Titel
Zeitgeist und Bildung. Das Nachkriegsabitur an Gymnasien in Hildesheim, Weimar und Erfurt (1947-1950)


Autor(en)
Oyen, Stefan A.
Reihe
Beiträge zur Historischen Bildungsforschung 30
Erschienen
Köln 2005: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
569 S
Preis
Rezensiert für die Historische Bildungsforschung Online bei H-Soz-Kult von:
Sonja Häder, Historische Erziehungswissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin

Die sehr umfangreiche Arbeit greift ein Thema der Zeitgeschichte auf und vereint zugleich zwei konzeptionelle Vorzüge: sie ist vergleichend angelegt (Ost-West) und sie beschränkt die Darstellung nicht auf die üblichen Epochenzäsuren. Die Zeit der Weimarer Republik und des Nationalsozialismus wird, auch wenn der Schwerpunkt der Analyse in der deutschen Nachkriegsgeschichte liegt, ausführlich mit berücksichtigt (S. 27-102). Diese Erweiterung wurde schon deshalb nötig, weil der Autor zur „Mentalität der so genannten Flakhelfergeneration“ (Einband) vordringen möchte und dafür die Frage nach den „Lebensvorerfahrungen“ der Abiturienten (S. 23) bzw., im Falle der Lehrer, nach den Nachwirkungen eines unter anderen Bedingungen erworbenen „gemeinsamen Verständnishorizont[es]“ (Jeismann, S. 21) stellen will. Neben dieser mentalitätsgeschichtlichen Fragerichtung will Oyen zugleich das Gymnasium als Institution in den Blick nehmen und nach seinen humanistischen Traditionen und Beharrungskräften, zugleich seinen Veränderungen angesichts gesellschaftlicher Wandlungen fragen.

Für ein solches Programm bietet sich eine Lokalstudie fraglos an. Ausgewählt wurden dafür zwei Hildesheimer Gymnasien, Andreanum und Josephinum, bzw. die Schiller- und Humboldt-Oberschule aus Weimar und Erfurt. Neben archivalischen Quellen zur Bildungs- und Schulgeschichte sind es vor allem Deutschaufsätze und so genannte Bildungsgänge, die der Autor als historische Quelle nutzt.

Gegliedert ist die Arbeit in acht Kapitel, wobei die drei letzteren eine nicht weiter kommentierte Dokumentation von Fotografien und Schriftstücken, das Quellen- und schließlich das Literaturverzeichnis enthalten. Das erste Kapitel ist als Einleitung angelegt, stellt knapp die Quellen vor, enthält einige begriffliche und methodische Überlegungen, erläutert den Untersuchungszeitraum, um sich dann ausführlicher der Explikation der Fragestellungen zu widmen. Es verwundert an der Stelle allerdings, dass die Aufsätze und Lebensläufe, die als Quellen im Weiteren eine so große Rolle spielen, hier nur mit wenigen Sätzen bedacht werden. Einige quellenkritische Überlegungen zu dieser Art von Selbstzeugnissen und ihrem spezifischen Erkenntniswert wären sicher schon hier hilfreich gewesen.

Das zweite Kapitel will den Zeitgeist von Weimarer Republik und Nationalsozialismus einfangen und in seinen Auswirkungen auf die Mentalität der „Trägerschichten des humanistischen Bildungsbegriffs“ (S. 28) diskutieren. Gelöst werden soll die Aufgabe im Wesentlichen durch die Darstellung einzelner Biographien und zweier exemplarischer Konflikte. Der Leser erfährt hier etwas über die Verschiedenheit der Geisteshaltungen und politischen Einstellungen von Schulmännern und Studienräten aus Hildesheim und Thüringen, zugleich wird die fortdauernde Wirkung des bereits eingangs diskutierten „gemeinsamen Verständnishorizonts“ deutlich. Das ist im Einzelfall informativ, bleibt aufs Ganze gesehen aber bruchstückhaft. Das dürfte zum einen an der schmalen Quellengrundlage liegen, zum anderen auch an der sehr deskriptiven Darstellungsweise. Dichter und geschlossener in der Darstellung präsentieren sich das dritte und vierte Kapitel, in denen der primär ins Auge gefasste Untersuchungszeitraum, die Jahre zwischen Kriegsende und 1950, ins Zentrum der Überlegungen rückt. Oyen unterteilt die Nachkriegsjahre in zwei Phasen, die erste umfasst die ersten beiden Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges, die zweite die Jahre nach 1947 bis 1950. Markiert werden die Zäsuren durch gesamtgesellschaftliche (auch außenpolitische) Entwicklungen, zudem durch entsprechende bildungspolitische Weichenstellungen, nicht zuletzt aber auch durch einen Wandel der Haltungen und Mentalitäten der mit der Schule befassten Personen.

Die Ausgangslage war in Ost und West zunächst in vielerlei Hinsicht sehr ähnlich. Die „Zusammenbruchgesellschaft(en)“ in SBZ und westlichen Besatzungszonen wiesen zahlreiche Gemeinsamkeiten auf, die der Verf. auch ausführlich schildert: zerstörte Städte, materieller Mangel, Versorgungsnotlagen, Krankheiten, Vaterlosigkeit, Verhaltensprobleme bei den Heranwachsenden u. a. m. Ungeachtet dieser Ähnlichkeiten und der Konzentration der Menschen auf überlebensnotwendige Aufgaben zeigten die Entwicklungen in Ost und West allerdings schon zu diesem frühen Zeitpunkt, dass Grundsatzfragen wie die Schulreform in den einzelnen Besatzungszonen sehr unterschiedlich angegangen wurden. Knapp zusammengefasst ging es im Westen um die Wiederherstellung des gegliederten Schulsystems und damit um die Reaktivierung des traditionellen Gymnasiums; in der SBZ hingegen sollte die Einheitsschule Gestalt annehmen. Damit war die „Frage nach der Zukunft neuhumanistischer Bildung in der historischen Form der traditionellen Institution Gymnasium“ (S. 172) in der SBZ (Thüringen machte trotz der teils eigenständigen Versuche unter dem für Volksbildung zuständigen Minister Walter Wolf hier keine Ausnahme) sehr rasch ad acta gelegt. In Hildesheim indes, gestützt durch starke katholische Kräfte, obsiegte die Institution Gymnasium. Um nun jenseits dieser bekannten Fakten zu „Deutungs- und Verhaltensmustern im Umgang mit dem herrschenden Zeitgeist“ und „individuellen bzw. gruppenspezifischen Mentalitätsstrukturen“ (S. 233) vorzudringen, analysiert Oyen Deutschaufsätze, die anlässlich des Abiturs 1947 von den Schülern der genannten Einrichtungen in Hildesheim, Weimar und Erfurt verfasst wurden. Die Ergebnisse sprechen eine beredte Sprache. Auf beiden Seiten zeigte sich Rat- und Fassungslosigkeit im Hinblick auf die Ursachen des NS-Regimes, das Volk erscheint verführt, und (Mit-)Verantwortung wird kaum reflektiert. Demokratische Ideale im Westen tauchen gleichermaßen im Gewand platter Bekenntnisformeln auf wie im Osten die stalinistischen Phrasen (S. 255 ff.). So kann Oyen resümieren, dass humanistische wie christliche Bildung weder in der Diktatur zwangsläufig den widerspenstigen Philologen erzeugt hatten, noch waren sie nach 1945 ein hinreichendes „Instrument“ (S. 169) geworden für die Selbstbefragung auf Seiten sowohl der Lehrer als auch (speziell der älteren) Schüler. Damit kann der Verfasser für die NS- wie die Nachkriegszeit auch „keine signifikante Korrelation zwischen humanistischem Habitus und humanitärer (antitotalitärer, emanzipierter) politischer Einstellung“ ausmachen (S. 510 f.).

Überwogen 1947 aufgrund ungeteilter Erfahrungen noch viele Gemeinsamkeiten im Sinne eines „gesamtdeutschen Abiturs“ (S. 515), lässt die Betrachtung der weiteren Schulentwicklung in Ost und West bis in das Jahr 1950 hinein bereits vermuten, dass die Deutschaufsätze aus diesem Abiturjahrgang stärker von Unterschieden sowohl gegenüber 1947 als auch im Ost-West-Vergleich bestimmt sein werden. In Hildesheim war der Nationalsozialismus als Thema inzwischen ganz in den Hintergrund gerückt, gleichwohl erlebten politische Gegenwartsfragen eine Renaissance (S. 393 ff.). Statt der Berufung auf den Humanismus traten nunmehr stärker materialistische, auf den Wiederaufbau der jungen Bundesrepublik ausgerichtete Deutungsmuster in den Vordergrund. Wirkmächtig aber immer noch der „gemeinsame Verständnishorizont“ der Gymnasiallehrerschaft, der sich u. a. äußerte im Festhalten am Bildungshumanismus, an bestimmten Prinzipien und Erkenntniswegen. Im Übrigen, so kann der Verfasser zeigen, unterrichtete inzwischen fast das gleiche Personal an den beiden höheren Schulen Hildesheims wie vor 1945. Im Zuge der Entnazifizierung Entlassene waren zurückgekehrt und zeugten von der „wiederhergestellten Kontinuität“. Oyen macht dafür allein pragmatische Gründe verantwortlich, der „philologische Sachverstand“ der einst als belastet eingestuften Lehrer habe in den Behörden den Ausschlag gegeben (S. 397). „Für eine gewollte Indoktrination fanden sich fast keine Anzeichen“ – so das Resümee des Verfassers für die Hildesheimer Schulen (S. 398). Ein gänzlich anderes Bild liefert die Beschäftigung mit der Schulentwicklung in der SBZ. Demokratische Versuche wurden von den neuen Machthabern sehr rasch unterbunden, die Diskussionen um die Entwicklung der Schule durch rigide getroffene Struktureingriffe eingeebnet, und der weitreichende Personalaustausch tat ein Übriges. Spätestens seit 1947 waren die Anzeichen der Stalinisierung unübersehbar geworden. Auch das Bildungssystem stand unter dem ungeteilten Machtanspruch der SED. Das ist inzwischen durch etliche bildungshistorische Arbeiten zur SBZ/DDR auf der Basis neuer Quellen hinreichend belegt. Insofern ist es hier vor allem der auf den einzelnen „Ort“ schulischen Handelns gerichtete Blick, von dem detaillierte neue Erkenntnisse erwartet werden können. Der Zugriff auf die Schulen fand seine Widerspiegelung u. a. auch in den 1950 für das Abitur verfassten Deutschaufsätzen, die eher an Ausarbeitungen zur Gegenwartskunde erinnerten und sich nicht literarischen Themen sondern den Theorien des Klassenkampfes und der Entwicklung der Arbeiterbewegung widmeten (S. 485). Dennoch fanden sich an den untersuchten Schulen in Weimar und Erfurt – ungeachtet der generellen bildungspolitischen Linie der SED und ihrer Spuren im schulischen Alltag – zugleich Hinweise auf den begrenzten Arm der Macht. Erfurt und Weimar waren Kulturstädte mit langer Tradition, es herrschte an den Schulen ein liberales geistiges Klima, das Personal war gut qualifiziert und „Bildung genoss einen höheren Stellenwert“ (S. 443). Man kann diesen Befund sicher interpretieren im Sinne von Residuen alter Bildungstraditionen und der Kraft lokaler Besonderheiten, zugleich ließe sich aber auch die Frage nach der für das Bildungssystem der SBZ/DDR insgesamt kennzeichnenden Spannung von Bildungsoptimismus und einem der Aufklärung verpflichteten Weltbild einerseits und parteilicher Indoktrination andererseits stellen. Solchen systematischen Fragen geht Oyen jedoch kaum nach. Insofern wundert es nicht, wenn er abschließend bilanziert, „die Entdemokratisierung ging mit dem Abbau des Bildungshumanismus einher“ (S. 511) und man könne „ohne Weiteres“ sprechen „von einem Niedergang humanistischer Schulkultur an den DDR-Oberschulen“ (S. 528). Die Gleichzeitigkeit des Verschiedenen scheint mir in diesen einfachen Zuschreibungen nicht eingefangen zu sein. Das mag seinen Grund in dem zurückgestellten Interesse für systematische Fragen haben, zumindest aber für das 5. Kapitel „Ergebnisse und Schlussfolgerungen“ (S. 509 ff.) wären sie von Nöten gewesen. So referiert der Verfasser die Ergebnisse seiner Studie sehr stark im Spiegel des eigenen Materials und kehrt selbst hier immer wieder zurück zu Beschreibungen einzelner Ereignisse. An dieser Stelle hätte man sich stärker analytisch gewichtete Überlegungen und mehr Bezüge zu den aktuellen Diskussionen zur DDR-Geschichte gewünscht, etwa auch zur Debatte um die „Grenzen der Diktatur“. Ungeachtet dieser Einschränkungen hält die Arbeit, die 2004 am Fachbereich I der Universität Hildesheim als Dissertation angenommen wurde, eine Fülle an Informationen und Anregungen insbesondere für die historische Bildungsforschung bereit.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit der Historischen Bildungsforschung Online. (Redaktionelle Betreuung: Philipp Eigenmann, Michael Geiss und Elija Horn). https://bildungsgeschichte.de/
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