Pluralität und Diversität von Kulturen und Gesellschaften stehen seit längerem im Zentrum des Interesses der Mittelalterforschung. Eine besonders wichtige Dimension kultureller Diversität und Pluralität findet dagegen erst seit jüngstem verstärkt Beachtung: die kulturelle Ambiguität.
Von besonderer Brisanz ist hier das Problem der Ambiguitätstoleranz. Der Begriff stammt aus der Individualpsychologie. Dort bezeichnet er die Fähigkeit, Mehrdeutigkeit wahrzunehmen und nicht negativ zu werten. Doch unterscheiden sich auch Kulturen und Epochen in starkem Maße dadurch, „wie Menschen Mehrdeutigkeit, Vagheit,
Vielfalt und Pluralität empfinden und wie sie damit umgehen.“
Der Stellenwert von Ambiguität und Ambiguitätstoleranz im Mittelalter ist gegenwärtig unklar. Auf der einen Seite ist von einer „vermeintliche(n) ‚Ambiguitätsferne‘ der mittelalterlichen Kultur und Literatur“ die Rede, die es gelte, „auf den Prüfstand zu stellen.“
Auf der anderen Seite hat man die Auffassung vertreten, es sei im Übergang von der Vormoderne zur Moderne zu einem umfassenden Verlust kultureller Ambiguität und Ambiguitätstoleranz gekommen, die die vormodernen und nichtwestlichen Kulturen geprägt habe.
Wieviel Ambiguität ließ(en) die gesellschaftliche(n) Ordnung(en) des Mittelalters also zu, in welchen Konstellationen wurde sie problematisiert und Ambiguität als Gefahr eingestuft, und welche waren auf der anderen Seite die Bedingungen der Möglichkeit kultureller Ambiguitätstoleranz im Mittelalter? Dies sind die Fragen, die im Zentrum der Tagung „Ambiguität und gesellschaftliche Ordnung im Mittelalter“ stehen.
Ihre Ausgangshypothese ist: Ambiguität wird vor allem dort zum Problem, wo sie Leitdifferenzen der gesellschaftlichen Ordnung verwischt und verunklart. In der Systemtheorie Niklas Luhmanns bezeichnet der Begriff der Leitdifferenz binäre Unterscheidungen (Codes), die die Kommunikation in gesellschaftlichen Funktionssystemen steuern, wie wahr/falsch in der Wissenschaft, Recht/Unrecht im Rechtssystem etc.
Dem Konzept der Tagung liegt ein Begriff der Leitdifferenz zugrunde, der hieran anknüpft. Auch er bezeichnet binäre Unterscheidungen; diese beanspruchen jedoch nicht nur für einzelne Funktionssysteme der Gesellschaft Gültigkeit, sondern für die gesellschaftliche Ordnung als Ganze.
Als Leitdifferenzen der gesellschaftlichen Ordnung des Mittelalters erscheinen vor allem die Unterscheidungen adlig/nicht-adlig (ständische bzw. stratifikatorische Differenz), rechtgläubig/ungläubig (religiöse Differenz), Mann/Frau (Geschlechterdifferenz) und frei/unfrei. Sie reduzierten gesellschaftliche Komplexität und strukturierten Kommunikation über lange Zeiträume hinweg und in ganz unterschiedlichen sozialen Kontexten. Gleichzeitig sind sie jedoch Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, denn sie bezeichneten Zugehörigkeiten, die über den Zugang zu knappen Gütern und über die Zuschreibung sozialer Anerkennung entschieden.
Ob bzw. inwieweit ethnische bzw. „Rassen“-Differenz, also die Unterscheidung „richtige“ Abstammung/„falsche“ Abstammung, im Mittelalter als binärer Code im skizzierten Sinne existierte, ist gegenwärtig eine offene Frage. Ebenso ungeklärt ist die Rolle funktionaler Differenzierung und ihrer Leitunterscheidungen, etwa die von Recht und Unrecht und ihrer spezifischen Ambiguitäten.
Wo Uneindeutigkeit diese Leitdifferenzen betrifft, erscheint Ambiguitätstoleranz unwahrscheinlich. Denn sie stellt die gesellschaftliche Ordnung, die durch diese Leitdifferenzen konstituiert ist, als Ganze in Frage. War sie allerdings vorhanden, erscheint sie daher erklärungsbedürftig, denn nun stellt sich die Frage: Wie konnte eine Gesellschaft die Verunklarung einer ihrer Leitdifferenzen aushalten? Wie wurden Zugehörigkeiten, Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen und soziale Anerkennung dann verhandelt?
Die Tagung nimmt religiöse Differenz, Geschlechterdifferenz, ethnische Differenz und die Unterscheidung von Recht und Unrecht als paradigmatische Leitdifferenzen der mittelalterlichen gesellschaftlichen Ordnung in den Blick und fragt nach Ambiguitäten hinsichtlich dieser Unterscheidungen, ihrer Produktion und ihren Folgen. Auf diese Weise bringt sie Fächer und Forschungsrichtungen miteinander ins Gespräch, die die Konstruktion gesellschaftlicher Differenz seit langem analysieren, ihre Ergebnisse jedoch bisher selten einmal zueinander in Beziehung gesetzt haben. So steht sie für einen neuartigen Zugang zu Fragen von Pluralität und Diversität im Mittelalter.
Die Arbeitstagungen des Brackweder Arbeitskreises sind seit über zwanzig Jahren ein Forum für den Austausch zwischen NachwuchswissenschaftlerInnen und erfahrenen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus allen Teilgebieten der Mediävistik. Gleichzeitig liegt den Tagungen ein „weiter“ Begriff vom Mittelalter zugrunde, so dass auch Beiträge zur Geschichte der Frühen Neuzeit mit inbegriffen sind.