Das Phänomen der Atlantischen Revolutionen wird häufig einseitig mit dem Westen, sprich Europa und seinen revoltierenden amerikanischen Kolonien in Verbindung gebracht – ein Sachverhalt, der seine Entsprechung in den Lehrplänen des Geschichtsunterrichts findet. Susanne Popp (Universität Augsburg) nannte diese Wahrnehmungsverzerrung in ihren einführenden Grußworten zutreffend einen „suggestiven Singularitätsanspruch“. Die eingeladenen Referentinnen und Referenten unternahmen den Versuch, diese Perspektive zu korrigieren.
Bereits der einer Revolution zugrundeliegende Freiheitsbegriff bedarf einer historischen Kontextualisierung. SILKE HENSEL (Münster) erweiterte diesen auf größere geopolitische Räume und Zusammenhänge. Sie betonte, dass es sich bei der als weltpolitisch verorteten Peripherie – etwa der Karibik und Lateinamerika – um revolutionäre Akteure aus eigenem Recht handelte und hob hervor, dass die Weltregionen hierbei eng korrespondierten, womit die Überbetonung von politischen Epizentren in Nordamerika und Europa nur begrenzt haltbar sei. Der Freiheitsdiskurs in der sogenannten Peripherie war elementar durch die Frage der Sklaverei geprägt, in welcher gleichermaßen die Frage der rechtlichen und individuellen Freiheit kulminierte. Bei der anschließen Diskussion wurden Hensels Überlegungen auf Westafrika ausgedehnt und ergänzt – vor allem auf den reformorientierten politischen Islam. Auf den Geschichtsunterricht übertragen, sind vielfältige paradigmatische Zugänge möglich: der Nationen- und Identitätsbildungsprozess, eine narrative Provinzialisierung zugunsten anderer Weltregionen und das Streben nach politischen Freiheiten als globales Phänomen.
Im Zusammenhang mit individuellen Freiheitsrechten erscheint immer wieder der Nexus von Ethnizität und Sklaverei. DAVID GREWE (Frankfurt am Main) erörterte die Möglichkeiten, diesen Zusammenhang für den Themenkomplex Rassismus und ethnische Diskriminierung geschichtsdidaktisch einzusetzen. Das Mexiko des beginnenden 19. Jahrhunderts ist durch sein sistema de castas (Kastenwesen) für Grewe exemplarisch für die Verbindung von soziokultureller Zuschreibung und Ethnogenese. Dieses sistema de castas bildet auch eine Grundlage für das von ihm vorgeschlagene Quellenkorpus. Der zweite Schwerpunkt sind Selbstzeugnisse der beteiligten Akteure. Für Grewe sprechen fünf Gründe für die intensivere Behandlung des mexikanischen Unabhängigkeitsprozesses im Geschichtsunterricht: die Schaffung eines Grundverständnisses kolonialer Rechtsordnungen, die Berücksichtigung von Rassismus als inhärentem Aspekt des Revolutionszeitalters, die globale Strahlkraft und Wirkmächtigkeit aufklärerischer Ideen, die Aneignung und Umsetzung dieser Ideen in den Kolonien und die Genese und Entwicklung des Hautfarbenrassismus. Das Plenum stellte das Konstrukt einer kolonialen „Peripherie“ massiv in Frage. Gerade Neuspanien, sprich Mexiko, war ein weltökonomisches Zentrum. In Bezug auf das Quellenkorpus wurde ein bewusster Umgang angemahnt, da Begrifflichkeiten in ihrer spanischen und deutschen Bedeutung voneinander abweichen können.
Um ein revolutionäres Phänomen ganzheitlich zu erfassen, muss auch dessen postrevolutionäre Phase in den Blick genommen werden. Genau dies tat FRIEDEMANN PESTEL (Freiburg). Er zeigte eine enge Verbindung zwischen dem deutschen Raum und Haiti während der postnapoleonischen Restaurationszeit auf, einen Zusammenhang der sich in der zeitgenössischen deutschen Publizistik widerspiegelte. Haiti betrachtete sich als Siegermacht und agierte als solche. Pestel identifizierte vor diesem Hintergrund drei zentrale Verflechtungszusammenhänge: den Wunsch Haitis nach Legitimation, darauf abzielend eine durch Luxusgüter vorangetriebene Paradiplomatie und die Neuausrichtung der deutschen Ökonomie auf den atlantischen Raum. Hierbei war die multiethnische Mobilität von besonderer Bedeutung, etwa durch die Migration deutscher Experten, oftmals Restaurationsverlierer, nach Haiti. Durch eine analoge postrevolutionäre Situation wurde Haiti häufig zu einer Chiffre deutscher Verhältnisse. Für die Geschichtsdidaktik bietet diese Verflechtungsgeschichte gute Einsatzmöglichkeiten aufgrund einer sehr guten Quellenlage. In der Diskussion wurde die Vielfalt und Ambivalenz der Thematik deutlich: die Tauglichkeit des Paradigmas der „Atlantischen Restauration“ für die umfassende Perspektive zu gewinnen, die machtpolitischen und ökonomischen Zusammenhänge und Haiti als Projektionsfläche europäischer Diskurse, Hoffnungen und Ängste.
BAZ LECOCQ (Berlin) erweiterte die atlantische Perspektive um Westafrika und dessen Besonderheit: Es ist gleichermaßen Teil der atlantischen wie auch der islamischen Welt. Diesen Sachverhalt zeichnete er am Beispiel des Volkes der Fulani nach. Die Fulani machten einen Prozess der Ethnogenese durch, indem sie kulturelle Identität mit einer sowohl vom Sufismus als auch vom Salafismus geprägten Form des Islam verbanden und mittels des Dschihad eigene Herrschaften errichteten. Die Institution der Sklaverei war hierbei von entscheidender Bedeutung, einerseits als zentraler ökonomischer Faktor für den transsaharischen und transatlantischen Sklavenhandel, andererseits als Distinktionsbegriff innerhalb und außerhalb des Islams. Die anschließende Diskussion kreiste um den Eurozentrismus und die Bewertung des Islams im Hinblick auf Sklaverei. Kritisch gesehen wurde der einseitige europäische Blick bei der Bewertung der Vorgänge in Westafrika. Allerdings wurde bei der Frage der Sklaverei darauf hingewiesen, dass diese essentieller Bestandteil der westafrikanischen Gesellschaften war. Auch der Begriff der Freiheit wird fundamental unterschiedlich aufgefasst. Geschichtsdidaktisch muss diese Ambiguität aufgegriffen und reflektiert werden, allerdings ist es trotzdem lohnenswert, die Verflechtungsgeschichte mit diesem Großraum im Unterricht zu behandeln.
Zu einer kritischen Reflexion von traditionellen Paradigmen im Hinblick auf das Phänomen der Aufklärung regte BÄRBEL VÖLKEL (Ludwigsburg) an. Ihre Kernthese lautete, dass dem Diskurs der Aufklärung ein systemischer Rassismus inhärent sei – trotz aller Gleichheitsdiskurse der Atlantischen Revolutionen. Der Hallenser Akademiker und ehemalige Sklave Anton Wilhelm Amo repräsentiere diese Verstrickung im hohen Maße. Amos transzendentaler aufklärerischer Universalismus stieß bei Kant auf ein dezidiert rassistisches Weltbild. Amo, bereits zu Lebzeiten herabgesetzt, wird bis heute primär als Schwarzer und nicht als Denker aus eigenem Recht wahrgenommen. In diesem Missstand liegt nach Völkel gleichzeitig das Potenzial für den Geschichtsunterricht: die Parallele zwischen dem Durchbruch der Aufklärung und der Ausformulierung eines wissenschaftlich überformten Rassismus, und die damit verbundene Frage, ob für die Aufklärung nicht auch nicht-rassistische Alternativen möglich gewesen wären. Im Auditorium wurde darauf hingewiesen, dass Kant in seinem Denken (beispielsweise in seiner Schrift Zum ewigen Frieden) ein gedankliche Entwicklung vollzogen habe und vor diesem historischen Hintergrund – auch auf Haiti gab es historische Narrative einer schwarzen Überlegenheit – beurteilt werden müsse. Auch Semantiken wie „Mohr“ oder „Neger“ müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden.
MICHAEL ZEUSKE (Köln) nahm in seinem Abendvortrag eine Bestandsaufnahme der Sklavereigeschichte im atlantischen Raum vor. Am Beispiel Kubas zeigte er ein großes Forschungsproblem auf: die defizitäre Quellenlage bei Selbstzeugnissen von Versklavten. Zentrales Anliegen Zeuskes war die Markierung der Sklaverei als imperialistisch-kapitalistisches Gefüge, das in der wissenschaftlich basierten „Second Slavery“ besonders manifest wird. Dem lateinamerikanischen Raum kam eine Schlüsselrolle für gesamtamerikanische Zusammenhänge zu, da er das Zentrum des transatlantischen Sklavenhandels darstellte. Zeuske hob die elementare Rolle der versklavten Akteure bei ihrer Befreiung hervor, gerade in der Frage des Abolitionismus auf Haiti und während der Bolivarischen Revolution. Als Resümee hielt er fest, dass Sklaverei als weltweit interagierendes Marktgeschehen zu begreifen ist und zugleich als radikalisiertes kapitalistisches Prinzip.
URTE KOCKA (Berlin) analysierte exemplarisch sechs europäische und US-amerikanische Schulbücher unter Berücksichtigung globalhistorischer Perspektiven im Kontext der Atlantischen Revolutionen. Zunächst wandte sie sich europäischen Beispielen zu und stellte bei allen eine Fixierung auf die Aufklärung als Ausgangspunkt der Geschichtsdidaktik fest. Im Vergleich dazu erkannte Kocka eine klar globalhistorische Ausrichtung bei den US-amerikanischen Materialien, wobei eine grundsätzlichere Differenzierung zum europäischen Schulbuch vollzogen werden muss, da es sich hier um „Reader“ handelt. Kocka forderte dazu auf, Anregungen US-amerikanische Schulbücher aufzugreifen. In der Plenumsdiskussion wurde die Tauglichkeit einer analogen Übernahme der US-Perspektive diskutiert, und ob es nicht angebrachter sei, sich klarzumachen, auf welche Funktion man mit einem Narrativ abzielt. Allerdings ist der wichtigere Punkt, inwiefern es gelingt, ein Curriculum mitzugestalten.
Die Möglichkeit, eurozentrische Perspektiven aufzubrechen und eine globalgeschichtliche Perspektive in den Geschichtsunterricht einfließen zu lassen, zeigte PHILIPP BERNHARD (Augsburg) auf. Im Hinblick auf Quellen für den Geschichtsunterricht böten sich drei Themen besonders an: Kolumbus und die Eroberung Amerikas, die Haitianische Revolution und die deutsche Kolonialgeschichte. Diese Themen teilt er in drei Großbereiche: aktivistisches, politisch-historisches Lernen, globales Lernen mit aktivistischem Impetus, und ein genuin geschichtsdidaktisch fachwissenschaftlicher Bereich. Bei postkolonialen Unterrichtsmaterialien sieht er das Potenzial, das bisherige Curriculum einem rassismus- und eurozentrismuskritischen Blick zu unterwerfen und gerade heutige Kontroversen besser einzunorden. In der Diskussion wurde eine solche Perspektivenweitung begrüßt und gleichzeitig der genuine geschichtsdidaktische Wert der Postcolonial Studies diskutiert und reflektiert. Ein grundlegendes Problem sind auch der begrenzte Lehrplan und die Anzahl der zur Verfügung stehenden Schulstunden.
JOCHEN GOLLHAMMER (Freilassing) behandelte die möglichen Potenziale eines globalhistorischen Zugangs ausgehend vom Industrie- und Handelsgut Baumwolle. Im Geschichtsunterricht ist der Themenbereich meist auf Europa und die soziale Frage beschränkt. Doch gerade Baumwolle als global- und verflechtungsgeschichtliches Paradigma birgt auch fächerübergreifendes Potenzial – etwa durch den Zusammenhang von Empire und Manchesterkapitalismus. Neben konventionellen Quellen regt Gollhammer den Einsatz von Literatur an, um etwa Akteursperspektiven schülergerecht zu vermitteln, so etwa Underground Railroad von Colson Whitehead. Das Plenum gab bei grundsätzlicher Zustimmung zu bedenken, dass das Konstrukt des Dreieckshandels in der Forschung lange überholt sei und globaler gedacht werden müsse, etwa durch die Einbeziehung Indiens und anderer Akteure. Auch müssten die unterschiedlichen Kapitalismen begrifflich trennscharf auseinandergehalten werden.
MALTE MEYER (Köln) analysierte rund 20 englischsprachige Videos zur Haitianischen Revolution, bei denen er sowohl Konvergenzen als auch Gemeinsamkeiten sieht. Nationalgeschichtlich werden Entwicklungen im französischen Mutterland in den Fokus gerückt, jedoch auch die Spezifika der haitianischen Sklavengesellschaft. Die globalgeschichtliche Perspektive ist stark ökonomisch determiniert und analysiert die Verflechtungen zwischen kapitalistischer Plantagenwirtschaft und Sklaverei im atlantischen Kontext. Auch der Widerstand in den unterschiedlichen Sklavengesellschaften – Haiti und der Vorkriegssüden der USA – kommen zur Geltung. In der historischen Perspektive dominiert die Top-down-Betrachtung. Häufig verbleiben die Ansätze in den Erzählungen der „großen Männer“. Die Alltagsgeschichte und ihr Einfluss auf das Geschehen, etwa in Form des Voodoo, bleiben hier notwendigerweise unterbeleuchtet. Das zentrale Narrativ bezüglich der Folgen der Revolution ist der Status Haitis als erster freier schwarzer Staat in der westlichen Hemisphäre und sein Erbe für den Abilitionismus, mit einem entsprechend starken Gegenwartsbezug gerade in den USA. Meyers Fazit: Bereits die Thematisierung der Haitianischen Revolution in Form von Erklärvideos ist ein Statement an sich. Formal sieht er zwar eine klare Grenze zum akademischen Diskurs, allerdings mit starken inhaltlichen Überschneidungen. Bei der Diskussion traten zwei zentrale Kritikpunkte an Erklärvideos hervor: das Problem, dass Geschichte dadurch zunehmend zu einer Ware degradiert wird, und dass die handwerkliche historische Ausarbeitung häufig unzureichend ist. Allerdings wurde auch betont, dass diese Videos in Hinsicht der Schulrealität einen Markt bedienen.
Die Tagung vermochte es, die Perspektive auf das Phänomen der Atlantischen Revolutionen zu weiten – zumindest kritisch zu schärfen. Es wurde deutlich, dass das Streben nach Emanzipation kein exklusives europäisches Gut darstellt. Der revolutionäre Funke ging zwar von Europa aus, wurde aber jenseits des Atlantiks nicht nur weitergetragen, sondern auch selbst geschlagen. Ein Verdienst der Vorträge in ihrer Gesamtheit ist die Abbildung einer Ambivalenz bei der Annäherung an die Thematik: Einerseits wird eine Verengung der historischen Perspektive aufgesprengt, andererseits werden europäische Traditionsbestände der Aufklärung nicht als Selbstzweck dekonstruiert. Gerade in der weitergehenden Reflexion dieser Ambivalenz und Umsetzbarkeit in Hinsicht auf den Geschichtsunterricht besteht der bleibende Verdienst der Tagung.
Konferenzübersicht:
Silke Hensel (Universität Münster): (Un)freiheit: Die Atlantischen Revolutionen und Freiheitsrechte in der Atlantischen Welt
David Grewe (Frankfurt am Main): Ethnizität und Staatsbürgerschaft im Zeitalter der Revolution – die Abschaffung ethnischer Kategorien im mexikanischen Unabhängigkeitsprozess als Thema im Geschichtsunterricht
Friedemann Pestel (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg): Die atlantische Restauration: Eine deutsch-haitianische Verflechtungsgeschichte im Zeitalter der Revolutionen
Baz Lecocq (Humboldt-Universität zu Berlin): Atlantische Revolutionen in Westafrika: Staatsgründung, Staatsreform und gesellschaftlicher Wandel 1725-1850
Bärbel Völkel (Pädagogische Hochschule Ludwigsburg): Kants „stinkende N…“ und Anton Wilhem Amo, Professor für Philosophie in Halle – kritische Blicke auf die Farbenlehre der deutschen Aufklärung
Michael Zeuske (Universität zu Köln): Saint-Domingue/Haiti, die anderen Revolutionen (USA, Frankreich, Westafrika, Spanisch-Amerika) und die Geschichte der Versklavten im atlantischen Raum
Urte Kocka (Berlin): Globale Perspektiven in Schulgeschichtsbüchern zum Thema „Das Zeitalter der atlantischen Revolutionen“
Philipp Bernhard (Universität Augsburg): Eine geschichtsdidaktische Analyse von „postkolonialen“ Bildungsmaterialien zur Haitianischen Revolution: Überlegungen zur Globalisierung des Geschichtsunterrichts
Jochen Gollhammer (Erzbischöfliche Fachoberschule Franz von Assisi Freilassing): Cotton is King. Die zunehmende Bedeutung von Baumwolle in der atlantischen Welt nach der Amerikanischen Revolution
Malte Meyer (Köln): Toussaint auf YouTube. Die Haitianische Revolution im Spiegel englischsprachiger Erklärfilme