Cover
Titel
Stalin. The Court of the Red Tsar


Autor(en)
Sebag Montefiore, Simon
Erschienen
Anzahl Seiten
720 S.
Preis
£9.99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Andreas Oberender, Britz

Wie war Stalin als Privatmann? Wie funktionierte seine persönliche Herrschaft im Zentrum der Macht? Wie gestaltete sich das alltägliche Leben der Parteiführer hinter den hohen Kremlmauern und auf den sorgsam abgeschirmten Datschen? Diesen Fragen widmet sich der britische Autor Simon Sebag Montefiore in einem vielhundertseitigen Buch, das die Jahre von 1929 bis 1953 umspannt. Er hat sich nicht damit begnügt, als Quellen lediglich bereits bekannte Memoirenwerke zu benutzen (u.a. von Swetlana Alliluewa, N.S. Chruschtschew, A.I. Mikojan und M. Djilas); er hat auch die unveröffentlichten Tagebücher von Ekaterina Woroschilowa und Stalins Schwägerin Marija Swanidze herangezogen und außerdem einige noch lebende Kinder von Politbüromitgliedern der Stalinzeit interviewt. Darüber hinaus hat er in mehreren russischen Archiven Dokumente sowohl privaten als auch politischen Charakters ausgewertet, die größtenteils erst in den letzten Jahren zugänglich gemacht wurden. Montefiore bezeichnet das Sozialgefüge, das den sowjetischen Diktator umgab, als „Hof“, ohne jedoch den Begriff mit methodischem Gehalt zu füllen. Aber wie es sich für einen richtigen Hof gehört, agieren neben Stalin, dem Herrscher, ein missratener Kronprinz (Vasilij Stalin), ein böser, hinterlistiger Großwesir (Berija), ein fleißiger Minister (Molotov), Dandys und schneidige Kavaliere (Mikojan, Woroschilow), Possenreißer und Zwerge (Chruschtschew, Eschow), kriecherische, willfährige Höflinge (Kaganowitsch, Malenkow), allerlei dienstbare Geister im Halbdunkel (Stalins Kanzleichef Poskrebyschew; Wlasik, der Chef seiner Leibgarde) und nicht zuletzt eine Schar flatterhafter Hofdamen, vor allem Stalins Schwägerinnen und die Frauen der Politbüromitglieder.

Montefiore rückt seinen Helden energisch zu Leibe, blickt verstohlen in die Schubladen ihrer Schreibtische, schaut in ihre Geldbörsen, blättert in ihren Liebesbriefen und Krankenakten, ja er folgt ihnen sogar bis ans Ehebett. Im Dienste an seinen Lesern legt er ein Höchstmaß an investigativer Neugierde und Indiskretion an den Tag und befleißigt sich beim Erzählen einer locker plaudernden Schwatzhaftigkeit. Seine Feder weiß er wendig zu führen. Souverän und leichthändig bindet er seine archivalischen Trouvaillen mit Auszügen aus bereits wohlbekannten Memoiren, mit Kreml-Klatsch, allerlei pikanten Gerüchten und den Reminiszenzen seiner hochbetagten Informanten zu einem vielfarbigen Bukett aus Geschichten, Geschichtchen, Anekdoten und Schnurren zusammen. Er leistet damit einen ungemein wertvollen Beitrag zur Erforschung des Stalinismus aus der Schlüssellochperspektive. Sein romanhaftes, in Großbritannien und Amerika enthusiastisch akklamiertes Buch ist ein Glanzstück boulevardesker Geschichtsschreibung und wird gewiß all jene Osteuropa-Historiker mit grimmig nagendem Neid erfüllen, deren Werke allenfalls von fünf Rezensenten gelesen werden.

Rücksichtsvollerweise erspart Montefiore seinen Lesern pedantische Diskussionen über die Glaubwürdigkeit seiner Zeugen und der von ihm benutzten Memoiren; das würde den Genuß beim Lesen dieses klar als pageturner angelegten Buches nur schmälern. Der albanische KP-Chef Enver Hoxha, ein redseliges Lästermäulchen, wird doch bestimmt nicht gelogen haben, als er in seinen Erinnerungen schrieb, Mikojan habe ihm einmal anvertraut, er und Molotow hätten Stalins Ermordung geplant (S. 647). In sein voluminöses, aus 58 kurzen und überschaubaren Kapiteln bestehendes Buch lässt Montefiore geschickt Elemente der Seifenoper einfließen. Mehrfach bedient er sich der Cliffhanger-Methode, um Spannung aufzubauen. Am Ende von Kapitel 9 wird ein mysteriöser Anschlag auf Stalins Leben verübt. Um zu erfahren, was es damit auf sich hat, muss der Leser eine Seite weiterblättern. Da können gestandene Historiker noch etwas lernen!

Szenische Passagen und zahlreiche Dialoge in direkter Rede sorgen für eine kurzweilige Lektüre. Vor den Augen des Lesers entsteht ein buntes Panorama aus Geburtstagsfeiern, Trinkgelagen, Urlaubsreisen, Liebeshändeln, Intrigen und Morden. Gelegentlich geht es auch um Politik. Banales menschliches Glück und grausliche menschliche Depraviertheit existieren an Stalins Hofe einträchtig nebeneinander. Distanz zu seinen Protagonisten kennt Montefiore nicht; selbst intimste Dinge zerrt er zum Gaudium seiner Leser ans Tageslicht, mögen sie auch noch so unappetitlich sein. Hat sich da jemand ein paar Tricks und Kniffe von der britischen yellow press abgeschaut? Hier ein paar Kostproben.

1935 entscheidet sich Stalin spontan zu einem Besuch der neueröffneten Moskauer Metro. Der Herrscher kann aber nicht zu dem bereitstehenden Zug gelangen, weil seine auf dem Bahnsteig zahlreich versammelten „Fans“ (sic!) ihn jubelnd umlagern und bedrängen. Stalins vierzehnjähriger Sohn Vasilij wird von dem Trubel so mitgenommen, dass man ihm Beruhigungstropfen verabreichen muss (S. 180f.). Eines Tages sagt Stalin zu seiner eleganten, lebenslustigen Schwägerin Ewgenija Alliluewa („Schenja“): „Du kleidest dich immer so hübsch. Du solltest Mode entwerfen und den sowjetischen Frauen beibringen, wie sie sich zu kleiden haben.“ (S. 164) Donnerwetter! Wer hätte gedacht, dass der Mann, der mit einer einzigen Unterschrift Tausende Menschen in den Tod schicken konnte, Zeit und Muße findet, um sich über das Erscheinungsbild der Sowjetfrau Gedanken zu machen?

Übrigens fällt Schenjas Mann Pawel Alliluew einer Intrige Berijas zum Opfer, weil seine Frau sich nicht von dem dicklichen Mingrelier, diesem unersättlichen Wüstling und „sexual predator“, begrapschen lassen wollte (S. 294f.). Immer wieder stellt Montefiore sein feines, untrügliches Gespür für weltgeschichtlich bedeutsame Augenblicke unter Beweis: Als Stalin im August 1943 seinen einzigen Besuch an der Front unternimmt, überkommt ihn bei der Fahrt durch die weißrussischen Wälder ein dringendes menschliches Bedürfnis. Nirgends eine Toilette. Das Gelände zu beiden Seiten der Straße möglicherweise vermint. Was tun? „Der Oberkommandierende ließ vor den Augen seiner Begleiter die Hosen herunter und verrichtete sein Geschäft auf der Straße.“ (S. 465) So menschlich haben wir den woschd (Führer) noch nie erleben dürfen!

Liebevolle Aufmerksamkeit widmet Montefiore vor allem dem Zusammenleben der Parteiführer, ihrer Ehefrauen, Kinder und Dienstboten im Kreml. Das ist eines der wenigen Themen, zu dem er wirklich Neues mitzuteilen hat. Wie ein freigebiger georgischer Feudalherr versorgt Stalin seine handverlesenen Gefolgsleute, die ihren Herrn vertraulich „Koba“ oder „Soso“ nennen dürfen, mit Wohnungen, Datschen, Autos, Geldgeschenken und Pensionen. Politisches Zusammenwirken und privates Miteinander sind mehr oder weniger deckungsgleich (S. 39-44). Hannah Arendt würde sich im Grabe umdrehen, wenn sie lesen müsste, dass Stalins Autorität in diesem Kreise (zunächst) nicht auf Zwang und Gewalt beruhte, sondern auf seinem „Charme“ und seiner Leutseligkeit (S. 49ff.) Auch Stalin ist Ehemann und Vater; an seiner Seite lebt Nadeschda Alliluewa, von Stalin Nadja, Tatka oder Tatotschka genannt.

Man tut Stalin und seinen Mitstreitern ein großes Unrecht an, wenn man in ihnen nur fanatische Kommunisten und brutale Gewalttäter sehen will. Denn obgleich der Aufbau des Sozialismus nur mit harter Hand gelingen kann, leisten sich die Parteiführer den Luxus eines gemütlich-behaglichen Privat- und Familienlebens. Dank Montefiore werden sie schlagartig sympathischer und gewinnender, wenn man sie beim Feiern, im Urlaub oder auch auf dem Krankenlager beobachten kann. Vor allem in ihren Briefen zeigen sie sich von einer sehr menschlichen Seite, die ihnen missgünstige Historiker bisher nicht zubilligen wollten, weil sie Stalin und die Mitglieder des Politbüros in einer unfairen, bedauerlichen Verengung des Blickwinkels nur mit Gewalt und Terror assoziierten. So konnte das natürlich nicht ewig weitergehen.

Sicher wird kein Leser so hartherzig sein, dass er nicht eine gewisse Rührung empfindet, wenn er Stalin den fürsorglichen Ehemann und Vater erlebt, wie er sich in seinen Briefen offenbart: „Grüß Dich, Tatka! Ich schicke Dir ein paar Zitronen. Wie geht’s den Kindern?“ Auch in der Brust Molotows, des unermüdlichen Aktenfressers, schlägt ein weiches, empfindsames Herz, dem glutvolle Liebesschwüre nicht fremd sind. Genosse Molotow an Genossin Molotowa: „Polinka, Schatz, meine Liebe! Ich kann es nicht verbergen, dass ich manchmal von Sehnsucht nach Deiner Nähe und Deinen Liebkosungen überkommen werde. Ich bin mit Leib und Seele dein.“ (S. 41)

Doch dieses beschauliche Kreml-Idyll zerbricht bald an der rauen Wirklichkeit. Wenn nur das Volk nicht so renitent wäre! Wieviel Ungemach könnte es sich ersparen, wenn es sich den leidenschaftlichen Weltverbesserern und Menschenbeglückern in Moskau nicht immer wieder aufs Neue so hartnäckig widersetzte! Und dann erst die Nörgler und Besserwisser innerhalb der Partei, die nicht mit Stalin an einem Strang ziehen wollen! Zu allem Unglück muss sich Stalin nicht nur mit Oppositionellen und mit Bauern herumplagen, die von den Segnungen der Kollektivierung nichts wissen wollen, sondern auch noch mit seiner lieblosen, emotional unterkühlten, psychisch lädierten und überdies stets kränkelnden Ehefrau, die ihm sogar Eifersuchtsszenen macht, weil Stalin gelegentlich mit anderen Damen „flirtet“. Die ganze Kreml-Familie bemitleidet den Herrscher, weil ihm Nadja nicht die Gefährtin ist, die er in so schwieriger Zeit gebraucht hätte.

Und dann ihr Selbstmord im November 1932! Durfte sie das Stalin antun? Hat sie dadurch nicht eine verhängnisvolle Verdüsterung im Gemüte des Führers bewirkt? Der Leser erschauert bei dem Gedanken, dass die sowjetische Geschichte möglicherweise ganz anders verlaufen wäre, wenn Tatka es nur besser verstanden hätte, ihren Soso glücklich zu machen. Herzzerreißend ist Montefiores Schilderung der Beerdigungsfeierlichkeiten: Stalin, verzweifelt über den „Verrat“ seiner Frau, vergießt heiße Tränen am Sarge der Verblichenen und ruft aus: „Sie hat mich verkrüppelt, sie hat mich wie eine Feindin verlassen!“ Behutsam fühlt sich Montefiore in die Psyche seines leidgeprüften Helden ein: „Daß Nadja Stalin verließ, verwundete und demütigte ihn. Seine Brutalität, seine Missgunst, seine Kälte und sein Selbstmitleid verdoppelten sich.“ (S. 107-112) Dazu ein ominöser, beklemmender Kommentar aus dem Munde des greisen Kaganowitsch: „Nach 1932 war Stalin ein anderer.“

Das bis hierher Gesagte ist allenfalls die Spitze des Eisberges. Bald setzt denn auch ein blutiger Reigen aus Parteisäuberungen, Schauprozessen und Liquidierungen einzelner Personen ein, der den größten Teil des Buches ausmacht. Historiker werden viel Bekanntes und wenig Neues in dieser chronique scandaleuse finden. Mühelos füllt Montefiore hunderte Seiten mit dem Referieren von Gewalttaten und Morden, die in Stalins Umkreis ihren Ausgang nehmen. Leicht verliert der Leser den Überblick über all die Unglücklichen, die dem Misstrauen und der Paranoia des Herrschers zum Opfer fallen. Selbst Stalins Kanzleichef Poskrebyschew, die Unterwürfigkeit in Person, sieht seine junge, hübsche Frau auf Nimmerwiedersehen in den Folterkellern des NKWD verschwinden. Die eigentlichen Schurken in Montefiores epischem Werk sind jedoch die aufeinander folgenden Leiter des NKVD: Jagoda, Eschow und Berija. Genüsslich verweilt Montefiore vor allem bei den (angeblichen) sexuellen Ausschweifungen dieser Männer. Jagoda sammelt Frauenunterwäsche, pornografische Filmchen und – gottlob nicht näher beschriebene – sex toys; Eschow, ein zwergwüchsiger Priapos, stellt Frauen und Männern gleichermaßen nach; Berija lässt sich nächtens durch Moskau chauffieren und fängt unbescholtene Sowjetbürgerinnen von der Straße weg, um sie dann zu vergewaltigen.

Eingestreut in diese grellbunte (Un-)Sittengeschichte des Stalinismus findet sich der eine oder andere Absatz zu politischen Geschehnissen; auch der Zweite Weltkrieg wird (unnötig) breit abgehandelt. Stalins Geburtstage und seine Urlaubsaufenthalte im Süden bilden wiederkehrende Fixpunkte in diesem durchaus unterhaltsamen Buch, dessen unleugbare Schwäche darin besteht, dass es beständig hin und her schwankt zwischen einem Enthüllungs- bzw. Schauerroman und einer ansatzweise seriösen Kollektivbiografie der Stalinschen Führungsmannschaft und ihres von Privilegien und Gewalt geprägten Alltagslebens. Historiker sollten die Hardcoverausgabe benutzen, denn in der Paperbackausgabe fehlt der sehr umfangreiche Anmerkungsapparat mit den Nachweisen der benutzten Archivalien und sonstigen Quellen.

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