Matter and Meaning. New Material Ecologies in Culture and History

Matter and Meaning. New Material Ecologies in Culture and History

Organisatoren
Simone M. Müller, Environmental Humanities, Universität Augsburg
PLZ
86135
Ort
Augsburg
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
30.09.2024 - 01.10.2024
Von
Maximilian Ringleb, Universität Augsburg

How does matter come to matter? And how does matter come to meaning? Mit diesen grundsätzlich-philosophischen Fragen eröffnete die Tagungsorganisatorin SIMONE M. MÜLLER (Augsburg) den Workshop Matter and Meaning. Nachdem eine letztjährige Tagung in Konstanz die Political Ecology verhandelt hatte, wandten sich die Forschenden aus Augsburg, Tübingen, Konstanz, Basel und Zürich damit der zweiten Dimension der Environmental Humanities, der sogenannten Material Ecology, zu.1 Angeregt durch die epistemologischen Interventionen eines New Materialism, für den prominente Autor:innen wie Bruno Latour, Karen Barad, Jane Bennett oder Donna Harraway stehen, erfreut sich dieser Ansatz in den umweltinformierten Geisteswissenschaften bereits seit einigen Jahren einer stetig zunehmenden Beliebtheit. Damit wird allerdings auch die vorherrschende konstruktivistische Epistemologie des Cultural Turn – zumindest in ihren radikalen Adaptionen – zunehmend fragwürdig. Wie kann also das Materielle, „Nicht-Menschliche“, wieder klarer in seinen eigenständigen Konturen in den Blick genommen werden? Bräuchte es dazu eines entschiedenen Bruchs mit dem Konstruktivismus, im Sinne einer Flat Ontology? Oder könnte eine Ergänzung des kulturwissenschaftlichen Primats durch einen Material Turn genügen? Mit ihren interdisziplinären Perspektiven aus Philosophie, Theologie, Literatur-, Medien- und Geschichtswissenschaften gaben die Tagungsbeiträger:innen nicht nur aufschlussreiche Anregungen zu diesen Grundsatzfragen, sondern wiesen mit innovativen Fallstudien den Weg hinaus über eine kulturalistische Engführung zu fruchtbaren Ansätzen einer Material Ecology.

Den Auftakt dazu machte der Chemiker und Philosoph JENS SOENTGEN (Augsburg), der durch seine jahrzehntelangen Forschungen zu „Stoffgeschichten“ als Pionier der Material Ecology gelten kann. Soentgen betonte einerseits die diskursiv-kulturelle Dimension von Stoffgeschichten gerade in der jüngeren Geschichte, in der ein Großteil der alltäglichen Stoffe nicht mehr durch unmittelbare Sinneserfahrungen, sondern allein durch gesellschaftliche Narrative vermittelt werden kann. Andererseits verdeutlichte seine Präsentation der Geschichte des Gummis die Wesentlichkeit von „Stoffqualitäten“: Erst das Wechselspiel von Materialeigenschaften, Fundorten und Herstellungsbedingungen mit ihrer sozioökonomischen und kulturellen Erschließung führte zur jeweils spezifisch-kontingenten „Stoffgeschichte“. Auch CHRISTOPHER SCHLIEPHAKE (Augsburg) und KIRSTEN TWELBECK (Augsburg) wiesen in ihren kreativen Stoffgeschichten auf diesen besonderen materiellen Aspekt hin. So gelangte der Althistoriker Schliephake auf seiner Suche nach den Ursprüngen des in antiken Kulturen so wertvollen Purpurs an die Strände des östlichen Mittelmeers, an denen sich ein ganzer Industriekomplex um die Gewinnung des Farbpigments aus dem Schleim von Seeschnecken gebildet hatte: 10.000 Schnecken brauchte es für die Herstellung von einem Kilo des Luxusguts. Schliephake verstand es eindrücklich, durch die Stoffgeschichte des Purpurs auf die Relevanz von extraktiven Prozessen schon in der Antike hinzuweisen und so die Anthropozän-Debatte um eine wichtige historische Tiefendimension zu erweitern. Auch die Amerikanistin Twelbeck zeigte in ihrer Stoffgeschichte zum Weizen dieses wechselseitige dynamische Verhältnis von kulturellem Diskurs und stofflichen Vorgaben auf. Weizen, so Twelbeck, sei mittlerweile eher Teil der Kultur als der Natur – doch gerade auf diese Weise komme ihm selbst Handlungsmacht zu. Dennoch zeigten die gegenwärtigen westlichen Diskurse um die gesundheitlichen Aspekte von Weizengluten und um Saitan als Fleischalternative, dass auch der kulturelle Diskurs und das davon geprägte Konsumverhalten die Zukunft des Weizenanbaus weiterhin mitbestimmen würden.

Mit der Kohle als einem der essenziellen Stoffe des fossilen Zeitalters setzten sich EVI ZEMANEK (Tübingen) und FLORIAN SKELTON (Zürich) auseinander. Die Literaturwissenschaftlerin Zemanek fokussierte sich dabei auf den Abbau der Kohle. Jenseits der „toxischen Erhabenheit“ der Kohlegruben als „Opferzonen“, deren visuelle Darstellung sich gegenwärtig großer Beliebtheit erfreut, betonte Zemanek die Rolle von Kohle als fossilem Naturarchiv. Diese Naturdimension der Kohle gehe im steten Prozess ihrer Förderung und Verbrennung verloren, lasse aber bei genauerem Hinsehen eine andere, mithin trostspendende Dimension des Stoffs hervorscheinen. Zeigte Zemanek damit auf, wie auch die textorientierten Literaturwissenschaften produktiv einen Material Turn umsetzen können, so suchte der Historiker Skelton in Anknüpfung an den New Materialism die eigenständige Handlungsmacht der Kohle in Form ihres Verbrennungsprodukts, des Treibhausgases CO², herauszuarbeiten. Skelton ging dazu auf den CO²-Diskurs des Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) in dessen letzten Berichten ein. Demnach war das IPCC noch bis zum vierten Bericht von 2007 von der Möglichkeit einer klimatischen Stabilisierung durch die Einhaltung eines jährlichen Grenzwerts an globalen CO²-Emissionen überzeugt. Im Übergang zum Konzept eines absoluten, akkumulierten Carbon Budget, wie es erstmals im fünften Bericht von 2014 vorgestellt wurde, erkannte Skelton dann eine fundamentale diskursive Wende, die er eindrücklich auf eine qualitative Wandlung des Kohlenstoffs selbst zurückführte: Sei CO² zunächst als passives Treibhausgas wahrgenommen worden, so reflektiere die Einführung eines absoluten Carbon Budget die gewandelte, nunmehr aktive Rolle des atmosphärischen CO² als „non-human agent“, der durch positive Feedback-Loops den Klimawandel selbständig beschleunigen könne. Skelton prägte hierzu den eingängigen Begriff der „Subversive Matter“, die in Form des CO² den kontrollierten Diskurs des IPCC auf den Kopf gestellt und somit ein diskursiv ausgehandeltes „Meaning“ torpediert hätte.

Grenzen der diskursiven Einholung spezifischer Stoffqualitäten zeigte auch LUCIE LEUTENECKER (Tübingen) anhand audiovisueller Darstellungsversuche von Soil in der Gegenwartskultur auf. Ausgehend von der Beobachtung, dass die Fruchtbarkeit von Böden weitgehend als allgegenwärtige Selbstverständlichkeit aufgefasst und ihre Prekarität im Anthropozän so nur unzureichend realisiert würde, betonte die Medienwissenschaftlerin die Relevanz imaginativer Darstellungen und Narrative. Wie sei eine kulturelle Aufwertung des Soil und eine Veränderung des Mensch-Boden-Verhältnisses überhaupt vorstellbar, solange die narrative Einholung des Phänomens nicht hinreichend gelinge? Am Beispiel des kenianischen Kurzfilms Pumzi zeigte Leutenecker Möglichkeiten, Grenzen und Wichtigkeit einer ästhetischen Annäherung an die stofflichen und ökologischen Erkenntnisse der Bodenwissenschaften auf. Kulturhistorisch näherte sich anschließend JANA OSTERKAMP (Augsburg) dem Phänomen Boden an. Mit dem Aufstieg der Natur- und Bäderheilkunde (Balneologie) im Westböhmen der 1830er-Jahre griff die Historikerin auf ein äußerst eindrückliches Beispiel dafür zurück, wie stark Wissensdiskurse und kulturelle Praxen den gesellschaftlichen Umgang mit Materiellem anleiten können. War die westböhmische Landschaft zunächst vom Bergbau geprägt, während die Moore weiterhin als lästig bis verrucht galten, so führte die chemisch-medizinische Vorstellung von einer heilenden Wirkung des Schlamms zu einer Umwertung des Moors, die in Kurorten wie Karlsbad innerhalb weniger Jahre eine enorme Gesundheitsindustrie entstehen ließ. Mit dem „wallfahrtsähnlichen Charakter“ dieses Phänomens verdeutlichte Osterkamp die weiterbestehende Bedeutung des konstruktivistischen Ansatzes: Je diffuser die vermeintlich heilende Wirkung des Schlamms, desto wichtiger war die gesellschaftliche Vorstellung von ihr als handlungsleitendem Impuls.

An einem gemäßigt-konstruktivistischen Ansatz wollte auch ULRICH NIGGEMANN (Augsburg) festhalten. In seiner umwelthistorischen Betrachtung des Bauernkriegs von 1525 fiel sein Blick somit primär auf die Rolle von Ressourcen und ihrer zeitgenössischen Deutung als Auslöser der Unruhen. Niggemann zeigte auf, wie der klimageschichtliche Befund des Auslaufens der mittelalterlichen Warmzeit ein Faktor in der Entstehung des Konflikts gewesen sein könnte, wie gerade die bäuerliche Forderung nach freiem Zugang zu Wald und Gewässer den Konflikt schürte und wie nicht zuletzt die biblische Vorstellung des Dominium Terrae den revolutionären Anspruch der Bauern fundiert habe. Die materiellen Seiten frühneuzeitlicher Konflikte arbeitete ebenfalls LISA KOLB (Augsburg) anhand der Stoffgeschichte des Salpeters im dreißigjährigen Krieg heraus. Grundlegend für die Stoffgeschichte ging auch Kolb von den spezifischen Stoffqualitäten des Salpeters aus: Einzigartig in seiner sowohl kühlenden als auch entzündlich-explosiven Funktion, anstößig durch seinen, von Exkrementen ausgehenden Herstellungsprozess und regional begrenzt in seiner Produzierbarkeit entwickelte sich Salpeter zu einer kritischen Kriegsressource, einem „Konfliktstoff“. Ausgehend vom Stoff und seinen Eigenschaften verstand es Kolb, ein vielschichtiges soziokulturelles, ressourcenökonomisches sowie politik-, technik- und infrastrukturhistorisches Panorama aufzureißen, das eine neue Perspektive auf die materiellen Strukturdimensionen des kulturellen Phänomens des Kriegs gewährte. Darüber hinaus schärften sowohl Kolb als auch Niggemann mit ihren frühneuzeitlichen Beiträgen an der Schnittstelle von Umwelt- und Konfliktgeschichte die historische Tiefendimension der Environmental Humanities. Wie schon im Vortrag Schliephakes, so zeigte sich auch in ihren Beiträgen die Fatalität der noch immer weitverbreiteten Romantisierung einer vermeintlich ökologischen Vormoderne.

Die philosophischen Debatten der Tagung vertiefte zuletzt MARIE MUSCHALEK (Basel) mit ihrem Vortrag zum Phänomen der deutschen „Naturpraxis“ in den 1850er- und 1860er-Jahren. Ausgehend von naturhistorischen Praxishandbüchern zur Sammlung, Präparation und taxonomischen Einordnung von Tieren – die sich als demokratisch-pädagogisches Projekt an eine breitere bildungsbürgerliche Öffentlichkeit wandten –, problematisierte Muschalek das damalige Naturverhältnis der Naturforschenden, deren Tötungs- und Inventarisierungspraxen die Grenze zwischen Tier und Ding auflösten. Dass das tierische Untersuchungsobjekt allerdings eine Eigenmächtigkeit zeitigen, dass das „Material“ entfliehen konnte, zeigte Muschalek anhand von Reiseberichten deutscher Naturforschender fern der Heimat auf. So entfaltete sich auch in Muschaleks unterhaltsamem Vortrag ein vielschichtiger Aushandlungsprozess zwischen Mensch, „Material“, und den unkontrollierbaren Seiten der Natur, der zu grundsätzlichen Reflexionen einlud.

Welche epistemologischen Konsequenzen sind aus dem New Materialism und den vielfältigen Vorträgen für die Praxis der Environmental Humanities zu ziehen? Im Rundgespräch, in dem Perspektiven von der Amerikanistik (KATJA SARKOWSKY, Augsburg) bis zur Moraltheologie (KERSTIN SCHLÖGL-FLIERL, Augsburg) diskutiert wurden, betonte zunächst HUBERT ZAPF (Augsburg) seine grundsätzliche Ablehnung einer Flat Ontology, die Einseitigkeiten des (radikal-)konstruktivistischen Cultural Turn bloß spiegelbildlich kopieren würde. Ein gewisser Anthropozentrismus, so Zapf, könne nicht überwunden werden, Differenzen dürften nicht durch das Postulat einer Gemeinschaft vom Menschen bis zum Stein aus dem Blick fallen. Für wen etwa schreibe man noch eine „planetarische“ Geschichte, wie sie Dipesh Chakrabarty prominent einfordert, wurde einleuchtend aus dem Plenum gefragt. Dennoch betonte SVEN REICHARDT (Konstanz) zurecht, dass Anregungen zum Material Turn wie die Schriften Latours, Phillipe Descolas und Sindey Mintz‘ sowie die Einsichten der Praxeologie zu Performanz und Körperlichkeit die Einseitigkeiten des radikalen Konstruktivismus abbauen helfen. Dinge hätten historisch relevante Qualitäten, sie müssten stärker performativ gedacht werden – das „Gespenst des handelnden Dings“ würde immer deutlicher zum Vorschein kommen. Auch COREY ROSS (Basel) stimmte dem bei, betonte darüber hinaus allerdings, dass die Material Ecology immer mit der Political Ecology zu verbinden sei: Diskursiv etablierte Machtstrukturen dürften ob der Fokussierung auf die Performanz des Dings nicht vergessen werden, betonte Ross explizit auch in Hinblick auf die Methodik der Stoffgeschichte.

Interdependenz, Hybridität, „Intra-Relationen“; die fruchtbare Verbindung von naturwissenschaftlichem Positivismus und kulturalistischem Konstruktivismus – eine derartige Epistemologie kristallisierte sich auch in den Abschlussgedanken MATTHIAS SCHMIDTs (Augsburg) und DANIEL ROTHENBURGs (Konstanz) als weitgehend konsensuales Ergebnis der Tagung heraus. Dabei bestand Einigkeit einerseits dahingehend, dass die Flat Ontology des New Materialism aus geisteswissenschaftlicher Perspektive zu weit ginge. Andererseits artikulierten die Teilnehmenden aber deutlich, dass unsere gegenwärtige Beziehung zur nichtmenschlichen Welt, etwa vor dem Hintergrund des sich anbahnenden sechsten großen Artensterbens und der zunehmenden planetar-globalen Müllberge, grundlegend überdacht werden müsse. Die Tagung zeigte damit nicht nur die Fruchtbarkeit des interdisziplinären und epochenübergreifenden Austauschs, der im nächsten Jahr mit einer Tagung zur dritten Dimension der Environmental Humanities, der Cultural Ecology, fortgesetzt werden soll. Sie verdeutlichte auch die Innovativität und Zukunftsrelevanz dieses interdisziplinären geisteswissenschaftlichen Forschungsfeldes – vom literaturwissenschaftlichen Ecocriticism bis zur Umweltgeschichte.

Konferenzübersicht:

Einführung

Simone M. Müller (Augsburg): Making Matter Meaningful? New Material Ecologies in Culture and History

Stoffgeschichten
Moderation: Lothar Schilling (Augsburg)

Jens Soentgen (Augsburg): Stoffgeschichten

Christopher Schliephake (Augsburg): Purple: On the Ecology of a Color in Antiquity

Kirsten Twelbeck (Augsburg): Wheat Matters

KohlenstoffKultur
Moderation: Benjamin Thober (Tübingen)

Evi Zemanek (Tübingen): Ein fossiler Brennstoff als Wissensquelle und Archiv der Naturgeschichte: Zur materiellen Ästhetik und anderen Bedeutung von Kohle

Florian Skelton (Zürich): A Neo-Materialist History of the “Carbon Budget”

Erd-Wissenschaft
Moderation: Laura Bondl (Augsburg)

Lucie Leutenecker (Tübingen): Vom Erzählen lebendiger Böden im Anthropozän. Bodenkundliche Explorationen in den (Medien)Kulturwissenschaften

Jana Osterkamp (Augsburg): Moore als heilende Erden: Böhmens Kurorte und die Entstehung von Balneologie und Naturheilkunde

Interdisziplinäres Rundgespräch “Matter, Meaning, and the Quest for Common Ground”. Hubert Zapf (Augsburg) im Gespräch mit Sven Reichardt (Konstanz), Kerstin Schlögl-Flierl (Augsburg), Katja Sarkowsky (Augsburg), Corey Ross (Basel)

Zur Essenz des Krieges
Moderation: Maximilian Ringleb (Augsburg)

Ulrich Niggemann (Augsburg): Der Deutsche Bauernkrieg aus umwelthistorischermPerspektive

Lisa Kolb (Augsburg): Salpeter - eine kritische Ressource im Dreißigjährigen Krieg

Multispezies Intra-Aktion
Moderation: Linda Hess (Augsburg)

Marie A. Muschalek (Basel): The Stuff of Natural History: Animal Specimen Collecting and Taxidermy in the Age of Empire

Abschlussgedanken
Matthias Schmidt (Augsburg) / Daniel Rothenburg (Konstanz)

Anmerkung:
1 Daniel Rothenburg, Tagungsbericht: Political Ecology, in: H-Soz-Kult, 15.01.2024, http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/fdkn-141098. Vgl. einführend zu den drei Dimensionen der Environmental Humanities Matthias Schmidt / Jens Soentgen / Hubert Zapf, Environmental Humanities. An Emerging Field of Transdisciplinary Research, in: GAIA - Ecological Perspectives for Science and Society 29 (2020) 4, S. 225–229.