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Titel
Der fiktive Staat. Konstruktionen des politischen Körpers in der Geschichte Europas


Autor(en)
Koschorke, Albrecht; Lüdemann, Susanne; Frank, Thomas; Matala de Mazza, Ethel
Erschienen
Frankfurt am Main 2007: Fischer Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
414 S.
Preis
€ 14,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Ertl, Deutsches Historisches Institut in Rom

„Der Staat existiert – und ist dennoch eine Fiktion, ja mehr noch: Er muss gleichsam jederzeit von seinen Angehörigen (und auch von anderen) fingiert werden, um in seiner Existenz Bestand zu haben. Wie ist das zu verstehen?“ (S. 10) Antworten auf diese Frage sucht das Autorenteam in staatstheoretischen Schriften von Titus Livius bis Otto Gierke, also von der Antike bis ins 19. Jahrhundert, und der in ihnen entwickelten organologischen Staatsauffassung. Ausgehend von der Prämisse, dass soziale und politische Systeme auf Ordnungen des Imaginären beruhen1, wird die Metapher des sozialen Körpers sowohl als Mittel der Selbstvergegenwärtigung von Kollektiven gedeutet, aber auch als Wirklichkeit schaffendes Werkzeug, mit dessen Hilfe Vorstellungen von Einheit und Ganzheit des Staates justiert werden. Das Bild des Kollektivkörpers konturierte in der Regel ein Gesellschaftsmodell, dessen Einheitsprinzip in der Arbeitsteilung und in der Ungleichheit der Funktionen und Güter bestand. Die Metapher diente damit der Legitimierung eines hierarchischen Systems, das bereits bestand oder aber herbeigeführt werden sollte.

Erste Bausteine zu einer Grammatik des sozialen Körpers liefert ein Bericht des Titus Livius in seinem monumentalen Geschichtswerk ‚Ab urbe condita’. Im Jahr 494 vor Christus habe der vom Senat beauftragte Menenius Agrippa den aufständischen Plebejern vor Augen geführt, dass der menschliche Körper durch den Streit der Glieder an den Rand völliger Entkräftung gelange und nur das Zusammenwirken aller Glieder seine Gesundheit garantiere. „Indem er durch den Vergleich zeigte, wie dieser Aufruhr im Körper Ähnlichkeit hatte mit der Erbitterung des Volkes gegen die Väter, soll er die Gemüter umgestimmt haben“ – so der römische Historiker (S. 16). Auf der Grundlage dieser „Urszene Europas“, die zeigt, dass es die postulierte Einheit niemals gegeben hat außer in der durch die Wirksamkeit von Metaphern gestifteten Welt, werden grundsätzliche Überlegungen zur Funktionsweise sozialer Metaphern angestellt und ihre christliche Umformung diskutiert. Dem Mittelalter wird die organologische Staatsauffassung vor allem über das biblische Bild der Kirche als Leib Christi vermittelt. Theologen bezeichneten mit der Metapher sowohl die Kirche als auch den weltlichen Staat. Juristen des späten Mittelalters entwickelten einen elaborierten Korporationsbegriff, der mit Hilfe der fictio iuris Korporationen zu juristischen Personen erklärte und ihnen rechtliche Verantwortlichkeit zuwies. Sowohl die organologischen Staats- und Kirchenentwürfe als auch die Korporationslehren der mittelalterlichen Juristen gingen in die frühmodernen Staatstheorien ein, exemplarisch dargelegt anhand von Jean Bodin und Johannes Althusius.

Im Zentrum der Studie stehen die drei folgenden Abschnitte, welche der klassischen Phase neuzeitlicher Staatsbildung zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert gewidmet sind und um drei Zäsuren staatstheoretischen Denkens kreisen. Der erste Hauptteil befasst sich unter dem Titel „Der Körper des Souveräns“ mit den staatsrechtlichen Äußerungen aus dem Umfeld der Hinrichtung des englischen Königs Karls I. im Jahr 1649. Bereits im Vorfeld des Hochverrats-Prozesses bezeichnete das englische Parlament den König zwar als „head of the commonwealth“, sich selbst jedoch als Seele und eigentliches Lebenszentrum des Gemeinwesens, wo die notwendige Vermittlung zwischen Haupt und Gliedern stattfinde. Von königlicher Seite wurde dieser Metaphorik das Bild des Königs als Vater und Urheber der politischen Ordnung entgegengesetzt. Die Körpermetaphorik, die in den staatstheoretischen Souveränitatsentwürfen dieser Zeit eine wichtige Rolle spielte, zeigt auf diese Weise deutlich das Begründungsdilemma des so genannten Absolutismus, resultierend aus dem Antagonismus der beiden Souveränitätsquellen Herrscher oder Volk. Daneben ist die Debatte ein anschauliches Zeugnis für die vielseitige, ja scheinbar widersprüchliche Verwendbarkeit organologischer Staatsmetaphern.

Der zweite Hauptteil beschäftigt sich mit der Hinrichtung Ludwigs XVI. im Jahr 1793. Nachdem das Ancien Régime seine Einheit im Körper des Königs gefunden hatte, musste sich die Körperlichkeit des Sozialen mit der Entsakralisierung und Zerstörung des königlichen Körpers auflösen. Die Republik hatte diese Devestitur mit großer medialer Aufmerksamkeit verfolgt und versuchte, das entstandene Vakuum durch einen „Körper der Republik“ – so auch der Titel des Kapitels – zu ersetzen. Das körperschaftliche Integrationsmodell alteuropäischer Prägung, das in der Person des Königs sein Einheitsprinzip gefunden hatte, war hinfällig geworden. Stattdessen etablierten sich neue kollektive Akteure, die gewissermaßen einer Logik der negativen Verkörperung folgten. Obwohl die Einheit von Macht und Körper nicht mehr in traditioneller Weise existierte, blieb das staatstheoretische Denken der Sphäre der Körperlichkeit verhaftet. An die Stelle des Körpers des Königs trat der Körper der Nation, an die Stelle der „Väterlichkeit“ des Monarchen gegenüber seinen Untertanen die „Brüderlichkeit“ der Menschen untereinander. Organologische Staatsvorstellungen überdauerten die Zäsur der Revolution und spielten in den Verfassungsdebatten des deutschen Vormärz eine wichtige Rolle. Juristen wie Friedrich Carl von Savigny, aber auch Historiker und Philologen, beispielsweise die „Göttinger Sieben“ benutzten die rhetorische Figur zur expliziten Deutung des Staats als „juristische Person“. Damit entstand eine abstrakte, Volkspersönlichkeit und Herrscherpersönlichkeit übersteigende Staatspersönlichkeit, die es ermöglichte, die Souveränität beim Staat anzusiedeln und damit dem Gegensatz von Herrscher- oder Volkssouveränität zu entgehen. Während die körperschaftliche Verfasstheit des Staates auch bei Gelehrten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wie Otto Gierke und Theodor Mommsen eine wichtige Rolle spielte, wird sie in der Gegenwart – so im „Ausblick“ angedeutet – zunehmend von Metaphern des Netzwerks abgelöst. Ein weiteres Zeichen für den Niedergang des modernen Nationalstaats?

Dem Autorenteam ist es gelungen, eine kohärente Monografie an der Schnittstelle von Geschichtswissenschaft, Rechtsgeschichte und Literaturforschung zu schreiben. Die Geschichte der organologischen Staatsmetaphorik erweist sich als wichtiger Schlüssel, um die Geschichtlichkeit europäischer Staatlichkeit und deren Rezeption zu begreifen. Die Heterogenität der Körperbilder – hat der juristische, auf innere Gleichheit zielende Korporationsbegriff überhaupt etwas zu tun mit einer organologischen Staatsvorstellung, die eine hierarchische Funktionsvielfalt propagiert? – und ihre Geschichtlichkeit – etwa in Wechselwirkung mit der Erweiterung medizinischen Wissens – hätten etwas stärker in den Blick genommen werden können. Insgesamt zeigt die homogene und anspruchsvolle Studie auf anschauliche und überzeugende Weise die Wirkmächtigkeit eines literarischen Bildes sowie die intellektuellen Anstrengungen, die Verfasstheit eines bestimmten Staatswesens zu legitimieren, zu diffamieren oder herbei zu schreiben. Ob die Epoche der Versinnbildlichung des sozialen Ganzen als Körper tatsächlich zu Ende gegangen ist, wird sich zeigen.

Anmerkung:
1 Frank, Thomas; Koschorke, Albrecht; Lüdemann, Susanne; Matala de Mazza, Ethel, Des Kaisers neue Kleider. Über das Imaginäre politischer Herrschaft. Texte – Bilder – Lektüren, Frankfurt am Main 2002. Vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=1634>.

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