Ein Buch, das sich mit dem Titel „Mittelalterliches Denken“ anpreist und im Untertitel verspricht, „Debatten, Ideen und Gestalten im Kontext“ darzustellen, lockt den Leser auf eine Entdeckungsreise zu den intellektuellen Abenteuern des Mittelalters. Doch wird das Buch dem gerecht, was es in diesem Lockruf verspricht?
Das Buch umfasst die „Druckfassungen einer Reihe von Vorträgen“ (S. VIII), die vom Münchener Martin-Grabmann-Institut in den Jahren 2004 bis 2006 veranstaltet wurden. Die zwölf Vorträge sind also zunächst durch ein genetisch-organisatorisches Band miteinander verbunden. Schon ein Blick auf das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass es die Aufgabe des Untertitels ist, dem sehr verschiedenen thematischen Fokus der Beiträge gerecht zu werden. Da gibt es zum einen die „Gestalten“, also solche Beiträge, die einzelnen Denkern wie Anselm von Canterbury, Bernhard von Clairvaux, Gratian, Thomas von Aquin und Nikolaus von Kues gewidmet sind. Daneben gibt es Beiträge, die sich primär einem Diskussionsgegenstand zuwenden, also den „Debatten“ und „Ideen“. Diese zeigen, dass das „Denken“ des Mittelalters, das der Sammelband darstellen soll, nicht nur die theoretischen Disziplinen umfassen soll. Auch das praktische und politische Denken sind breit vertreten mit einem Beitrag zur karolingischen Liturgiereform von Wolfgang Steck (S. 15-30), einem Beitrag über die Ottonischen Hausheiligen von Stefan Samerski (S. 31-48) und einem Beitrag von Stephan Haering über Gratian, der Gründergestalt des Kirchenrechts (S. 127-141). Ja, sogar die poietischen Disziplinen sind mit Beiträgen zur Rhetorik in Bernhards Predigten von Andreas Wollbold (S. 75-88) und zur Poietik des höfischen Romans von Walter Haug (S. 163-180) bedacht worden.
Dennoch ist der Sammelband weit davon entfernt, einen repräsentativen Überblick über das mittelalterliche Denken zu geben. Im Gegenteil: Keiner der Beiträge verlässt den Horizont der mittelalterlichen Theologie. Auch das kann wieder genetisch-organisatorisch erklärt werden: Das Grabmann-Institut ist an der Ludwig-Maximilian-Universität in München an die Katholisch-Theologische Fakultät angegliedert. Eine Rechtfertigung ist dies aber nicht. Es mag sein, dass die Theologie „als die Form gebende Mitte des ‚Mittelalters’“ gesehen werden kann, und es mag sein, dass die Theologie allein ja schon über alles redet – über „die Schöpfung, das Universum als Ganzes“, wie die Herausgeber in ihrem Vorwort erläutern (S. VII). Und in der Tat spiegelt die Auswahl der Beiträge ja die der Theologie eigenen vielfältigen Binnenstrukturen wider, wenn neben den üblicherweise diskutierten systematisch-dogmatischen Problemen auch Aspekte der Liturgie, der Heiligenverehrung, der Predigtkunst und des Kirchenrechtes diskutiert werden. Nichtsdestotrotz gibt es auch im Mittelalter eine Vielzahl autonomer Wissenschaften, von Grammatik und Logik über die Naturwissenschaften hin zu Medizin und weltlicher Jurisprudenz. All diese Felder intellektueller Herausforderungen des Mittelalters bleiben unberücksichtigt. Da fragt sich der Rezensent, ob sich nicht ein spezifischerer Buchtitel empfohlen hätte, dem der tatsächliche Inhalt eher hätte gerecht werden können.
Den Auftakt des Sammelbandes bildet ein Beitrag von Marc-Aeilko Aris, der – ausgehend von einer Traumepisode des Hieronymus – mit viel Esprit dem Umgang christlicher Denker mit heidnischer Literatur nachgeht: Dem Hieronymus träumte, er sei an der Himmelspforte nach seinem Status befragt und, als er sich als „Christianus“ ausweist, brüsk mit dem Hinweis zurechtgewiesen worden, seine Liebe zu den heidnischen Autoren, die ihn dazu führe, die Heilige Schrift zu verachten, mache ihn eher zum „Ciceronianus“ statt zum Christen (S. 4). Hieronymus benutzt seine Traumerzählung, um als asketische Übung zum Verzicht auf heidnische Lektüren aufzufordern. Seine späteren Werke legen zwar nahe, dass er selbst diesem Verzicht keineswegs immer nachgekommen ist – sogar als Vorbild und Lehrer („magister“) für seine Bibelübersetzung führt Hieronymus den Tullius an (S. 12). Dennoch rechtfertigt im 11. Jahrhundert Petrus Damiani mit dem Traum des Hieronymus ein radikales Leseverbot solcher heidnischen Autoren (S. 8). Ausgehend vom Traum des Hieronymus zeigt Aris, wie verschiedene christliche Autoren mit dem Problem der Lektüre heidnischer Autoren umgegangen sind und wie schließlich die Nutzung des heidnischen Wissens auch durch christliche Leser trotz des Traumes des Hieronymus legitimiert werden konnte. Dies ist nun in der Tat eine intellektuelle Herausforderung bzw. eine Herausforderung für die Intellektuellen des Mittelalters. Bei den folgenden, oben schon genannten Beiträgen, wird die intellektuelle Herausforderung keineswegs immer deutlich.
Zwei Beiträge zeigen den lateinischen Westen im Verhältnis zu seiner Umgebung: Während Georgij Avvakumov das Verhältnis der lateinischen Kirche zum orthodoxen Osten erläutert (S. 89-104), diskutiert Markus Riedenauer die Einstellung des Westens zum Islam (S. 105-125). Und Christian Schäfer arbeitet am Beispiel von Anselm von Canterbury exemplarisch heraus, wie das mittelalterliche Denken von mystischer Schau und Sprache zugleich herausgefordert und geleitet werden kann (S. 49-73). Darüber hinaus enthält der Band drei recht konventionelle Überblicksbeiträge zu Thomas von Aquin (von Ulrich Horst, S. 143-162), Wilhelm von Ockham (von Hubert Schröcker, S. 181-195) und Nikolaus von Kues (von Martin Thurner, S. 197-213). Lehrbuchtexte und Handbuchartikel zu diesen drei eminenten Denkern sind nun alles andere als rar – und doch gelingt es den drei Autoren, das oft entfaltete Material unter einem originellen Aspekt frisch zu präsentieren: Durchaus überzeugend versucht Ulrich Horst, die Vita des Thomas anhand entsprechender Passagen aus seinen Werken zu beleuchten, wobei er sich vor allem auf die polemischen Schriften bezieht, die Thomas inmitten der zeitgenössischen Auseinandersetzungen zeigen, in die er verwickelt war. Hubert Schröcker zeigt, inwiefern es in Ockhams Denken vor und nach Avignon nicht nur Brüche, sondern auch Konstanten gab, und Martin Thurner spürt dem Epochenschwellenbewusstsein des Kusaners nach, der sich der historischen Veränderungen seines Zeitalters durchaus bewusst war. Interessant ist hier ein Vergleich mit dem schon erwähnten Beitrag von Riedenauer: Während Thurner bei Erwähnung der Koran-Sichtung des Kusaners deutlich darauf hinweist, dass dieser zwar die Gemeinsamkeiten zwischen Islam und Christentum hervorhebt, die Abweichungen des Islams aber „auf die Grobheit der Araber“ oder die böse Absicht Mohammeds zurückführt (S. 204), kommt der Kusaner bei Riedenauer deutlich besser weg: Riedenauer verbucht dies nicht als „phantastische Irenik“ sondern bloß als „eine kritische Komponente“ (S. 121) und verdeckt die fehlende political correctness des Kusaners mit einem Hinweis auf „den komparativen Fortschritt des cusanischen Bemühens und seine dynamische Sicht auf Religionen“ (S. 120).
Da die Beiträge durchgehend dem Vortragsstil nahe sind, sind sie verständlich geschrieben und gut lesbar; auch verzichten die Autoren überwiegend auf einen umfassenden Anmerkungsteil. Doch inhaltlich gesehen sind hier zwischen zwei Buchdeckel sehr disparate Texte versammelt. Dem Anspruch des Titels, das mittelalterliche Denken in seiner ganzen Breite zu repräsentieren, werden die Beiträge in ihrer Gesamtheit bei Weitem nicht gerecht. Auch sprechen längst nicht alle von ihnen von den intellektuellen Herausforderungen, die sich den mittelalterlichen Denkern stellten. Wer darüber belehrt werden will, greife lieber zu anderen Werken. Als einzelne genommen, sind viele der Beiträge hingegen sehr lesenswert und können zu weiteren Forschungen anregen.