Historikertag 2018: Politikgeschichte

Von
Phillip Wagner, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Besprochene Sektionen:

Whose Security? Concepts and Practices of Security in an Emerging Global Society

Informationskämpfe. Globale Zirkulation und politische Bedeutung von Falschmeldungen und Fakes, 1880 bis 1930

Rassismus seit der „Stunde Null“. Einwanderung und Differenz in Deutschland 1945-2018

Der Kalte Krieg als Chance. Handlungsspielräume im geteilten Berlin

In der Öffentlichkeit gilt der diesjährige Historikertag bereits als eines der politischsten Historikertreffen der letzten Jahre, wenn nicht gar der letzten Jahrzehnte. Die Presse stürzte sich auf das suggestiv anmutende Motto der Tagung, stellte Verbindungen zu den Ereignissen von Chemnitz und dem Erstarken der Alternative für Deutschland her und interpretierte die Münsteraner Konferenz als Kommentar zu den aktuellen politischen Verwerfungen in Deutschland, Europa und den USA. Besonderes Interesse erzeugte auch die Resolution des Verbandes der Historiker und Historikerinnen zu gegenwärtigen Gefährdungen der Demokratie: Zeitungen und Rundfunk kommentierten diese Entschließung umfangreich und gaben Unterstützern und Kritikern die Möglichkeit, ihre Kontroversen öffentlich auszufechten.

War das Interesse an der tagespolitischen Aufladung des Historikertags groß, wurde weit weniger diskutiert, wie mit den verschiedenen Dimensionen des Politischen geschichtswissenschaftlich umgegangen wurde, genauer: welche Impulse von der Tagung für die verschiedenen Segmente der Politikgeschichte ausgingen. Freilich wurde mitunter beschrieben, wie aktuelle politische Auseinandersetzungen im Tagungsprogramm aufgegriffen wurden. Jedoch wurde weit weniger gefragt, inwieweit darüber hinaus politikgeschichtliche Perspektiven diskutiert wurden, die etwa auf die Geschichte der Innen- und Außenpolitik, die Transformation von Politikfeldern, die sich wandelnden Grenzen des Politischen oder die politische Relevanz von Mentalitäten, Wissensbeständen und Verhaltensformen zielen können. Hier noch einmal anzusetzen hat den Vorteil vor dem Hintergrund der Vorträge und Diskussionen den neuesten Stand der Politikgeschichte zu skizzieren sowie mögliche neue Forschungshorizonte zumindest ansatzweise zu identifizieren.

Die Kursivsetzung verrät bereits, dass es vielfach problematisch erscheint, die unterschiedlichen inhaltlichen und methodologischen Debatten unter der Kategorie einer vermeintlich einheitlichen Politikgeschichte zu subsummieren. Denn spätestens seit den kulturgeschichtlichen Turns der letzten Dekaden hat sich der Gegenstandsbereich der Politikgeschichte zunehmend verflüssigt. Neben die klassischen Themen der Politikgeschichte sind in den letzten Jahren neue Fragestellungen hinzu getreten, die auf die politische Relevanz von Symbolen und Kommunikation, die Dynamiken der (De-) Politisierung von Themen und Problemen sowie die historisch variablen Konturen des Politischen zielen. Das spiegelte auch der Historikertag wider, der (bekanntlich) keine Rubrik der „Politikgeschichte“ kannte, aber den Rahmen für eine Fülle von Panels darstellte, die im weiten Sinne politikhistorische Forschungsfragen thematisierten.

Dieser Beitrag widmet sich ausgewählten Sektionen, die entweder aktuelle politikhistorische Debatten gebündelt oder auf Desiderata der Forschung hingewiesen haben. Die Beispiele kommen aus der Neueren und Neuesten sowie der Zeitgeschichte. Der Querschnittsbericht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit; auch werden keine Gesamtzusammenfassungen der jeweiligen Sektionen angestrebt.

Zahlreiche Sektionen des Historikertages, etwa zur Politik der Staatsbürgerschaft oder zu 1968 in Westdeutschland, griffen etablierte politikgeschichtliche Forschungsdebatten auf und zielten auf ihre Erweiterung. In diesen Kontext fällt auch die von ECKART CONZE (Marburg) und BEATRICE DE GRAAF (Utrecht) organisierte Sektion, die sich mit Sicherheit einem der politischen Schlüsselbegriffe des 19. und 20. Jahrhunderts annäherte. Denn die historischen Dynamiken der Ver- und Entsicherheitlichung verweisen stets auf die Transformation von politischen Machtverhältnissen. Die Sektion zielte darauf, dass zuerst für die nationale Geschichte entwickelte und überwiegend erprobte Forschungsparadigma der Sicherheitsgeschichte mit Fragestellungen der internationalen und Globalgeschichte zu verknüpfen. Das bedeute gleichermaßen, den Wandel der Sicherheitskonzepte in Bezug zur Geschichte des Imperialismus und zu den Konjunkturen der Globalisierung zu setzen, ebenso wie das westliche Bias der Sicherheitsforschung zu überwinden, wie Conze in seinem Eröffnungsvortrag unterstrich. Die Vorträge versuchten dieses Ziel unterschiedlich einzulösen. Leitmotiv aller Beiträge war, dass in den Auseinandersetzungen über Sicherheit stets die Legitimität kolonialer Herrschaft verhandelt wurde.

Das verdeutlichte als erstes OZAN OZAVCI (Utrecht), der die inter-imperiale Intervention in den syrischen Bürgerkrieg 1860 untersuchte. Er fokussierte auf eine internationale Kommission, die nach dem Ende der Kampfhandlungen mit Erlaubnis der osmanischen Regierung eingerichtet wurde. Diese Institution entwarf unter anderem Pläne für eine neue Verwaltungseinheit (Mutasarrifat), die die Region pazifizieren sollte. Der Sprecher interpretierte diese Kommission als eine Agentur zur Herstellung von Sicherheit, wobei er hervorhob, dass die Vertreter der westeuropäischen Imperialmächte in dieser Institution Sicherheit mit jeweils unterschiedlichen Konnotationen als ein exklusiv westliches Konzept verstanden, dass den „unzivilisierten“ Bewohnern Syriens überzustülpen war.

Die Konflikte, die aus der Kollision westlicher und außereuropäischer Sicherheitsvorstellungen resultierten, standen im Mittelpunkt des Vortrags von ANDREA WIEGESHOFF (Marburg), die die Reaktionen der US-amerikanischen Regierung auf die Pest- und Choleraepidemien auf Hawaii und den Philippinen um 1900 untersuchte. Sie zeigte, dass die US-amerikanische Regierung diese Krankheiten als „asiatische“ Probleme externalisierte und damit die lokale Bevölkerung stigmatisierte. Umgekehrt zogen jedoch die eingesessenen Eliten die Effektivität der Washingtoner Interventionen in Zweifel. Die Kontroversen um die Bekämpfung von Pest und Cholera verweisen somit nicht nur auf rivalisierende Sicherheitserwartungen, sondern auch auf die Fragilität kolonialer Ordnung.

STEFFEN RIMNER (Utrecht) drehte danach die Perspektive um und fragte nach der Entstehung sicherheitspolitischer Vorstellungen jenseits der westlichen Metropolen. So verdeutlichte er, dass China zwischen 1870 und 1920 nicht nur Spielball westlicher Großmächte war, sondern eigene Konzepte einer transnationalen Sicherheitspolitik entwickelte und teilweise trotz Widerstand der westlichen Großmächte verwirklichte. So setzte beispielsweise Peking eine offizielle Untersuchung über die Ausbeutung von chinesischen Arbeitern (Kulis) in der damaligen spanischen Kolonie Kuba mit der Unterstützung der USA gegen Madrid durch und half somit dabei die Arbeitsbedingungen auf den dortigen Plantagen zu skandalisieren.

Die Rolle internationaler Institutionen für die Herstellung und Legitimierung von Sicherheit beleuchtete HUBERTUS BÜSCHEL (Groningen) am Beispiel des Internationalen Gerichtshof in Den Haag und der dort ausgetragenen Kontroverse über die Unabhängigkeit von Namibia in den 1960er-Jahren. Namibia war 1966 unabhängig geworden, jedoch sah Südafrika das Land weiterhin als Mandatsgebiet an. Die Kritiker Südafrikas brachten den Fall nach Den Haag, wo sie das Vorgehen des Apartheidstaats brandmarkten und es zur Gefahr für die globale Sicherheit stilisierten. Die Richter am Internationalen Gerichtshof entschieden trotzdem, dass die Oberhoheit Südafrikas über Namibia legitim war. Büschel zeigte, dass diese Auseinandersetzungen auch Kontroversen darüber darstellten, welches Verständnis von Sicherheit für die Legitimierung von postkolonialer Staatlichkeit fungieren könne.

Welche neuen Fragehorizonte ermöglicht eine internationale oder gar globale Sicherheitsgeschichte? Eine der Lehren dieser Sektion bestand darin, gezeigt zu haben, dass eine erweitere Sicherheitsgeschichte neues Licht auf die Konfliktgeschichte des Imperialismus und der Dekolonisierung werfen kann, wenn sie untersucht, inwieweit Auseinandersetzungen über die Legitimität der westlichen Vorherrschaft in der Welt in Form von Kontroversen über die Semantik von „Sicherheit“ geführt wurden. Dabei gilt es zu fragen, wie die verschiedenen Begriffe der Sicherheit in die Sprachen eingepasst wurden, mit denen der europäische Imperialismus entweder begründet oder geächtet werden sollte. Darüber hinaus wird die Sicherheitsforschung relevant für die Globalgeschichte, wenn sie dazu beitragen kann zu ergründen, wie durch Sicherheitswahrnehmungen, -vorstellungen und -wissen spezifische grenzüberschreitende Verbindung entstanden oder erodierten – wie ROLAND WENZLHUEMER (München) in seinem Kommentar anmerkte. In diesem Zusammenhang erscheint ein weiteres wichtiges Ziel für die zukünftige Forschung, eine Analyse der Praktiken zur Herstellung von Sicherheit und der Handlungsformen für die Herstellung oder Beschränkung grenzüberschreitender Verbindungen zu verknüpfen, um so die Untersuchung von Sicherheitsdiskursen hin zu einer Analyse politischen Handelns zu erweitern.

Neben Sektionen, in denen bereits etablierte Forschungsperspektiven vorgestellt und erweitert wurden, griffen einige Panels innovative Fragestellungen ausgehend von aktuellen Problemlagen und tagespolitischen Debatten auf und transformierten sie in politikgeschichtliche Forschungsperspektiven. Ein Beispiel dafür war die von VOLKER BARTH und MICHAEL HOMBERG (beide Köln) organisierte Sektion. Beide schlossen an aktuelle Debatten um die gleichsam schillernden wie problematischen Begriffe der „Fake News“ oder der „Post-Truth Politics“ an. Indem sie der Frage nachgingen, welche Rolle Falschmeldungen für die außenpolitischen Dynamiken des 19. und 20. Jahrhunderts spielten, zielten sie darauf eines der klassischen Themen der Medien- und Politikgeschichte – die Medialisierung der Politik und die Politisierung der Medien – in neues Licht zu tauchen. In vielfältiger Weise verdeutlichten die Beiträge dieser Sektion, wie sich der Wettbewerb der Agenturen und Redaktionen um den spektakulärsten „Scoop“ sowie die Entstehung neuer Prüftechniken von strittigen Nachrichten in die „Pressekriege“1 der europäischen Großmächte um 1900 einschrieben.

ULRICH BRANDENBURG (Zürich) verdeutlichte als erstes, welche ungewollten Konsequenzen eine Falschmeldung im Zeitalter imperialer und außenpolitischer Konkurrenz haben konnte. Im Zentrum seines Vortrags stand die Berichterstattung französischer, britischer, deutscher und österreichischer Zeitungen 1906 über die vermeintliche japanische Entscheidung den Islam zur Staatsreligion zu machen. Laut Brandenburg waren diese Falschmeldungen mehr als kuriose „Fakes“, weil sie in Europa tiefverwurzelte Ängste vor einem japanisch-muslimischen Bündnis offenbarten und darüber hinaus die deutsch-japanischen Beziehungen belasteten, weil Japan die Deutschen beschuldigte, die Nachricht in Europa verbreitet zu haben.

Auch in YANNIK MÜCKs (Würzburg) Beitrag ging es um die Falschberichterstattung im Kontext imperialer Rivalitäten. Der Referent untersuchte, wie US-amerikanische Meldungen die deutsche Neutralität im spanisch-amerikanischen Krieg in Frage stellten, indem sie über eine vermeintliche militärische Unterstützung für Spanien berichteten und damit den deutschen Konsul in New York zu einem offiziellen Dementi zwangen. Diese Falschmeldungen verweisen zuerst auf deutsch-amerikanische Differenzen; zweitens auf den ökonomischen Druck, der auf den Korrespondenten lastete, in einem ereignisarmen Krieg Sensationsnachrichten zu produzieren; und drittens auf die Nachrichtenketten zwischen den USA, Europa und Asien, die zur Folge hatten, dass amerikanische Blätter der tendenziell antideutschen Berichterstattung Londoner Zeitungen vertrauten und die von ihnen gestreuten Gerüchte übernahmen.

Im Unterschied dazu analysierte DAGMAR HEIßLER (Wien), welche Folgen eine spektakuläre Falschmeldung für die Professionalisierung des Kulturjournalismus hatte. Im Mittelpunkt ihres Vortrags stand die Berichterstattung des Brünner Tagesboten über den angeblichen Fund des ersten Abgusses der Totenmaske Napoleons und bisher unbekannter Briefe des Korsen 1924. Obwohl diese Meldung schnell als Ente entlarvt wurde, hatte sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits in Europa und den USA verbreitet. Heißler zeigte, dass die Falschmeldung nicht nur zu einer gerichtlich geführten Auseinandersetzung darüber führte, wer die Verantwortung für diese Fehlinformation übernehmen sollte, sondern auch eine Überprüfung der Qualitätskriterien des Kulturjournalismus nach sich zog.

Zusammengenommen konnte die Sektion zahlreiche neue Schlaglichter auf die Zusammenhänge zwischen Medialisierung und Politik in den Jahrzehnten um 1900 werfen. Wie in der Diskussion angemerkt wurde, bleibt es zwar fraglich, ob sich in jedem Fall die Fabrikation einer Fehlmeldung rekonstruieren lässt. Weiterführend erscheint es eher am Beispiel der Falschnachrichten und ihrer Aufdeckungen zu studieren, welche außenpolitischen und gesellschaftlichen Dynamiken Medien in unterschiedlichen Kontexten in Gang setzen konnten und welche journalistischen, diplomatischen und kommunikationswissenschaftlichen Prüfverfahren entwickelt wurden, um Inhalte zu verifizieren. Auf diese Weise kann verdeutlicht werden, dass Falschmeldungen eine fundamentale journalistische und politische Herausforderung darstellten – und dies, wie die aktuellen Diskussionen über das Verhältnis von Wahrheit und Politik zeigen, bis in die Gegenwart.

Ein anderes Beispiel dafür, wie tagespolitische Debatten dazu beitragen können, Sensibilitäten für neue im weiten Sinne politikgeschichtliche Forschungsperspektiven zu schaffen, zeigte auch die von NORBERT FREI (Jena) und MARIA ALEXOPOULOU (Mannheim) veranstaltete Sektion. Vor dem Hintergrund der Aufdeckung des Nationalsozialistischen Untergrunds, der Anschläge auf Asylbewerberheime und zuletzt der Ausschreitungen in Chemnitz mag es verwundern, dass die Geschichte des Rassismus sowie des Rechtsradikalismus bisher nur selten zeitgeschichtlich aufgearbeitet wurde. Frei bot dafür in seiner Einleitung verschiedene Erklärungen an: plausibel erscheint seine These, dass eine Thematisierung der Kontinuitäten des Rassismus nur schwer mit dem dominierenden Interpretationsmuster der Bundesrepublik als Erfolgsgeschichte zu vermitteln gewesen sei. Danach zu fragen, inwieweit antisemitisches, rassistisches und im weiten Sinne rechtsradikales Denken und Handeln in der westdeutschen Gesellschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus weiterwirkte, erfordert daher zugleich, Narrative der westdeutschen Zeitgeschichte zu überprüfen.

Welche weiteren Gründe gibt es dafür, dass die Erforschung von Rassismus in Westdeutschland marginal blieb? MANUELA BOJADZIJEV (Lüneburg / Berlin) zeigte in ihrem Vortrag, dass in den Sozialwissenschaften Rassismus lange als unwissenschaftlicher Begriff galt. Zwar werde er inzwischen in Politik und Wissenschaft häufiger genutzt, auch wurden immer wieder wissenschaftliche Programme finanziell gefördert, dennoch sei die Rassismusforschung auch in der Gegenwart nur prekär institutionalisiert. Die Rednerin lieferte dafür verschiedene Erklärungen: Zum einen haben selbst Soziologen, die sich seit den ausgehenden 1960er-Jahren mit dem Thema beschäftigen, Fremdenfeindlichkeit entweder als Phänomen der NS-Vergangenheit oder als Problem postkolonialer Gesellschaften wie Großbritannien externalisiert; zum anderen habe die Politik die Erforschung des Rassismus nur punktuell – etwa nach fremdenfeindlichen Anschlägen – gefördert.

Alexopoulou wählte im zweiten Sektionsvortrag einen anderen Zugriff als ihre Vorrednerin. Sie ging der Frage nach, wie das über Jahrzehnte akkumulierte Wissen über menschliche Ungleichheit die westdeutsche Gesellschaft prägte. Das zeigte sie unter anderem am Beispiel der Kategorien des Ausländers und des Deutschen im bis 1999 gültigen Staatsbürgerschaftsgesetz. Im Vergleich zu anderen Industriegesellschaften zwischen den 1970er- und 1990er-Jahren waren die Einbürgerungsquoten in der Bundesrepublik stets niedrig. Der Referentin zufolge hatte das damit zu tun, dass biologistische Vorstellungen des Deutschen die Praxis des Innenministeriums und der lokalen Behörden bis in die 1990er-Jahre hinein prägten. Diese Deutungsmuster als Rassismen zu analysieren, bietet nachvollziehbarerweise einen analytischen Mehrwert gegenüber Quellenbegriffen wie „Ausländer“- oder „Fremdenfeindlichkeit“, wie die Rednerin abschließend hervorhob.

Während es Alexopoulou um politische und gesellschaftliche Wirksamkeit rassistischer Stereotype ging, stellte MAIK TÄNDLER (Jena) mit der Neuen Rechten eine gesellschaftliche Trägergruppe rassistischen Denkens nach 1945 vor. Der Redner konzentrierte sich dabei auf Henning Eichberg, einem der schillerndsten Publizisten dieser Szene. Er analysierte, wie Eichberg auf Topoi der völkischen und nationalrevolutionären Bewegung zurückgriff und eine Theorie des Ethnopluralismus entwarf, in der er sich für die Bewahrung der kulturellen Identität von vermeintlich homogenen und separierten Völkern einsetzte. Gleichzeitig stellte Tändler dar, wie Eichberg versuchte Verbindungen in die linksalternative Szene zu knüpfen, da er sich dort Unterstützung in seinem Kampf für die Bewahrung der „Heimat“ erwartete.

Ermöglichte diese Sektion punktuelle Einblicke in ein neues Forschungsfeld an der Schnittstelle von Politik-, Ideen- und Wissensgeschichte, brachte die lebhafte Diskussion zahlreiche Anregungen, wie sich die zeithistorische Erforschung des Rassismus weiterführend konzeptionieren lasse. Zuerst wiesen mehrere Redner darauf hin, zu untersuchen, in welchem Verhältnis verschiedene Differenzideologien nach 1945 – insbesondere Rassismus und Antisemitismus – standen. Darüber hinaus zeigte sich in der Aussprache, dass es ratsam wäre, zu untersuchen, wie verschiedene Politikfelder durch rassistische Vorannahmen und Denkfiguren geprägt wurden. Möglich wäre etwa der Fokus auf Bundesbehörden und die in ihnen tätigen Bürokraten, wie etwa Kurt Breull, dem antisemitisch und fremdenfeindlich agierenden Leiter des Ausländerreferats im Bundesministerium des Inneren. Gleichzeitig verdeutlichten die Beiträge auch, regionale und lokale Differenzen im Rassismus ernst zu nehmen, da etwa im Zuge der lokalen Aufnahmepraxis von Flüchtlingen andere Begriffe verwendet und anders argumentiert wurde als in den Bundesbehörden. Wichtig für die weitere Forschung scheint auch die Analyse zu sein, inwieweit sich politische und rassistische Vorannahmen miteinander verquickten. Es gilt jedoch nicht nur die Aufnahme und Behandlung von „linken“ Flüchtlingen in den 1970er- und 1980er-Jahren zu erforschen, wie in der Diskussion mehrfach erwähnt, sondern auch die Registrierung, Unterbringung und Eingliederung von „rechten“ Flüchtlingen der 1940er- und 1950er-Jahre, etwa die ehemaligen NS-Kollaborateure aus Ungarn oder der Ukraine, zu untersuchen. Darüber hinaus sollte der Forschungshorizont über Westdeutschland hinaus geöffnet und die Transformationen rassistischen Denkens und Handelns nach 1945 vergleichend in Europa untersucht werden. Auf diese Weise könnte nicht nur der bundesrepublikanische Fall kontextualisiert werden.

Ebenfalls brachte der Historikertag vormals getrennte Forschungsperspektiven zusammen, die sich in einem weiten Verständnis des Fachs der Politikgeschichte zurechnen lassen, so etwa in den Sektionen zu europäischen jüdischen Intellektuellen und der US-amerikanischen Bürgerrechtsbewegung oder zu Geschlecht und Menschenrechten. Gerade die Kombination von lange getrennten Fragestellungen versprach hier neue Einsichten. Ein solches Panel war auch die von HANNO HOCHMUTH (Potsdam) und KONRAD JARAUSCH (Chapel Hill) organisierte Sektion zur Geschichte Berlins im Kalten Krieg, die Fragestellungen der lokalen und internationalen Geschichte zusammenbrachte. Jarausch verortete das Panel vor allem im Kontext eines zu planenden Museums, das das geteilte Berlin als Symbol des Kalten Krieges präsentieren möchte. Die Beiträge wiesen jedoch über dieses Museumsprojekt hinaus und verdeutlichten die Relevanz einer Perspektive auf den Kalten Krieg, die lokale Kämpfe und hohe Diplomatie in Bezug zueinander setzen kann.

SCOTT KRAUSE (Berlin) beleuchtete in seinem Beitrag die Versuche, das Image West-Berlins im Kalten Krieg als vermeintlichen Vorposten der Freiheit neu zu definieren. Dabei unterstrich er die Rolle von transatlantischen Remigranten wie dem Journalisten und Ministerialbeamten Hans Hirschfeld sowie den aus dem Exil zurückgekehrten Politikern wie Ernst Reuter und Willy Brandt, die zwischen Besatzern und Besetzten vermittelten, die SPD als prowestliche Partei neu erfanden, sowie liberale und antikommunistische Weltdeutungen in den Berliner Diskurs einschleusten und in großen Kundgebungen öffentlichkeitswirksam inszenierten.

STEFANIE EISENHUTH (Potsdam) untersuchte in ihrem Beitrag, wie zwischen den 1960er- und 1980er-Jahre das von Krause analysierte prowestliche Selbstbild Westberlins herausgefordert wurde. Sie widmete sich dabei Auseinandersetzungen zwischen Besatzern, Senat, Zugezogenen sowie der eingesessenen Bevölkerung, die sich an der Frage entzündeten, ob Berlin die US-amerikanischen Truppen noch benötige. Dabei argumentierte Eisenhuth, dass die Debatten über die vermeintliche Unterstützung der Kahlschlagsanierung durch die US-amerikanischen Besatzungstruppen, den Neubau einer Siedlung für amerikanische Soldaten sowie den breiten Protest gegen einen Besuch Ronald Reagans einerseits Kontroversen über die Rechte und Pflichten der Besatzungsmacht sowie andererseits über die Zughörigkeit zur Stadtgesellschaft waren.

Eine Ost- und Westberlin vergleichende Perspektive eröffnete Hochmuth, der in seinem Beitrag analysierte, welche Rolle die Kirchen dabei spielten, politische Handlungsmacht unter den Bedingungen des Kalten Krieges zu generieren. Einerseits präsentierte er das Beispiel einer Kreuzberger Gemeinde, die ab den 1970er-Jahren eine kritische Öffentlichkeit gegenüber der Stadterneuerungspolitik des Senats mobilisierte und Konzepte einer alternativen Sanierung verfocht. Andererseits zeigte er, wie eine Friedrichshainer Gemeinde zur selben Zeit als Dach für eine Ersatzöffentlichkeit fungierte, indem sie Friedensbewegung und oppositionelle Szene zumindest teilweise integrierte.

Der Kommentar von ANDREAS ETGES (München) und die Diskussion verdeutlichten die Stärken dieser neuen Perspektiven auf die Berliner Geschichte im Kalten Krieg. Berlin stellte ein Labor für politische und kulturelle Alternativen zur Politik der Supermächte dar. Gleichzeitig fungierte Berlin als eine Art Brennglas, um auf die Auswirkungen allgemeiner Entwicklungen im Kalten Krieg auf lokaler Ebene zu fokussieren. Schließlich lassen sich die Geschichte Ost- und Westberlins als aufeinander verweisende Spiegelgeschichten darstellen. Doch auch über das Berliner Beispiel hinaus zeigte die Sektion das Potential einer stadtgeschichtlichen Perspektive auf die Ära der Konfrontation der Supermächte, da das Forschungsdesign der Beiträge auf andere ost- und westeuropäische Städte im Zeitalter der Systemkonkurrenz übertragbar erscheint. Auch anhand anderer städtischer Beispiele lässt sich den Wechselwirkungen zwischen lokalen Selbstbildern und Handlungsformen sowie den Prozeduren der Kommunalpolitik auf der einen Seite sowie diplomatischen Entscheidungen und außenpolitischen Prozessen auf der anderen Seite nachspüren. Durch die Einbeziehung lokaler Erfahrungen und Entscheidungen ließe sich dazu beitragen, ein vielschichtigeres und ambivalenteres Bild des Kalten Krieges zu zeichnen.

Der Historikertag in Münster führte sinnfällig die Heterogenität der Themen und Zugänge in der Politikgeschichte vor Augen. Gerade weil Politikgeschichte keine offizielle Rubrik des Historikertages war, verstärkte die Tagung den Trend, die Themen, Methodologien und Skalen der Politikgeschichte weiter auszudifferenzieren. Sicherheit, Falschmeldungen, Rassismus und Kalter Krieg erscheinen als mögliche Gegenstände; diplomatie- , medien- , rechts-, wissens- und stadtgeschichtliche Ansätze stehen nebeneinander; vom globalen bis zum lokalen Level sind zahlreiche Untersuchungsebenen möglich. Demgegenüber wärmte das Historikertreffen die Kontroversen über die Kultur- und Politikgeschichte der 1990er- und 2000er-Jahre nicht neu auf, zugleich wurde aber auch nicht mehr der Anspruch formuliert, eine integrierende Perspektive für die Disziplin – bspw. mit Blick auf das Thema der Tagung, die gespaltenen Gesellschaften – zu definieren. Wenn in Münster gestritten wurde, dann über das grundsätzliche Verhältnis von politischer Positionierung und wissenschaftlichem Ethos, wie die Debatten um die Resolution über die gegenwärtigen Gefährdungen der Politik verdeutlichen. Die Zukunft wird zeigen, inwieweit sich diese Kontroversen auch in neuen Diskussionen über die Themen und Zugänge der Politikgeschichte niederschlagen.

Anmerkungen:

1 Dominik Geppert, Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen 1896-1912, München 2007.