Die 15 Beiträge des Sammelbandes basieren zu circa 70 Prozent auf Referaten der Tagung „Kindheit und Jugend im Exil“, die im Jahr 2004 in Italien stattfand. Der Band ist in drei thematische Abschnitte unterteilt: „Flucht und Rettung“, „Betreuung, Bildung und Erziehung der Kinder und Jugendlichen im Exil“ sowie „Kindheitsexil als fortlaufendes Thema“. Anders als die Tagung beschränkt sich der Sammelband auf die nationalsozialistische Verfolgung als Exilgrund. Im Vordergrund stehen Kinder und Jugendliche, die als Juden verfolgt worden sind. Das erklärte Ziel der Herausgeber liegt darin, zu zeigen, dass „Kindheit und Jugend unter den Bedingungen von Verfolgung und Exil“ zwar oftmals traumatisierend gewirkt haben, aber ebenso auch die Chance nicht nur zum Überleben, sondern auch zu „produktiven, kreativen Lebensentwürfen“ geben konnten (S. 9). Generation wird hier als eine Gruppe die sich entweder selbst als solche deutet oder die von Außen als Generation wahrgenommen wird, definiert (S. 13). Als das gemeinsame generationsbildende Ereignis gilt das Exil.
Im ersten Abschnitt stehen die Voraussetzungen sowie Maßnahmen der Rettung und der Betreuung von Kindern ohne Eltern im Exil im Mittelpunkt. Susanne Urban widmet sich dem Verlauf der Jugend-Alija nach Israel, die ursprünglich nicht alleine als Rettungsaktion unbegleiteter jüdischer Kinder und Jugendlicher geplant war, sondern die zionistische Jugend ermuntern wollte, ihren Beitrag zum Aufbau einer zionistischen Gesellschaft zu leisten. Im Unterschied zur bisherigen Forschung, streicht die Autorin die entscheidende Rolle Recha Freiers als Initiatorin heraus, die mit großer Durchsetzungskraft bürokratische Hindernisse zu meistern versuchte, bis sie 1940 auf Betreiben der ‚Reichsvereinigung der Juden in Deutschland’ ihre Mitarbeit aufgeben musste. Klaus Voigt zeichnet die Geschichte einer Kindergruppe nach, die über ein Jahr in der Villa Emma in Italien lebte und dann nach Israel floh. Grundlage für seine Darstellung ist der Bericht von Josef Indig, einem der erwachsenen Begleiter der Gruppe, und – so Vogt – ihr ‚Spiritus Rector’ (S. 15). Der Autor gibt somit ein Beispiel von Emigrationshelfern, die ohne und – wie auch Recha Freier – zum Teil gegen die großen Hilfsorganisationen agierten. Der Artikel gestattet weniger Einblick in den Alltag der Kinder, sondern würdigt vor allem die Arbeit Indigs. Claudia Curio stellt souverän die so genannten Kindertransporte nach Großbritannien dar und analysiert den Einfluss der Hilfsorganisationen auf die Auswahl der Kinder sowie deren biographische Verarbeitung von verlangter Anpassung und Dankbarkeit. Anhand von Zeitungsartikeln, administrativer Korrespondenz und Berichten sowie von Selbstzeugnissen der BetreuerInnen und der Jugendlichen geht Madeleine Lerf sowohl den Erfahrungen von Jugendlichen aus dem Konzentrationslager Buchenwald, die in der Schweiz Aufnahme fanden, als auch der Wahrnehmung der Jugendlichen seitens der Schweizer Bevölkerung nach. Weiterhin stellt Andrea Hammel die Online Database of British Archival Resources Relating to German-Speaking Refugees, 1933 bis 1950 (BARGE) vor. Mit Hilfe dieser Datenbank kann nach in Großbritannien archivierten Überlieferungen von deutschsprachigen Flüchtlingen recherchiert werden.
Der zweite Themenkomplex widmet sich der Betreuung, Bildung und Erziehung in den verschiedenen Zufluchtsländern. Hildegard Feidel-Mertz stellt Hans Weils „Schule am Mittelmeer“ vor und Irmtraud Ubbens beschäftigt sich mit dem „Landschulheim Florenz“. Beide Artikel konzentrieren sich auf die Träger der Einrichtungen, können aber so auch die Frage nach der Wahrnehmung von „Exil als Chance“ auf die Gruppe verfolgter Akademiker erweitern, die in den Exilschulen neue Betätigungsfelder fanden. Salome Lienert berichtet detailliert über das „Schweizer Hilfswerk für Emigrantenkinder“, seine Tätigkeitsgebiete sowie über Unterbringung, Betreuung und Ausbildung der Kinder. Auf diese Weise kann sie zeigen, wie der familiäre Einfluss zugunsten institutioneller Entscheidungen beschnitten wurde. Marietta Bearman und Charmian Brinson weisen am Beispiel der Zeitschrift „Jugend voran“ ebenso wie Oliver Sadowsky und Søren Seitzberg in ihrem Artikel über die Flüchtlingszeitung „Deutsche Nachrichten“ auf die Rolle von Emigrantenzeitschriften hin. Die Zeitschrift „Jugend voran“ wurde von der kommunistischen Jugend Österreichs in Großbritannien herausgegeben, deren Organisationsgeschichte und Tätigkeitsfelder ebenfalls behandelt werden. Die „Deutschen Nachrichten“ wiederum avancierte in dänischen Flüchtlingslagern zu einem erstaunlich offenen Forum über Selbstbilder und Überzeugungen zwischen den kommunistischen und sozialdemokratischen Flüchtlingen des Nationalsozialismus, die die Zeitung herausgaben und den ebenfalls deutschen LeserInnen, die vor der Roten Armee vorwiegend aus Ostpreußen geflüchtet und nun in Dänemark interniert waren.
Der letzte Abschnitt fokussiert die Langzeitwirkungen von Verfolgung und Exil bei direkt Betroffenen sowie bei den nachfolgenden Generationen. Mit der Gruppe der Verfolgten beschäftigen sich drei Beiträge. Inge Hansen-Schaberg fragt anhand von autobiografischen Quellen nach den „Voraussetzungen und Bedingungen, unter denen […] Chancen auf eine mentale Gesundung, auf Integration und Akkulturation“ (S. 183) bestanden. Unter diesem Aspekt vergleicht sie die Erfahrungen von Kindern, die alleine flüchten mussten, mit solchen, die im Familienverband emigrierten. Die vergleichende Perspektive hebt diesen Beitrag gegenüber anderen Darstellungen heraus, die zwar kenntnisreich einzelne Einrichtungen portraitieren, aber zum Teil eine größere Einordnung vermissen lassen. Anhand von Interviews gelingt es Sabine Hillebrecht, die Erfahrungen von Kindern, die zusammen mit ihren Eltern in die Türkei emigriert sind zu rekonstruieren. Die relativ privilegierte Stellung der Eltern und die daraus resultierenden stabilen Lebensumstände der Kinder führten ebenso wie die fehlende Kriegserfahrung in diesen Fällen zu einer positiven Erinnerung an die Zeit des Exils. Doris Ingrisch widmet sich anhand von Interviews und autobiografischen Texten den Erfahrungen von amerikanischen Intellektuellen, die als Kinder aus Österreich vertrieben worden sind. Dabei lenkt sie den Blick auf die Möglichkeiten, diese Erfahrungen mit unterschiedlichen Kulturen und der Differenz für eine akademische Karriere „produktiv“ (S. 217) nutzen zu können. Die „Second Generation“ wird in zwei Beiträgen mit einbezogen. Fundiert behandelt dabei Gabriele Rosenthal den Zusammenhang der familiären Erinnerung in Familien, bei denen die Großeltern als Jugendliche oder junge Erwachsene im Rahmen der Jugend-Aliya das Deutsche Reich bis 1939 verließen, zunächst nach England und Palästina gelangten und heute in Israel wohnen. Zudem beschreibt sie den Wandel des öffentlichen Diskurses über die Shoa in Israel und vergleicht dabei souverän die Gruppe der jugendlichen ZwangsemigrantInnen mit Kindern von Überlebenden der Shoa. Am Beispiel alltäglicher kultureller Praktiken widmet sich Andrea Strutz in ihrem Beitrag über aus Österreich vertriebenen JüdInnen und ihrer Nachkommen ebenfalls der Familienüberlieferung Gegenüber anderen Beiträgen ist hier die Berücksichtigung geschlechtsspezifischer Erfahrung von Exil hervorzuheben.
Der Band vereint Forschungen von ausgewiesenen SpezialistInnen und Ergebnisse aus laufenden Dissertationsprojekten sowie aus einer Magisterarbeit. Er präsentiert sowohl Forschungsergebnisse zu den klassischen Emigrationsländern England, Israel und den USA als auch zu bisherigen Randgebieten der Forschungslandschaft wie der Türkei oder Dänemark. Dabei muss allerdings erwähnt werden, dass einige Ergebnisse bereits an anderer Stelle publiziert worden ist.1 In der thematischen Auswahl liegt die Stärke des Bandes, der einen Überblick über eine Vielzahl von Institutionen und Persönlichkeiten gibt.
Wenngleich der Wunsch nach „authentischen Einblicken“ (S. 13) in die Vergangenheit, wie er im Vorwort formuliert worden ist, immer Illusion bleiben muss, so gelingt es dem Band die Unterschiedlichkeit des Exils je nach Fluchtzeitpunkt und -ziel, Art der (institutionellen) Hilfe, der sozialen Herkunft und der Religiosität zu beschreiben. Walter Laqueur zeigt, dass viele Flüchtlinge erst im Alter ein Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickelten. Darüber hinaus betont er, dass „ein gemeinsames Band, ein instinktives Einvernehmen“ zu einem erheblichen Teil aus Erfahrungen und Haltungen resultierte, die ihren Ursprung bereits in der oftmals bürgerlichen Sozialisation der Kinder hatten.2 Diese Aspekte werden auch in Beiträgen des vorliegenden Sammelbandes immer wieder angesprochen. Die Bezugnahme auf das Generationenkonzept von Karl Mannheim im Vorwort des Bandes, hätte aber auch die Möglichkeit eröffnet, diese Aspekte systematischer zu verfolgen. Dies gilt besonders weil Mannheim Generation nicht alleine als eine Altersgruppe innerhalb eines historisch sozialen Raumes, die an gemeinsamen Ereignissen partizipiert hat, definierte.3
Anmerkungen:
1 So publizierte beispielsweise Claudia Curio einen stellenweise wortgleichen Aufsatz zum Thema ’Unsichtbare’ Kinder. Auswahl- und Eingliederungsstrategien der Hilfsorganisationen in dem sehr lesenswerten Sammelband von Wolfgang Benz zum Thema der Kindertransporte: Curio‚ Claudia, ’Unsichtbare’ Kinder. Auswahl- und Eingliederungsstrategien der Hilfsorganisationen, in: Benz, Wolfgang; Curio, Claudia; Hammel, Andrea (Hrsg.), Die Kindertransporte 1938/39. Rettung und Integration, Frankfurt am Main 2003, S. 60-81.
2 Vgl. Laqueur, Walter, Geboren in Deutschland. Der Exodus der jüdischen Jugend nach 1933, Berlin/München 2000, hier insbesondere S. 381, 390, 415ff.
3 Mannheim, Karl, Das Problem der Generationen, in: Ders., Wissenssoziologie, eingeleitet und hrsg. von Kurt H. Wolf, 2. Auflg. Neuwied am Rhein 1970, S. 509-565.