebd.). Ähnlich wie Tooze im erwähnten Aufsatz legen Bilo, Haas und Schneider das Hauptaugenmerk auf die in den Statistiken eingeschriebenen Informationen, Kategorien und Ordnungsvorstellungen, ohne den weiteren institutionellen Rahmen außer Acht zu lassen (v. a. S. 12ff.). Der Erkenntnisgewinn der einzelnen Beiträge hängt besonders davon ab, ob es den Autoren und Autorinnen gelingt, diese Aspekte gemeinsam zu behandeln – die staatliche bzw. institutionelle historische Statistik auf der einen, die Frage nach Wirklichkeitskonstruktionen auf der anderen Seite.

Die Aufsätze von Christa Kamleithner und Theresa Wobbe nehmen eine solche übergreifende Perspektive ein. Kamleithner legt nicht nur überzeugend dar, dass Akteure aus der Hygienebewegung und Stadtplanung die Einrichtung und die frühen Arbeiten des Statistischen Bureaus von Berlin prägten, sondern zeigt darüber hinaus, dass die Statistiken sowie die aus ihnen entwickelten Stadtpläne, Tabellen und Diagramme für das Bild der Stadt im ausgehenden 19. und frühen 20. Jahrhundert maßgeblich waren. So fanden spezifische, auf die Hygienebewegung zurückzuführende Denkordnungen Eingang in die Politik und schlugen sich in baulichen Modernisierungsverfahren nieder. Am Beispiel der internationalen Standardisierungsbemühungen um die Kategorie „Erwerbstätigkeit“ kann Wobbe nachzeichnen, dass die International Labour Organization (ILO) wesentlich dazu beitrug, eine sich besonders auf Frauen negativ auswirkende „Klassifikation von Arbeit“ (S. 169) zu etablieren: Insbesondere Hausarbeit wurde nicht in die Kategorie der „gainful occupations“ eingeordnet (S. 168) und galt damit als unproduktiv. Dass die ILO überhaupt ein so großes Interesse an einheitlichen Kategorisierungen entwickelt hatte, hing wiederum mit ihrer Hauptaufgabe zusammen, über „die Generierung von Wissen zur internationalen Regulierung der Arbeitsbedingungen durch soziale Normen“ beizutragen (S. 163) und langfristig das Profil des Völkerbundes bzw. später der Vereinten Nationen als „centre of calculation“ zu schärfen (S. 171).

Wolfgang Göderle erweitert die bisherige, reichhaltige Forschung zur Volkszählung von 1869 im Habsburgerreich durch eine detaillierte Analyse der hinter dieser Art von Statistik liegenden Datenerhebungsprozesse. Er stellt dar, inwiefern eine spezifische Beziehung von Verwaltung und Wissenschaft „als Ressourcen für einander“ (S. 121 – in Anknüpfung an Mitchell G. Ash) bewirkte, dass „ein neues bürgerliches Weltbild“, in diesem Fall künstlerisches und wissenschaftliches Denken, in die Sphäre der Administrativstatistiker einzog, die „noch wenige Jahre zuvor ausschließlich der Pragmatik des neoabsolutistischen Machterhalts vorbehalten war“ (S. 117). Anhand der Einführung des „Zählungskatasters“ kann er zeigen, wie sich mediale Repräsentationen wandelten und – immer dann, wenn die Kataster leer blieben – „ein Negativbild des zu vermessenden Staates“ konstruiert wurde (S. 114). Im Sinne der Forschungsperspektive des Sammelbandes hätte man sich noch gewünscht, mehr darüber zu erfahren, inwiefern das Selbstverständnis der datenerhebenden Personen auch Einfluss auf die Kategorien des Zensus gehabt hat.

Einige weitere Beiträge orientieren sich stärker an system- und staatstheoretischen Ansätzen. Sie geben einen Einblick in verschiedene historische Kontexte, in denen Statistik als Regierungswissen neue Institutionen hervorbrachte (Axel C. Hüntelmann zur Medizinalstatistik) oder als administrative Selbstkontrolle fungierte (Christina Rothen und Thomas Ruoss zur Schulstatistik). Franziska Hupfer problematisiert anhand der schweizerischen Niederschlagsstatistik (1860–1920) die symbiotische Beziehung zwischen Naturwissenschaften und Nationalstaat (S. 74). Diese Beiträge enthalten eine Fülle von Informationen über die institutionellen, personellen oder politischen Bedingungen der Datenerhebung. Sie behandeln die Frage, wie „Statistiken Realität repräsentieren“ (S. 10), jedoch eher am Rande. So hätte man sich bei Hupfer eine Vertiefung ihrer Eingangsthese gewünscht, dass sich „ein komplexer Konstruktionsprozess und nicht etwa ein Akt simpler Repräsentation“ vollzieht, wenn „Naturwirklichkeit in Tabellen, Grafen oder Diagramme transformiert wird“ (S. 73f.). Die spannende Beobachtung, dass die meteorologische Datenerfassung den „Eindruck eines natürlich zusammengehörigen Raumes“ erweckt und „die ideologische Konstruktion der Nation“ unterstützte (S. 74), wird im weiteren Verlauf des Aufsatzes nur ansatzweise anhand der Statistiken untersucht. Den Beitrag von Rothen und Ruoss nennen die Herausgeber eingangs als Beispiel für die verschiedenen Klassifizierungsmöglichkeiten der Bildungsstatistik (S. 16). Aber hier geht es vor allem um „den Aufstieg von Statistik in der Schulverwaltung“, also um „unterschiedliche Funktionen“ der Statistik, nicht um die Klassifikationen selbst (S. 123).

An der Gesamtkonzeption des Bandes ließe sich bemängeln, dass Titel und Inhalt nicht gut aufeinander abgestimmt sind. Der griffige Obertitel „Die Zählung der Welt“ suggeriert, es gehe entweder um historische Versuche, die Welt als globalen Zusammenhang statistisch zu erfassen, oder aber darum, möglichst viele Weltteile und die in ihnen stattfindenden, thematisch vielfältigen, lokalen oder nationalen Statistikproduktionen zu untersuchen. Leider wird weder das eine noch das andere konsequent umgesetzt: Zwar will sich der Band „nicht auf eine westliche Binnenperspektive verengen“ (S. 10), aber sowohl die Einleitung als auch sieben weitere Beiträge nehmen diesen Blickwinkel ein und beschäftigen sich mit Deutschland, der Schweiz, Österreich oder den USA. Dass zwei weitere Aufsätze mit China eine nicht-westliche Weltregion einbeziehen (Hajo Frölich, Andrea Bréard), ist lobenswert und spannend, rechtfertigt aber den „globalen“ Titel nicht. Die internationale Statistik wird immerhin an zwei Stellen thematisiert (Theresa Wobbe, Martin Bemmann), wobei auch hier die westliche Perspektive im Vordergrund steht. Abgesehen von der geografischen Einordnung passt der Untertitel nicht so recht zu den Beiträgen im Band: Auf dem Cover sind drei Jahrhunderte angekündigt, während die Einleitung den Untersuchungszeitraum auf das 19. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts festlegt (S. 10).

Ferner fällt die dominierende nicht-inklusive Sprache auf. Das generische Maskulinum wird auch in der Einleitung nicht hinterfragt oder kommentiert. Zudem fehlt jeder Hinweis auf die Statistik als ein Instrument, mit dem Geschlechterbeziehungen historisch erst konstruiert und verfestigt wurden. Dabei zeigt Theresa Wobbes Text diese Zusammenhänge eindrücklich. An einigen Stellen hätte es darüber hinaus eine sprachliche Bearbeitung gebraucht, um unverständliche Satzkonstruktionen aufzulösen (z. B. S. 121). Die anfängliche Freude über das in einigen Aufsätzen abgedruckte Bildmaterial wird punktuell dadurch getrübt, dass dieses nicht sinnvoll in den Fließtext eingebunden ist. An einer Stelle unterbricht ein Faksimile gar ein eingerücktes längeres Zitat (S. 229).

Trotz dieser Kritikpunkte bleibt positiv hervorzuheben, dass sowohl die Einleitung als auch die Beiträge manche Denkanstöße und spannende Erkenntnisse bieten. So verweisen die Herausgeber zu Recht auf das Forschungsdesiderat hinsichtlich der „zivile[n] Wissensproduktion durch Zahlen“ (S. 12; „zivil“ ist hier in Abgrenzung vom Staat und seiner Bürokratie gemeint, nicht speziell vom Militär). Sie ziehen eine Verbindungslinie zur heutigen Praxis privater Großunternehmen wie Facebook und Google, massenweise Daten über ihre Nutzer und Nutzerinnen zu sammeln (S. 15). Einige Beiträge legen explizit Wert darauf, bisher wenig beachtete oder aufgrund einer schwierigen Quellenlage kaum zugängliche Bereiche der Statistikproduktion zu erschließen. Heinrich Hartmann etwa fragt in seinem Aufsatz über „Behavioralismus als statistisches Paradigma der Modernisierung“ danach, wie „[s]tatistische Kategorien […] zu Elementen werden, mit denen sich Individuen identifizieren“ (S. 237). Hajo Frölich interessiert sich für die – intendierte wie nichtintendierte – Selbstbeschreibung der Befragenden (in diesem Fall die schwache chinesische Zentralregierung im frühen 20. Jahrhundert) durch die Statistiken. Wer Anregungen für neue Themen im Bereich der Kulturgeschichte der Statistik sucht, wird in diesem Sammelband fündig werden, auch wenn eine einheitliche Forschungsperspektive nicht ganz durchgehalten wurde.

Anmerkungen:
1 Adam Tooze, Die Vermessung der Welt. Ansätze einer Kulturgeschichte der Wirtschaftsstatistik, in: Hartmut Berghoff / Jakob Vogel (Hrsg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivwechsels, Frankfurt am Main 2004, S. 325–351.
2 Michael C. Schneider, Wissensproduktion im Staat. Das königlich preußische statistische Bureau 1860–1914, Frankfurt am Main 2013.
3 Stefan Haas, Die Kultur der Verwaltung. Die Umsetzung der preußischen Reformen 1800–1848, Frankfurt am Main 2005.
4 Ders. / Clemens Wischermann (Hrsg.), Die Wirklichkeit der Geschichte. Wissenschaftstheoretische, mediale und lebensweltliche Aspekte eines (post-)konstruktivistischen Wirklichkeitsbegriffes in den Kulturwissenschaften, Stuttgart 2015.