Seit Habermas und Foucault konzentriert sich die Debatte um die Aktualität der Aufklärung auf die Interpretation von Kants Schrift „Was ist Aufklärung?“ von 1784. Von „Was ist Aufklärung?“ liest man dennoch nur die ersten Zeilen: „Sapere aude“ – „habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen“. Demgegenüber entwickelt der Vortrag ein „legere aude“. Denn es ist Zeit, „Was ist Aufklärung?“ endlich wieder zu lesen und zu kontextualisieren, nämlich als eine Streitschrift, die wie kaum eine andere die Theologie ihrer Zeit subvertierte. Kant ist der Erfinder einer alternativen Pastoraltheologie; er hat sämtliche Leitbegriffe dieser typischen Ausrichtung der Aufklärungstheologie – Amt, Kirche, Bekenntnis – einer drastischen Transformation unterzogen. Die Diskussion um „Aufklärung heute“ wird erst wieder relevant, wenn man den religionskritischen Ansatz im Sinn behält, den Kant anhand seiner Auseinandersetzung mit der Macht der Pfarrer entwickelt hat.
Prof. Dr. Philippe Büttgen, Jahrgang 1970, zählt zu den renommiertesten Aufklärungs- und Religionsforschern Frankreichs. Seit 2011 ist er Professor für Religionsphilosophie an der Université Paris 1 Panthéon-Sorbonne.