Zeit kann und muss als eine der zentralen Kategorien der Geschichtswissenschaft bezeichnet werden: sowohl methodisch als auch thematisch. Ohne Zeit oder ohne eine gewisse Konzeption von Zeit gäbe es keine Vorstellung von Geschichte und so nicht einmal die Möglichkeit, diese wissenschaftlich zu untersuchen. Trotzdem ist immer wieder von einer gewissen „Zeitvergessenheit“ die Rede, da die Geschichtswissenschaft ihren Umgang mit Zeit zu wenig bewusst reflektiere. Gerade der wissenschaftliche Nachwuchs hat die Chance, sich schon in den akademischen Qualifikationsarbeiten kritisch mit diesem Phänomen auseinanderzusetzen. Eine wissenschaftliche Tagung der AG Landesgeschichte des Verbands der Historikerinnen und Historiker Deutschlands lädt deshalb Promovierende und PostDocs der Landesgeschichte nach Gießen ein, um dort über die ihren Abschlussarbeiten und Forschungen zugrundeliegende Konzeption von Zeit zu reflektieren und zu referieren.
Gerade die Landesgeschichte hat sich solchen Fragen stärker zu stellen, da sie den Anspruch erhebt, bei ihrem Blick auf bestimmte unterhalb der staatlichen Ebene liegende Länder oder Regionen epochenübergreifende Perspektiven einnehmen zu können. Es fehlt der Landesgeschichtsforschung bisweilen am Austausch, gerade junger LandeshistorikerInnen über die „Länder“grenzen hinaus.
Drei thematische Schwerpunkte bieten sich neben weiteren sicherlich an, eine solche Reflexion zu begleiten:
Zentrale Bedeutung kommt bei der Frage nach der methodischen Bestimmung der Zeit zu-nächst der Chronologie zu, die bereits Jean Bodin als „Ariadnefaden“ der Geschichtswissenschaft bezeichnete. Die oft mit Blick auf ihre Sinnhaftigkeit hinterfragte und doch nie wirklich abgelöste chronologische Gliederung historiographischer Darstellungen gerät gerade vor dem Hintergrund einer global denkenden Geschichtswissenschaft neu in den Blick. Diese Erkenntnis kann auch in der Landesgeschichte zu einer Sensibilisierung in Bezug auf lokale oder regionale Chronologien führen, die oft vom politischen oder kulturellen Zentrum her konzipiert werden und wurden. Direkt wird so die Frage nach der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen aufgeworfen, die sich gerade in der räumlichen Konkretisierung der Landesgeschichte fassen lässt.
Zweitens lässt sich das Zeitverständnis der historischen AkteurInnen rekonstruieren, was mentalitäts- und sozialhistorische Fragestellungen impliziert, da Zeit und ihr Erleben und Wahr-nehmen als soziale Kategorien sowohl aus der individuellen Perspektive als auch aus der Perspektive von Gruppen in den Blick genommen werden können. Religiöse Vorstellungen spiegeln sich hierin gesellschaftlich normiert genauso wider wie naturwissenschaftliche Erkenntnisse.
Die Analyse von Kontinuität und Wandel führt drittens zu Fragen nach Dekadenz und Rück-schritt, nach Progression und Fortschritt – während Veränderung häufig leichter zu fassen ist, bereitet die Identifikation von Kontinuitätslinien oft methodische Schwierigkeiten: Die diachrone Perspektive der Landesgeschichte kann hier gängige Narrative in Frage stellen und mit ihrem Blick auf die Vielfalt historischer Entwicklungen vermeintliche Teleologien aufbrechen.
Diese und weitere Anfragen lassen sich bereits in der Qualifikationsphase an konzipierte oder bereits begonnene Forschungsarbeiten herantragen. Die Tagung lädt zur Reflexion darüber ein, wie dies konkret funktionieren kann.
Daneben soll sie NachwuchswissenschaftlerInnen Gelegenheit zur Vernetzung und zum Austausch geben, aber auch Raum lassen, um zukunftsweisende Themen und neue Positionierungen der Landesgeschichte zu diskutieren.
NachwuchswissenschaftlerInnen in und um die Promotionsphase sind sehr herzlich eingeladen, sich mit einem kurzen, aussagekräftigen Exposé für einen Workshop-Beitrag zu bewerben.