Krisen und wirtschaftspolitische Gegenstrategien in der Europäischen Gemeinschaft und Union

18th History of European Integration Research Society Conference

Organisatoren
Marvin Schnippering, University of Glasgow; European University Institute, Florenz
Veranstaltungsort
University of Glasgow
Förderer
European Research Council / European Commission
Ort
Glasgow
Land
United Kingdom
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
15.09.2022 - 16.09.2022
Url der Konferenzwebsite
Von
Norbert Fabian, Ruhr-Universität Bochum / Institut für soziale Bewegungen

Den Schwerpunkt der 18th History of European Integration Research Society (HEIRS) Konferenz bildeten diesmal wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen und Themen. Organisiert wurde die Konferenz mit Unterstützung des European Research Council der Europäischen Kommission von Marvin Schnippering, Bochum / Glasgow und dem European University Institute, Florenz. Die vorgetragenen Papers kommentierten die Wirtschaftshistoriker EMMANUEL MOURLON DRUOL (Glasgow) und NEIL ROLLINGS (Glasgow) sowie die Politikwissenschaftlerin ANGELA ROMANO (Glasgow).

THOMAS SODEN (York/Florenz) analysierte in seinem Paper die wirtschaftlichen Gründe, die zum ersten britischen Beitrittsantrag in die Europäische Gemeinschaft (EG) führten. Für Weiterentwicklungen der britischen Wirtschaft war der Zugang zum großen EG-Markt essentiell geworden.1 Die EFTA und das Commonwealth hätten hingegen keine realistischen Alternativen geboten. Unterstützt worden sei der Beitritt u.a. von den deutschen sozialdemokratischen Bundeskanzlern Willy Brandt und Helmut Schmidt.2 Diese hatten allerdings ambivalente Befindlichkeiten von französischer Seite zu berücksichtigen.

Der italienische Doktorand ENRICO GIORDANO (Madrid) erläuterte die Europäisierung der spanischen Sozialisten unter Filipe Gonzáles und den Wandel in deren politischer Ausrichtung von eher marxistischen zu sozialliberalen Positionen von 1972-1992. Erheblich gewesen sei hierbei der Einfluss der westdeutschen Friedrich-Ebert-Stiftung und der SPD.3

ALESSANDRA ZANETTI (Florenz) wies darauf hin, dass Margret Thatcher in der Konservativen Partei ursprünglich eine entschiedene Befürworterin des EG-Beitritts Großbritanniens gewesen sei.4 Als Premierminister habe sie dann gemeinsam mit dem neuen Präsidenten der EU-Kommission, Jacques Delors den EG-Binnenmarkt als einen entscheidenden Fortschritt in der Entwicklung der europäischen Integration mit durchgesetzt. In der Diskussion wurde allerdings darauf hingewiesen, dass PM M. Thatcher sich mit ihrer Brügger-Rede von 1988 dann entschieden gegen eine auch soziale Weiterentwicklung der EG ausgesprochen hat.5 Damit habe sie den Weg für eine mehrheitliche Politikwende in der Europapolitik der britischen Konservativen bis hin zum Brexit mit bereitet.

Der italienische Doktorand MATTEO CALABRESE (Luxemburg) stellte in seiner Präsentation die Geschichte des Aufstiegs und Niedergang des Luxemburger Europäischen Investment-Fonds von 1959-1978 dar. Deutlich wurde, dass mit solchen Fonds ein Instrument geschaffen worden ist, dass bis zur Gegenwart hin auch Kapitalismus als Wirtschaftsmodell zunehmend verändert.

MARIA SOLE BARBIERI (Florenz) erläuterte die Rolle der Europäischen Gemeinschaft und der International Energy Agency bei der Entwicklung transnationaler Politiken und Strategien nach dem 1974er Ölpreis-Schock. Weitgehend außen vor ließ sie dabei allerdings die Rolle von EURATOM in der Energiepolitik sowie aufkommende Bestrebungen, erneuerbare Energieformen in und mit der EU voranzubringen.6

Die Bedeutung kleiner und mittlerer Unternehmen für die Wirtschaft in den EG-Staaten stellte der belgische Doktorand LAURENS JAN DANEN (Florenz) heraus. Für deren Förderung und Unterstützung seien Christdemokraten sowie Sozialdemokraten gemeinsam initiativ geworden. Hingewiesen wurde zudem auf die Bedeutung solcher Unternehmen sowie von freien Genossenschaften für die Regionalentwicklung und damit die Regionalförderung der EG/EU.

Eher kontrovers aufgenommen wurde ein Paper des Schweizer Historikers SAMUEL BEROUD (Jyväskylä), der auch Mitglied der Ronald Reagan-Foundation ist. Er versuchte die Wirtschaftspolitik des deutschen Bundeskanzlers Helmut Schmidt personalisierend und recht pauschal mit der Politik der konservativen britischen Premierministerin Margret Thatcher quasi gleichzusetzen. In der regen Diskussion wurde dies als bereits vom Ansatz her und methodologisch verfehlt kritisiert. Bei Vergleichen seien stets mögliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten - und diese seien in diesem Falle recht erheblich. Die deutsche Sozialdemokratie mit H. Schmidt habe vor allem eine Weiterentwicklung einer zugleich sozial und neokeynesianisch orientierten Marktwirtschaft und ‚mixed economy‘ intendiert. M. Thatchers Wirtschaftspolitik hingegen sei vorrangig monetaristisch angelegt und zentral mit einer Privatisierungskampagne verbunden gewesen. Das sozialliberale ‚Modell Deutschland‘ mit einer qualifizierten Arbeitnehmermitbestimmung und Sozialreformen für GB zu übernehmen habe M. Thatcher ferngelegen, auch wenn sie es, wie S. Beroud dann replizierend hervorhob, der britischen Labour-Party öffentlich zu empfehlen versuchte.

Bei dem abschließenden, von GUUS WIEMANN (Florenz) moderierten, weiterhin lebhaften Roundtable-Diskussion wurde u.a. nach Akteuren europäischer Integration gefragt. Hingewiesen wurde auf die zunehmende Bedeutung des Europäischen Parlaments als Vertretung der Bürger/innen Europas, aber auch des Europäischen Rates als Institution. Theorien der europäischen Integration, zu denen Politikwissenschaftler aus dem angelsächsisch-irischen Bereich erheblich beigetragen haben, hätten dies zu berücksichtigen und Demokratietheorien stärker einzubeziehen.7 Eher offen blieb, ob die Krise ab 1973 in Europa im Vergleich zu gegenwärtigen, aktuellen Krisen überschätzt würde. Mit dem Green Deal und dem EU-Aufbauplan / Next Generation EU 8 habe die EU unter der Kommissionspräsidentschaft von Ursula von der Leyen und dem Vizepräsidenten Franz Timmermans begonnen, modifizierte eurokeynesianische Strategien gegen neu aufgekommene Krisen der Gegenwart zu entwickeln. Zwar wies Prof. E.M. Druol in seinem Kommentar kritisch darauf hin, dass bei einzelnen Themen und Präsentationen historische und gesellschaftliche Kontexte verstärkt zu berücksichtigen seien. Insgesamt wurden jedoch neue und relevante Forschungsergebnisse vorgetragen, und die Diskussionen auf der Konferenz vermittelten Impulse und Anregungen für weitere zeitgeschichtliche Forschungsarbeiten zur EG/EU und deren Entwicklung seit den 1970er-Jahren.

Konferenzübersicht:

Panel I, Economic and political visions of enlargement and accession
Chair: Marvin Schnippering (Glasgow)
Discussant: Angela Romano (Glasgow)

Thomas Soden (York/Fiorence): Britain, West Germany and the economic problems of the first enlargement 1970-1972

Enrico Giordano (Madrid): Europeanization and neoliberalism: Spanish socialism from Marxism to the nineteen-nineties (1972-1992)

Alessandra Zanetti (Fiorence): Rethinking Thatcher and Europe

Panel II, Fiancial visions of Europe?
Chair: Guus Wieman (Florence)
Discussant: Emmanuel Mourlon Druol (Glasgow)

Matteo Calabrese (Luxemburg): The fund Euro Eururion and the “Age of Innocence” of investment funds in Luxembourg (1959-1978)

Lea Levenhagen (Thurnau): The London Moment: Financing Europeanism and
Europeanising Finance-Financial experts in exile during the Second World
War 1939-1945

Panel III, Managing European economies
Chair: Marvin Schnippering (Glasgow)
Discussant: Neil Rollings (Glasgow)

Maria Sole Barbieri (Fiorence): European Community’s energy policies and the role of the International Energy Agency: transnational policies and strategies in the aftermath of the oil shock (1974/1977)

Laurence Jan Danen (Fiorence): The European Parliament’s response to the failing post-war accumulation regime: smallness

Samuel Beroud (Genève): Western Europe’s „Godfather“? Helmut Schmidt, the rise of Modell Deutschland and US-German relation, 1974-1977

Concluding discussions / roundtable

Anmerkungen:
1 U.a. Kevin O’Rourke, A Short History of Brexit. From Brentry to Backstop, Penguin 2019, S. 67ff; Neil Rollings, British Business in the Formative Years of European Integration 945–1973, Cambridge 2007, S. 120ff.
2 Mathias Haeussler, Helmut Schmidt and British-German Relations, Cambridge 2019, S. 31ff, 41ff; etc.
3 Ergänzend: Walter L. Bernecker, Spaniens Geschichte seit dem Bürgerkrieg, 6. Aufl. München 2018, S. 269ff; etc.
4 U.a. Kevin O’Rourke, A Short History of Brexit, S. 85.
5 A.a.O., S. 154ff, 222.
6 U.a. eurosolar.de / Hermann Scheer, Sonnenstrategie, München 1993; Norbert Neuser (Hrsg.), Entwicklung braucht Energie. SE4ALL für ein neues nachhaltiges Entwicklungsziel, Berlin 2013.
7 Dazu u.a. Ben Rosamond, Theories of European Integration, New York 2000
8 Europäische Kommission: Umsetzung des europäischen Grünen Deals / Europäischer Grüner Deal. Erster klimaneutraler Kontinent werden / Document 52021DC0550 und 52021PC0557, Brüssel 14.7.2021; Europäischer Rat, Ein Aufbauplan für Europa, consilium.europa.eu; zudem Jeremy Rifkin, Der globale Green New Deal, Frankfurt am Main 2019

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