Geschichtsbewusstsein, Geschichtsbilder, Zukunft – Internationale Jahrestagung des Arbeitskreises Geschichtsdidaktik theoretisch 2022

Geschichtsbewusstsein, Geschichtsbilder, Zukunft – Internationale Jahrestagung des Arbeitskreises Geschichtsdidaktik theoretisch 2022

Organisatoren
Jörg van Norden, Universität Bielefeld; Lale Yildirim, Universität Osnabrück
PLZ
4240
Ort
Esch-sur-Alzette
Land
Luxembourg
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
28.09.2022 - 30.09.2022
Von
Imke Sofie Selle / Patricia Husemann, Didaktik der Geschichte, Historisches Seminar, Universität Osnabrück; Judit Ramb, Didaktik der Geschichte, Universität Bielefeld

Ist Geschichtsbewusstsein als Zentralkategorie der Didaktik der Geschichte noch relevant? Wie verhalten sich „Geschichtsbewusstsein“ und „Geschichtsbilder“ zu Zeitkonzepten? Werden diese zentralen Begriffe den Herausforderungen von Inklusion und Diversität noch gerecht? Welche Alternativen zu den bestehenden Kategorien kann es für geschichtsdidaktische Theoriebildung geben? Diese und weitere Fragen wurden auf der Internationalen Jahrestagung des Arbeitskreises „Geschichtsdidaktik theoretisch” der Konferenz für Geschichtsdidaktik e.V. mit einem breiten Publikum auf der Basis von precirculated papers diskutiert. Anlässlich der Einführung eines neuen Masterstudiengangs mit geschichtsdidaktischem Schwerpunkt an der Universität Luxemburg fand die Tagung erstmals außerhalb Deutschlands statt.

JÖRG VAN NORDEN (Bielefeld) eröffnete die Tagung mit einer Keynote, in der er versuchte, die Begriffe „Geschichtsbilder“ und „Geschichtsbewusstsein“ endgültig zu klären. Geschichtsbewusstsein sei für ihn das Wissen um die eigene narrative Grammatik, woraus sich eine Verantwortung ergebe, Deutungshoheiten zu reflektieren und kritisch zu hinterfragen. Geschichtsbilder seien Jörg van Norden zufolge Narrationen in Form von orientierenden Verknüpfungen von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Hierbei sei es jedoch fatal, die Begriffe „Geschichte” und „Vergangenheit” gleichzusetzen.

In der anschließenden Diskussion wurde der in der Keynote vorausgesetzte Konsens in Bezug auf Definitionen und Begrifflichkeiten angezweifelt und die Frage gestellt, ob es „Vergangenheit an sich“ überhaupt gebe.

Die Beiträge des einleitenden Panels beschäftigten sich einerseits mit den Chancen einer Ausdifferenzierung der inhaltlichen Füllung des Begriffs „Geschichtsbewusstsein“ unter Berücksichtigung von regionaler Geschichte und Mentalitätsgeschichte angesichts der Pluralisierung der Diskurse (JAN SIEFERT, Duisburg-Essen)1 sowie der Exklusion durch die Tradierung von vermeintlich neutralen Geschichtsbildern des Anderen – auch durch wissenschaftliche Re-/Produktion (LALE YILDIRIM, Osnabrück). Andererseits wurde die Frage thematisiert, auf welche Weise Vergangenes oder Vergangenheit im historischen Bewusstsein repräsentiert sind (WOLFGANG HASBERG, Köln) und die normative Aufladung sowie die vermeintliche Neutralität des Begriffs „Geschichtsbewusstseins“ diskutiert (PHILIPP MCLEAN, Bielefeld).

Der Kommentar von LARS DEILE (Bielefeld) warf die Frage auf, ob der Leitbegriff des Geschichtsbewusstseins noch zeitgemäß sei und ob der Begriff „Geschichtsbild“ nicht kritisch infrage gestellt werden sollte. Aus den Beiträgen leitete er ab, dass dies offensichtlich der Fall sei. Seine Vermutung bestätigte sich im Laufe der Diskussion. Dennoch zeigten sich definitorische Uneinigkeiten beim Begriff „Geschichtsbewusstsein”. Weitere zentrale Punkte der Diskussion waren die Relevanz von Reflexivität in Kombination mit Geschichtsbewusstsein oder die Verwendung des als Alternative vorgeschlagenen Begriffs „Geschichtlichkeit“. Zudem wurden abschließend pragmatische Aspekte des Geschichtsbewusstseins betrachtet. Die prekäre Situation des Geschichtsunterrichts in Luxemburg wurde angesprochen, die dazu führe, dass das Geschichtsbewusstsein dort an Bedeutung verloren habe. Dies ließ sich für den deutschen Raum nicht bestätigen. Der Theorie-Praxis-Transfer müsse allerdings stärker ausgebaut werden.

Das zweite Panel fokussierte die (Ent-)Politisierung der Geschichtsdidaktik. SEBASTIAN BARSCH (Kiel/Köln) stellte in seinem Kommentar die Theoriebedürftigkeit der Disziplin heraus und verwies auf das Dilemma, dass diese den Begriff des Geschichtsbewusstseins als normative Leerformel benötige, jedoch für die empirische Operationalisierung ebenso präzise Begrifflichkeiten von Nöten seien.

Neben Fragen der Historisierung (HANNAH VAN REETH, Graz) und der Intersektionalität in Bezug auf Geschichtsbewusstsein (FRANZISKA REIN, Ludwigsburg/Kiel) ging es in den Beiträgen um ein stärkeres normatives Verständnis der Zentralkategorie über den Fachdiskurs hinaus und um die Machtfrage innerhalb desselben (OLIVER PLESSOW, Rostock). Schließlich wurde zur Diskussion gestellt, ob das Beharren auf einem nicht-operationalisierbaren Begriff von „Geschichtsbewusstsein“ die Geschichtsdidaktik nicht von der Fachwissenschaft ablöse (MELANIE NOESEN/MIKE RICHARTZ, Luxemburg). Die Diskussion setzte zwei Schwerpunkte: Einerseits wurde über Politisierung und Macht diskutiert. In diesem Kontext kritisierte Franziska Rein das Narrativitätsparadigma der Geschichtsdidaktik, da sich Reflexivität nicht nur sprachlich und kognitiv äußern könne. Außerdem wurde sich mit der Frage auseinandergesetzt, wer agency und die Diskurshoheit innerhalb der Geschichtsdidaktik innehabe.

Neben der Relevanz der rüsenschen Theoriebildung für die Disziplin bildete andererseits der Zusammenhang zwischen Kompetenzen und den Zielen des Historischen Lernens einen Schwerpunkt. Ebenso wurde die Bedeutung des Geschichtsbewusstseins für vorhandene Kompetenzmodelle betont. Gleichzeitig beklagte Mike Richartz, dass die Rezeption des Begriffs „Geschichtsbewusstsein” aufgrund bildungspolitischer Intentionen in den verschiedenen Kompetenzmodellen stark variiere.

Das dritte Panel behandelte Zusammenhänge von Geschichtsbewusstsein und Zeit. CHRISTIAN HEUER (Graz) stellte in seinem Kommentar die Frage, was es bedeute, zeitgenössisch zu werden. Durch das Erleben von zeitgenössischen Polykrisen rücke die Orientierungsfunktion des Geschichtsbewusstseins in den Hintergrund. Es sei aber Aufgabe der Geschichtsdidaktik, diese wieder mehr zu betonen. Die Orientierung innerhalb von sogenannten ,,Zwischenzeiten“, zwischen einem ,,nicht mehr“ und ,,noch nicht“ stelle eine Herausforderung dar.

Aión, Kronos und Kairós, so JUDIT SABIDO-CODINA und FERIDE DURNA (beide Barcelona) in ihrem paper, stellen eine Möglichkeit zur Annäherung an die zeitliche Wahrnehmung von Schüler:innen dar. SEBASTIAN BARSCH und ANDREAS HÜBNER (Kiel) hingegen diskutierten in ihrem paper die Wirkmächtigkeit von geschichtsdidaktischen Konzepten wie des Geschichtsbewusstseins im Kontext von Klimawandel und Anthropozän.

In der hieran anknüpfenden Diskussion stellte sich heraus, dass die Disziplin aufgrund der Anthropozändebatte über neue Zeitdimensionen sprechen müsse, die auch neue Zeitbegriffe erfordern. Geschichtsbewusstsein entwickle sich aus Zeitbewusstsein und müsse erlernt werden. Für die empirische Erfassung, so Sebastian Barsch, brauche es dann verschiedene Skalen zur Erfassung von Zeitlichkeit. Welche Art von Wissen werde benötigt, um das Anthropozän zu verstehen? Was sei das neue Zeitkonzept des Anthropozäns oder handele es sich hierbei nur um eine Verlängerung des bestehenden Zeitkonzepts? Auch diese Fragen wurden diskutiert.

SABRINA SCHMITZ-ZERRES (Münster) stellte in ihrem paper die Frage danach, wie Zukunft erzählt und Kontingenz als Kategorie, vor allem im schulischen Kontext, gedeutet werden könnte. Sie schlug vor, diesen Begriff als Leerstelle zu verstehen, in der es möglich werde, andere Zukünfte zu erzählen.

In Bezug hierauf wurde zur Disposition gestellt, ob Geschichtsbewusstsein vor dem Hintergrund dieser aktuellen Herausforderungen als Konzept noch tragfähig sei, wobei Geschichtsbewusstsein auch als Reflexionsraum für eine solche Art von Überlegung verstanden werden könnte. In diesem Zusammenhang wurde eine Neudefinition von Geschichte angesprochen.

Im abschließenden Panel griff OLIVER PLESSOW in seinem Kommentar die bisher geführten Diskussionen der Tagung auf. Hierbei stellte er die Notwendigkeit der Historisierung und der Füllung des „Leerbegriffs Geschichtsbewusstsein” in den Vordergrund. Er sah den Konsens beider paper dieses Panels darin, dass diese Füllung ein individueller Prozess sei, der eine kollektivierende Rahmung besitze. URTE KOCKA (Berlin) betonte das aufklärerische und zukunftsweisende Potenzial des Geschichtsbewusstseins, das als weiterbehandeltes Zeitbewusstsein zu fassen sei. Welche Rolle spiele das Politische im Geschichtsbewusstsein? Könne agency in das Konzept mit aufgenommen werden und wie könne der Aspekt der Diversität mehr Beachtung finden? Der Beitrag von MICHAEL ZECH (Kassel) betonte ebenfalls, dass das Politische und Aspekte der Diversität in den Fokus der Überlegungen gerückt werden müssten.

In der abschließenden Diskussion wurden ebenso grundlegende Fragen und Herausforderungen an die geschichtsdidaktische Theoriebildung aufgeworfen. Das Narrativitätsparadigma, das Verhältnis von Geschichtsbildern zu Geschichtsbewusstsein und die Aufforderung, beim Geschichtsbewusstsein zwischen analytischer Kategorie und politischem Leitbegriff zu differenzieren, wurden hier zur Disposition gestellt. Diesbezüglich brauche es eine Theorie des Geschichtsbewusstseins, so Lars Deile. Er habe die Befürchtung, dass die Geschichtsdidaktik durch diesen Leerbegriff sonst zur „Schönwetterdidaktik“ verkomme. Einen weiteren Schwerpunkt brachte Sebastian Barsch ein. Er kritisierte, dass die Subjektorientierung seit 20 Jahren eine geschichtsdidaktische Forderung darstelle, jedoch bisher diesbezüglich kein Theorie-Praxis-Transfer stattgefunden habe. Des Weiteren wurde gefordert, weitere außerdisziplinäre Ansätze, die derzeit nicht rezipiert würden, stärker zu beachten.

Durch die Tagung wurde deutlich, dass Geschichtsbewusstsein weiterhin der zentrale, diskussionswürdige Begriff der Geschichtsdidaktik bleibt. Andere Begriffe wie „Geschichtsbild” oder „Zukunft” wurden nur am Rande diskutiert, obgleich sie im Titel der Tagung enthalten waren. So scheint die Klärung des Begriffs „Geschichtsbewusstsein“ durch seine Stellung als Zentralkategorie Voraussetzung für die Definition und Theoriebildung anderer Begriffe und Konzepte zu sein. Gerade die aktuellen Herausforderungen der Gegenwart bedingen eine stete Auseinandersetzung mit und Reflexion von zentralen Konzepten. Vor allem in Bezug auf Inklusions- und Diversitätsdebatten stellt die Machtfrage die zentrale Herausforderung an das Geschichtsbewusstsein dar.

Konferenzübersicht:

Keynote
Jörg van Norden (Bielefeld): „Und der Zukunft zugewandt”

Panel 1: Geschichtsbild(er), Normativität und Eurozentrismus
Kommentar Lars Deile (Bielefeld), Moderation Patricia Husemann (Osnabrück)

Jan Siefert (Duisburg-Essen): Potentiale und Limitierungen eines internationalisierten Geschichtsbewusstseins bei der Integration von globaler und postkolonialer Geschichte

Philipp McLean (Bielefeld): Was hat Geschichtsbewusstsein eigentlich mit historischem Lernen zu tun?

Lale Yildirim (Osnabrück): Die Produktion des Anderen als überdauernde (nachhaltige) Geschichtsbilder

Wolfgang Hasberg (Köln): Geschichtlichkeit – oder: Integration von Geschichtsbild und historischem Bewusstsein

Panel 2: Ent-/Politisierung
Kommentar Sebastian Barsch (Kiel/Köln), Moderation Peter Riedel (Bielefeld)

Hanna van Reeth (Graz): Historisierung als Erkenntnisfortschritt? Eine Reflexion über Wege in der Postmoderne

Franziska Rein (Ludwigsburg/Kiel): Behinderung und Migration als Dimensionen sozialer Ungleichheit? Eine intersektionale Analyse des Geschichtsbewusstseins

Oliver Plessow (Rostock): Geschichtsbewusstsein, Macht und Politik – einige Gedanken zu einem schwierigen Verhältnis

Melanie Noesen / Mike Richartz (Luxemburg): Geschichtsbewusstsein erlernen? Eine Positionierung

Panel 3: Geschichtsbewusstsein und Zeit
Kommentar Christian Heuer (Graz), Moderation Imke Sofie Selle (Osnabrück)

Judit Sabido-Codina / Feride Durna (Barcelona): AIÓN, KRONOS, KAIRÓS und das Geschichtsbewusstsein

Sebastian Barsch (Kiel/Köln) / Andreas Hübner (Kiel): Geschichtsbewusstsein und „Timefulness”

Sabrina Schmitz-Zerres (Münster): Geschichtsbilder der Zukunft – Wie erzählt man, was man aus der Geschichte für die Zukunft lernen kann?

Panel 4: Zukunft Geschichtsbild/Geschichtsbewusstsein
Kommentar Oliver Plessow (Rostock), Moderation Wanda Schürenberg (Bielefeld)

Urte Kocka (Berlin): Geschichtsbewusstsein: aufklärerisch und zukunftsweisend

Michael Zech (Kassel): Die Transformation von Geschichtsbewusstsein und Geschichtsbildern in eine Kultur dialogischer Geschichte

Anmerkungen:
1 Der Beitrag von Jan Siefert musste krankheitsbedingt ohne ihn diskutiert werden.

Redaktion
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