Vor dem Hintergrund der aktuellen Mehrfachkrise (Pandemie und Lieferengpässe, Ukraine-Krieg, Klimawandel) ist Verzicht ein präsentes Thema geworden. Um etwa den Energiebedarf zu senken, soll – bereits heute oder schon bald – auf alltäglich Selbstverständliches wie eine Raumtemperatur von 24 Grad oder die heiße Dusche verzichtet werden.
Genügsamkeit, Suffizienz, Sparsamkeit oder Konsumverzicht sind gegenwärtig populäre Praktiken und Konzepte, zugleich schließen sie aber auch religions- und kulturhistorisch an traditionsreiche Praktiken der Askese mit spiritueller Lagerung an: Die Idee der individuellen Selbstrücknahme zugunsten eines größeren, übergeordneten oder „höheren“ Anliegens. Vielfältige Formen der mehr oder weniger freiwilligen Selbstbeschränkung, wie sexuelle Enthaltsamkeit, Besitzlosigkeit, Gehorsam, Spendenbereitschaft oder Fasten sind in religiösen Kontexten als spirituell oder ethisch positiv gerahmte Praktiken sowohl propagiert als auch problematisiert worden. Sie weisen jedenfalls weit zurückreichende kulturgeschichtliche Situierungen auf und sind – so eine Ausgangshypothese der geplanten Tagung – in gegenwärtigen Reduktionsdiskursen weiterhin in unterschiedlichem Ausmaß wirksam. Inwiefern kann von säkularen Spiritualitätspraktiken der Sinnsuche gesprochen werden, wenn Menschen heute radikal ihre Ernährung, ihr Mobilitäts- oder Konsumverhalten einschränken? Oder geht es hier überhaupt nicht um spirituelle, sondern ausschließlich um konkrete politische und allenfalls ethische Anliegen?
Bezüge zum Verzicht bewegen sich in einem spannungsreichen Spektrum: Am einen Ende erscheint Verzicht als pragmatische Reaktion auf Sachzwänge. Er ist hier negativ konnotiert und erfolgt eher gezwungenermaßen, zähneknirschend und widerwillig aus der Einsicht in die Notwendigkeit heraus. Am anderen Ende des Spektrums ermöglicht Verzicht, sich höheren Sinndimensionen zu öffnen und sich als Teil eines größeren Ganzen zu erleben. Verzicht ist dann positiv konnotiert und mehr als eine pragmatische Reaktion. Ideen der Selbstrücknahme und Praktiken des Verzichts können innerhalb dieses Spektrums beschrieben und eingeordnet werden.
Die 6. Arbeitstagung der DGEKW-Kommission „Religiosität und Spiritualität“ im November 2023 möchte diese Gemengelage unterschiedlicher Motivationen für und Funktionen von Verzicht im Spannungsverhältnis religiös-spiritueller und säkularer Diskurse und Praktiken kulturwissenschaftlich aufgreifen und diskutieren. Dazu soll der Niederschlag traditioneller religiöser Vorstellungen in gegenwärtigen Verzichtspraktiken ebenso thematisiert werden wie Neukonfigurationen des Selbstbeschränkungsethos jenseits traditioneller religiöser Bestimmungen.
Ein Ziel der Tagung ist es, aktuelle kulturwissenschaftliche Beobachtungen und Fragestellungen zu den hier aufgerufenen Imperativen der Sinnstiftung mit Überlegungen zu religionsgeschichtlichen oder weltanschaulichen Bezügen in Korrespondenz zu bringen und damit auch die Potenziale eines kulturwissenschaftlich geweiteten Spiritualitätsbegriffs empirisch fundiert auszuloten.
Wir laden Beiträge ein, die es ermöglichen, das Forschungsfeld sowohl gegenwartsbezogen als auch historisch argumentierend zu kartieren und Figurationen des Verzichts in unterschiedlichen religiösen oder weltanschaulichen Kontexten zu beleuchten.
Mögliche inhaltliche Felder sind:
- Phänomene, Kontexte, Praktiken: Fastenpraktiken, reduktive Ernährungsformen, Meditations- und Körperpraktiken, voluntary simplicity, Minimalismus, sharing-Praktiken, Medienverzicht/digital detox, Einkommensreduktion und drei/vier-Tage-Woche, KonMari-Methode, simplify-Bewegung, Zero waste, Tiny Houses, Subsistenzwirtschaft, terrane Mobilität…
- Akteur:innen und Felder: populärwissenschaftlich: Ratgeber, Life Coaches; religiös-spirituelle Gemeinschaften und Institutionen; politische und wissenschaftliche Akteur:innen und Institutionen; verschiedene Vergemeinschaftungsformen z.B. Szenen, Social-Media-Gruppen, Stammtische und kollektive Wohnprojekte…
- Begründungen, Diskursivierungen und Implikationen: Zeitwohlstand, Heil- oder Sinnsuche, Postwachstumsdebatte, Nachhaltigkeitsdiskurs, Alltagsspiritualität, Gesundheits- und Achtsamkeitsdiskurse…
- Funktionen, Traditionen, Kontinuitäten und Brüche: Verzicht als epistemologische Praxis, als Herausforderung und Entbehrung, als Tauschbeziehung, als Identitäts- und Sinnstiftung, als religiös inspirierte Praxis, als Ausdruck von Protest…
Wir freuen uns über Vorschläge für Tagungsvorträge (25 Minuten plus Diskussion) bis zum 15. Januar 2023 in Form eines Abstracts (max. 300 Wörter) und einer kurzen biografischen Notiz an verzicht@kaee.uni-freiburg.de. Wir bitten im Abstract auch um kurze Angaben zu Kontext und Materialgrundlage des vorgeschlagenen Beitrags. Bei den Vorträgen soll es sich um empirisch fundierte und unveröffentlichte Beiträge handeln.
Zeitplan:
Frist für Einreichungen: 15.01.2023
Auswahl und Rückmeldung: bis 31.03.2023
Bekanntgabe des Tagungsprogramms im Frühsommer 2023
Tagung: 2. – 4.11.2023
Eine Publikation der Beiträge als Tagungsband ist für Ende 2024/Anfang 2025 geplant.